Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: Wir erinnern uns, es ist noch gar nicht so lange her: Am vergangenen Freitag wurde der erste linke Ministerpräsident in Deutschland gewählt, Bodo Ramelow in Thüringen. Und das hat auch den Blick darauf gelenkt, dass die CDU an immer weniger Landesregierungen beteiligt ist, was wiederum in der Partei selbst auch die Diskussion darüber nährt, weshalb das eigentlich so ist. Mit anderen Worten: Gibt es inhaltliche und strategische Defizite in der CDU, trotz nach wie vor guter Umfragewerte und einer Kanzlerin Merkel in der dritten Amtsperiode.
Wir bleiben beim zuletzt schon angesprochenen Punkt: Abschaffung der kalten Progression. Verfolgt man die öffentlichen Wortmeldungen, so könnte man fast den Eindruck gewinnen, irgendwie sind eigentlich alle dafür. Da das Problem allerdings nicht erst seit gestern besteht, fragt man sich: Weshalb haben wir diese Kalte Progression denn noch? Weshalb haben CDU oder SPD sie bisher noch nicht abgeschafft? Am Telefon begrüße ich jetzt Johannes Kahrs, haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Schönen guten Tag, Herr Kahrs.
Johannes Kahrs: Moin, Frau Klein.
Klein: Wir haben gerade gehört, zuletzt vor genau zwei Jahren ist das Projekt im Bundesrat an der dortigen rot-grünen Mehrheit gescheitert. Heute regiert die SPD mit der Union zusammen im Bund. Aber wir können festhalten: Abschaffung der kalten Progression hätte weiterhin keine Chance im Bundesrat?
Kahrs: Ich glaube, dass man ja erst mal auf Bundestagsseite das Projekt durchsetzen muss, und dann wird man das mit den Ländern verhandeln müssen. Wir haben ja als SPD, seitdem wir in der Großen Koalition sind, ich glaube, schon x-mal der CDU/CSU angeboten, intern darüber zu sprechen, wie man den Abbau der kalten Progression gegenfinanzieren kann.
Klein: Und weshalb haben Sie dann vor zwei Jahren das komplett blockiert, denn da lag ja ein entsprechender Gesetzentwurf dem Bundesrat vor?
Kahrs: Weil es durch Schulden hätte finanziert werden sollen und weil die Länder das auch über Schulden hätten finanzieren müssen. Und wir sind der Meinung, dass man die kalte Progression abbauen muss, aber dass man es machen muss, indem man vielleicht innerhalb des Staates auch Subventionen oder andere Leistungen streicht und das gegenfinanziert. Es kann nicht angehen, dass wir auf der einen Seite die Kalte Progression streichen, aber dafür mehr Schulden machen.
Klein: Wir haben Thomas Oppermann 2012 gerade noch mal hören können im Originalton, damals Parlamentarischer Geschäftsführer Ihrer Fraktion, heute Fraktionsvorsitzender, und er hat es begründet mit den absehbaren Mindereinnahmen von damals sechs Milliarden Euro. Das heißt, bevor das nicht kompensiert ist, wird es auch heute von der SPD kein Ja dafür geben? Verstehen wir das richtig?
Kahrs: Wir als SPD haben gesagt, wir wollen den Abbau der kalten Progression und wir haben auch angeboten, gemeinsam einen Weg zu finden. Dazu, finde ich, bringt es nichts, sich gegenseitig öffentlich was vorzuwerfen, sondern wir haben angeboten, dass wir eine Arbeitsgruppe intern bilden, wo sich dann die Finanz- und Haushaltspolitiker von SPD und CDU/CSU zusammensetzen und Vorschläge machen, wie man das hinkriegt. Wir glauben, dass das geht. Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU glauben das auch. Das Problem ist, dass der Finanzminister und die Bundeskanzlerin an das Thema bisher nicht ran wollen.
Klein: Es wird ein Thema beim CDU-Bundesparteitag jetzt sein. Da gibt es ja auch kräftig Stimmen, die sogar fordern, ein konkretes Datum vorzulegen. Sie sagen jetzt, Sie haben darum gebeten, dass es auch auf Arbeitsgruppenebene zwischen den Regierungsfraktionen besprochen wird. Ist denn schon erkennbar von SPD-Seite, welche Vorschläge für eine Kompensation dort eingebracht werden?
