Mit seiner überbordenden Schreiblust und wachem Gespür für andere Künste ist Dietmar Dath, Jahrgang 1970 und im Brotberuf Film-Redakteur bei der FAZ, sicher einer der vielseitigsten Autoren der jüngeren Generation. Zum Output der letzten Monate gehören etwa das Künstlerbuch „Verbotene Verbesserungen“, eine Gemeinschaftsarbeit mit der Fotografin Heike Aumüller, oder der 400seitige Science-Fiction-Roman „Pulsarnacht“. Dazu hat Dath unter dem Namen „The Schwarzenbach“ - benannt nach der 1942 tödlich verunglückten Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach - eine Platte mit der Karlsruher Elektrorockband „Kammerflimmer Kollektief“ aufgenommen.
Die im Würgegriff des Alltags steckenden Figuren der Songs suchen ihr Heil bei Buddha oder beim Psychologen - traurige Scheinleben und meist vergebliche Glücksfluchten, von denen auch Daths jüngster Erzählband "Kleine Polizei im Schnee“ grundiert ist. 44 zumeist kürzere, formal sehr disparate Texte, die von Künstlern, Bankern und Bundeswehrsoldaten, aber auch von Engeln und obskuren Geheimagenten bevölkert sind. Die ruhig ausgreifende, ‚realistische’ Erzählung steht neben fiktivem Interview oder Drehbuch-Fragment. Manche - eher schwächere - Stücke driften pointenverliebt ins Absurde, so etwa, wenn Dath die „Prinzessin von Monaco“ zwecks politischer Selbsterziehung in ein Ostberliner Plattenbaugebiet entsendet oder der Physiker Hermann von Helmholtz Gottvater persönlich zum Wettlauf im eigenen Gehirn herausfordert. Andere wirken in ihrer Verdichtung wie Keuner-Geschichten für die Generation Smartphone.
Kaleidoskopoisches Bild einer Gegenwart oder nahen Zukunft
In ihrer Summe ergeben die Texte das kaleidoskopartige Bild einer Gegenwart oder nahen Zukunft, in der, wie Dath schreibt, „mitteleuropäische Städte noch möglich waren“. Gern bedient er sich auch hier beim Fantasy- und Science-Fiction-Genre. So trifft etwa im Jahr 2030 ein namenloser Ich-Erzähler im „Klimaturm“ des Frankfurter Hauptbahnhofs, der inzwischen zur „Identitäten-Wechselstelle“ umfunktioniert wurde, auf eine Elfjährige, die aufgeschnappt hat, dass es früher so etwas wie „Berufe“ gegeben hätte:
„Was warst du? Was hast du gemacht, beruflich?“, hänselt mich ihr ein bisschen nach frischen warmen Brezeln duftendes Textleuchten.
„Ich hab hauptsächlich gelogen“, blinke ich ihr schließlich rüber, um mich ein bisschen interessanter zu machen.
„Was gelogen?“
„Na, so Geschichten. Konnte man früher kaufen, für Kredite in Arbeitszeit, ziemlich anstrengend war das. Es gab Lügen, die man annehmen musste – das hieß Nachrichten und Information – und andere, die man mehrdeutiger behandeln konnte, das hieß dann Literatur.“
Dath befasst sich lieber mit dem Möglichen, mit Haltungen, die man zur Wirklichkeit einnehmen kann, als die Chronik der laufenden Ereignisse mitzustenografieren. Das Ereignis, mit dem er seine scheinbar lose aneinander gereihten Erzähltexte in einen Zusammenhang bringt, ist die „Katastrophe Kammonikutain“: ein nicht klar fassbares, damit umso bedrohlicher wirkendes Geschehen, das Assoziationen an Krieg oder Naturkatastrophen wie Fukushima weckt. Daths Welt droht jedoch nicht an einem globalen Tsunami zu zerbrechen, sondern an einem Kommunikations-Desaster babylonischen Ausmaßes. Die „Missverständnisseuche“ wuchert, wie Krebs, im Kleinen und Großen; in Familie und Geopolitik.
Wenn es etwas nicht gibt, darf man es nicht benutzen und nicht verwerfen, so ist das in den Städten. Wie reden sie da?
Hochdeutsch.
Das heißt: Verschwendete Sprache, Einwegbegriffe, Faselerklärungen, Laberdefinitionen, mit Aspartam gesüßte Sätze, würzarme Worte, nur um das Gegenüber einzuspeicheln, taktisch auf den Moment hin, opportunistisch – Liebesworte: Solange die Hormone im hellen Glühwürmchenfeuer leuchten, wird geflüstert und geschworen.
Ist es so? Nach Kammonikutain?
Von starken weiblichen Figuren zusammengehaltenes Textgeflecht
Zusammengehalten wird Daths komplexes Textgeflecht vor allem durch zwei starke weibliche Figuren, die immer wieder auftauchen und deren Geschichten sich dem Leser erst allmählich erschließen - die erfolgreiche Konzept-Künstlerin Doro Coppe und das Mädchen Isabelle. Die mit knapp 50 Seiten umfangreichste Geschichte des Bandes erzählt, so lakonisch wie beklemmend, Doros Ausbruch aus der 70er-Jahre-Kleinstadt-Hölle Sonnenthal, in der familiäre Gewalt, Alkohol und Hass regieren; künstlerische Hochbegabung wird hier zum Ticket in ein selbstbestimmtes Leben. Auch Isabelle, die achtjährige Tochter eines von amoklaufenden Wutbürgern gejagten Filmemachers, verkörpert diese Gegen-Kraft. „Ich bin die Polizei!“, beharrt sie nach einem Überfall des Mobs, und entfaltet mitsamt ihrem Spielzeug-Set aus Mütze, Kelle und Handschellen magische Kräfte. Eine kleine Rebellin, irgendwo zwischen „Roter Zora“ und Lara Croft, die über die Gabe der Multilokalität verfügt, und, wenn nötig, auch Selbstmörder von der Brücke zieht.
„Ich kann“, zählte Isabelle geduldig auf, „obwohl ich in Amerika bin, alles, was die Leute von mir brauchen ... Gestern habe ich eine Prinzessin nachhause gebracht, die sich in Berlin verlaufen hatte, und morgen setze ich die Leitzinsen rauf. Drogen und Sprengstoff, Studiengebühren, Abwasser, Autobahnsicherheit, und dass die Leute ihre kugelsicheren Westen nicht vergessen: Ich muss an alles denken. Und gebe trotzdem nicht auf. Komm jetzt runter.“
In Doro und Isabelle ist die Möglichkeit einer Welt, die nicht auseinandergebrochen ist, angelegt; beide haben sie „im Kopf, im Herzen“. Sachen, die es gibt und nicht gibt, gleichzeitig: Dath verlangt seinen Lesern einiges ab. Wer seinem mit Links in alle nur möglichen Diskurse aus Kunst, Wissenschaft und Philosophie gespickten Textfluss folgt, fühlt sich manchmal selbst wie der gute Helmholtz auf rasender Gehirn-Slalomfahrt. Mit neuen Gedanken umzugehen ist anstrengend, jedoch allemal aufregender, als sattsam bekannte literarische Wellness-Oasen zu durchmessen.
Dietmar Dath: Kleine Polizei im Schnee.
Verbrecher Verlag, 236 Seiten, 24 Euro
Verbrecher Verlag, 236 Seiten, 24 Euro