Emine Bozkurt ist aufgeregt. In gut einer Woche, am 16.6.2016, kommt ihr erster Sohn auf die Welt. Doch nicht nur wegen des Wunschdatums hat sie sich von Anfang an für einen Kaiserschnitt entschieden. Eine normale Geburt? Undenkbar
"Ich habe so wahnsinnige Angst, dass ich darüber erst gar nicht nachgedacht habe. Einmal, weil ich die Schmerzen nicht ertragen würde. Und dann auch, weil ich das Gefühl habe, so etwas Großes wie eine Geburt nicht alleine bewältigen zu können. Was, wenn ich versage?"
Emines Angst vor dem Kreißsaal ist fast schon symptomatisch. Bei unter 15 Prozent sollte die Kaiserschnittrate eines Landes laut Weltgesundheitsorganisation liegen. In der Türkei liegt sie heute bei über 50 – in vielen Istanbuler Privatkrankenhäusern gar bei über 80 Prozent!
"Die Türkinnen wählen heute zwischen Kaiserschnitt und normaler Geburt wie zwischen Birnen und Äpfeln. Es geht nicht mehr um medizinische Kriterien", kritisiert Frauenärztin Gülnihal Bülbül. Sie weiß: Türkinnen, die ihre Kinder noch normal zur Welt bringen, ernten dafür heute anerkennende, aber auch fassungslose Blicke.
"Die Mütter der heutigen Schwangeren sind die erste Generation, die im Krankenhaus und nicht mehr zuhause geboren haben. Aber die staatlichen Krankenhäuser damals waren in fürchterlichem Zustand und dementsprechend sind die Geschichten dieser Frauen. Eine Geburt erscheint seitdem wie eine Katastrophe."
Nur arme Leute haben normale Geburten
Die Folge, so Gynäkologin Bülbül, lässt sich heute vor allem in den Istanbuler Krankenhäusern beobachten.
"Vor etwa zehn Jahren fingen die Ärzte dann an zu sagen: Warum sollte man sich all das antun, wenn es auch ganz schmerzlos per Kaiserschnitt geht? Normale Geburten, das war plötzlich etwas für arme Leute."
Gülnihal Bülbül hat ein Buch über die Gründe geschrieben, aus denen die Türkei heute mit Mexiko und China die höchste Kaiserschnittrate weltweit hat. Neben dem allgemeinen Modernisierungswahn, gehe es vor allem um die Angst der Mediziner verklagt zu werden, so die Ärztin. In keinem anderen Bereich gehen so viele türkische Patienten vor Gericht, wenn es Komplikationen gab, wie in der Geburtsmedizin. Ein anderer Grund sei die starke Privatisierung des türkischen Gesundheitssystems, in dem auch Geburten planbar sein müssen.
Was das bedeutet, hat Burcu Ates, 33, selbst erlebt. Ihre Tochter Ada sollte normal zur Welt kommen. Bis heute fragt sich die junge Mutter, ob das daran scheiterte, dass die Wehen ausgerechnet an einem Sonntagmorgen einsetzten.
Kein Arzt will seine Zeit mit langen Geburten vergeuden
"Der Arzt sagte, ich solle direkt ins Krankenhaus kommen. Dort ließ er das Fruchtwasser ab und sagte dann, wir müssten operieren."
Burcu war sprachlos, sie fühlte sich gut, freute sich auf die Geburt. Nicht auf eine OP. Inzwischen kennt sie ähnliche Geschichten von vielen anderen jungen Frauen.
"Wenn du in einer halben Stunde und innerhalb der Dienstzeiten gebären kannst, ok. Aber kein Arzt will seine Zeit mehr mit einer fünf- bis sechsstündigen Geburt vergeuden. Wenn ich mich richtig erinnere, war der Preis für den Kaiserschnitt am Ende auch noch doppelt so hoch wie der für eine natürliche Geburt."
Viele Türkinnen aber zahlen gerne. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die Kaiserschnittrate parallel zu Einkommen und Bildungsgrad deutlich steigt. Die Schuld allein bei profitgierigen Ärzten zu suchen, hält die Istanbuler Geburtspsychologin Nese Karabekir deswegen für falsch. Aus unzähligen Gesprächen mit Schwangeren weiß sie: Unter modernen Türken – übrigens egal ob religiös oder nicht – gehört die Geburt auf Termin heute zum guten Ton.
"Viele, viele Mütter wollen den Kaiserschnitt. Sie haben nicht nur Angst vor den Schmerzen bei einer normalen Geburt. Sie fragen sich auch: Wird meine Sexualität zerstört? Wie sehen meine Genitalien danach aus? Ach, und dann ist da seit einigen Jahren noch dieser Mythos, dass Kaiserschnitt-Babys intelligenter werden."