Kahrs: Es gibt ja die Klassiker, die wir vorschlagen würden. Das würde die CDU wieder ärgern. Dann würden die Dinge vorschlagen, die uns wehtun, die wir nicht wollen, und dann würde das Stückchen im Sande verlaufen. Deswegen haben wir gesagt, es sollte keine öffentlichen Vorschläge geben, die nur das Ziel haben, dass es nicht funktioniert, sondern man setzt sich intern hin, ohne Öffentlichkeit, und bespricht, ob man einen Kompromiss finden kann, wo alle Beteiligten mit leben können, damit man diese Kalte Progression wegkriegt, damit es aber auch läuft, ohne neue Schulden zu machen.
Klein: Das ist aber schade, Herr Kahrs, dass das nicht öffentlich laufen soll, denn vieles in der Politik - das ist ein schönes Kennzeichen unserer Demokratie - wird doch auch öffentlich verhandelt.
Kahrs: Aber das Spielchen habe ich jetzt in meinen Jahren im Bundestag zu häufig erlebt. Wir schlagen dann den Abbau bestimmter Subventionen vor, also zum Beispiel die Mehrwertsteuer für Hotels, die Erleichterung und und und. Dann kommt die CDU und sagt, dann streichen wir doch mal die Steuerbefreiung von Wochenendarbeit, Nachtarbeit und Sonntagsarbeit. Dann sagen wir, das ist vollkommen unakzeptabel, und so schaukelt man sich dann hin und her. Das Spiel kennen alle. Es wäre doch vielleicht schlauer, die Experten setzen sich mal kurz hin, gucken sich tief in die Augen und finden dann zusammen mit dem Finanzminister einen Vorschlag, den man vorlegt, ohne dass man sich vorher gegenseitig auf die Bäume jagt, von denen dann wieder keiner runterkommt.
Keine Gegenfinanzierung durch neue Schulden
Klein: Gucken Sie sich tief in die Augen, das wird bestimmt schön werden. Wir halten mal fest: Es wird darauf hinauslaufen, dass es auf beiden Seiten als Kompensation auf die Abschaffung von Subventionen hinauslaufen wird. Die Frage ist nur, welche Subventionen. Jetzt müssen wir aber noch mal fragen: Betroffen von der Kalten Progression sind ja vor allen Dingen kleinere und mittlere Einkommen. Weshalb rückt man die Frage der Kompensation für Bund, Länder und Kommunen so dermaßen in den Vordergrund und fragt nicht zuerst, wie man die Arbeitnehmer entlasten kann?
Kahrs: Die Arbeitnehmer entlastet man ja. Wir haben das ja schon mal gezeigt, wie das geht. Unter Gerhard Schröder und Hans Eichel haben wir die größte Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt. Da wurden normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet. Da haben wir den Eingangssteuersatz und den Solidaritätszuschlag zum Beispiel massiv reduziert, und das kann man machen. Man darf es nur nicht durch neue Schulden gegenfinanzieren. Da hat auch der Arbeitnehmer nichts von.
Klein: Aber Sie haben nicht konkret das Thema kalte Progression so auf den Schirm genommen, dass es jetzt erledigt wäre in Ihrer Regierungszeit. Das müssen wir auch festhalten.
Kahrs: Na ja, es ist in allen Regierungsfraktionen mal gelaufen. Wir haben es unter Rot-Grün gemacht. Das heißt, für viele Jahre hat das stattgefunden über diese Geschichte bei Hans Eichel und Gerhard Schröder. Da ist es ja eine Entlastung gewesen. So was ist aber nicht dauerhaft und was man hinkriegen muss ist, dass man jetzt gemeinsam den Weg findet, diese kalte Progression abzuschaffen, indem man gleichzeitig aber es auch gegenfinanziert. Und ich finde, das eine wie das andere ist notwendig, und man kann nicht immer wieder neue Schulden machen, um dann so was zu finanzieren.
Klein: Das Stichwort Soli haben Sie jetzt gerade noch mal in die Debatte eingebracht. Da ist es ja auch nicht so, dass die SPD sich vehement dafür einsetzen würde, an dieser Stelle Entlastungen durchzusetzen für die Bürger, sondern im Gegenteil. Sie sind dafür, das auf jeden Fall weiter fortzuführen, um auch die Kassen in den Ländern zu füllen.
Kahrs: Na ja, im Kern ist es so, dass es keine einzige Partei im Deutschen Bundestag gibt, die den Solidaritätszuschlag abschaffen will, weil jeder die Berechnung sieht und weiß, was passieren würde, wenn der weg wäre: Die Zinsen steigen und die Wirtschaft vielleicht mal in eine schwierige Lage kommt. Aber wenn man denn dann verhandelt darüber, wie der Soli eingesetzt wird, ob zum Abbau der Altschulden, oder zur Entlastung der Länder, muss zum Beispiel auch in diesem Zusammenhang die kalte Progression abgeschafft werden, damit der Bürger wenn nicht beim Soli, dann wenigstens über die kalte Progression entlastet wird.
Bei geklärter Finanzierung können wir über ein Datum reden
Klein: Herr Kahrs, Sie haben es so ein bisschen angedeutet: Man versucht jetzt, sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit da eine Verständigung herbeizuführen. Aber wann soll das eigentlich beschlossen werden, wenn nicht in Zeiten, wo Deutschland wirtschaftlich relativ gut dasteht, in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen und relativ geringer Arbeitslosigkeit? Müsste nicht wirklich auch von beiden Seiten, von SPD und Union an der Seite ein viel vehementerer Vorstoß kommen, dass man sagt, wir setzen uns zusammen und wir werden das jetzt durchbringen und nicht darauf warten, dass man vielleicht sich doch hinter verschlossenen Türen auf irgendwas möglicherweise für irgendwann einigt?
Kahrs: Im Kern haben Sie recht. Deswegen haben wir als SPD das ja schon mehrfach angeboten. Nicht nur die Haushaltspolitiker, sondern auch Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann haben das angeboten. Bisher hat die Union sich immer verweigert. Frau Merkel und Herr Schäuble haben ja die gleiche Position vertreten, wie sie sie jetzt auch bei der Debatte innerhalb der CDU/CSU vertreten. Deswegen hat es auch keine internen Beratungen gegeben, keine Arbeitskreise und nicht mal den Versuch, sondern die Union sagt, sie will es nicht.
Klein: Nein, die Union sagt es noch nicht, sondern will es auf dem Parteitag beraten. - Abschließende Frage an Sie, Herr Kahrs: Wären Sie auch dafür, ein klares Datum festzulegen, 2017 wird es abgeschafft und damit ist dann das Thema auch erledigt?
Kahrs: Ich würde nur was versprechen, wenn ich es halten kann. Das heißt, ich glaube, dass wir gucken müssen, wie wir das gegenfinanzieren. Wenn wir eine saubere Gegenfinanzierung haben, können wir auch übers Datum reden. Alles andere ist unsolide.
Klein: Johannes Kahrs, der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, zum Streit um die Abschaffung der Kalten Progression heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kahrs.
Kahrs: Tschüss!
Klein: Tschüss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kalte Progression
Von kalter Progression spricht man, wenn Einkommens- und Lohnerhöhungen lediglich die Inflation ausgleichen und es - trotz somit unveränderter Leistungsfähigkeit - zu einem Anstieg der Durchschnittsbelastung kommt.
Beispiel: Das Preisniveau steigt in einem Jahr um zwei Prozent. Ein Steuerpflichtiger erzielt im gleichen Jahr einen Einkommenszuwachs von ebenfalls zwei Prozent. Real hat sich an seiner wirtschaftlichen Situation nichts geändert. Seine Kaufkraft ist im Vorjahresvergleich konstant. Da er aber ein nominal höheres Einkommen erzielt, steigt seine Durchschnittssteuerbelastung aufgrund des progressiven Tarifs an.
(Quelle: Bundesministerium der Finanzen)
Von kalter Progression spricht man, wenn Einkommens- und Lohnerhöhungen lediglich die Inflation ausgleichen und es - trotz somit unveränderter Leistungsfähigkeit - zu einem Anstieg der Durchschnittsbelastung kommt.
Beispiel: Das Preisniveau steigt in einem Jahr um zwei Prozent. Ein Steuerpflichtiger erzielt im gleichen Jahr einen Einkommenszuwachs von ebenfalls zwei Prozent. Real hat sich an seiner wirtschaftlichen Situation nichts geändert. Seine Kaufkraft ist im Vorjahresvergleich konstant. Da er aber ein nominal höheres Einkommen erzielt, steigt seine Durchschnittssteuerbelastung aufgrund des progressiven Tarifs an.
(Quelle: Bundesministerium der Finanzen)