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Kambodscha
Zerrissenheit eines traumatisierten Landes

Etwa 1,6 Millionen Kambodschaner wurden unter Pol Pot ermordet. Das Nachbarland Vietnam beendete 1979 mit einer Invasion diesen Genozid. Seither ringt Kambodscha um die Rückkehr zu einer stabilen Regierung. Doch das Land tut sich schwer in der Aufarbeitung seiner jüngsten Vergangenheit. Bernd Stöver, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, hat die Geschichte Kambodschas erforscht.

Von Tom Goeller |
    Eine Kambodschanerin bei einer Trauerzeremonie für Opfer der Roten Khmer in Phnom Penh.
    Eine Kambodschanerin bei einer Trauerzeremonie für Opfer der Roten Khmer in Phnom Penh. (picture alliance / dpa / Mak Remissa)
    Die buddhistischen Mönche in ihren orangefarbenen Gewändern sind zurückgekehrt. Neben dem lauten Treiben der Händler das auffälligste Merkmal dafür, dass Kambodscha wieder zu seiner ursprünglichen Kultur und Lebensweise gefunden hat. Denn unter dem Regime der sogenannten Roten Khmer war von 1975 bis 1979 der Handel verboten, die Mönche mussten ihre Gewänder ablegen und ihre Wats, das sind klosterähnliche Gebäude, aufgeben.
    Trotzdem hat Bernd Stöver den Eindruck, dass der eigentliche Neuanfang nach der Pol-Pot-Schreckensherrschaft ausgeblieben ist:
    "Denn die kambodschanische Regierung steht auf dem Standpunkt, dass die Gesellschaft kaputt geht, dass ein neuer Bürgerkrieg beginnt, wenn zu viel Aufklärung betrieben wird. Das hat nicht nur etwas mit buddhistischer Mentalität zu tun, sondern es hat tatsächlich damit zu tun, dass in den Dörfern Täter und Opfer Haus an Haus leben, und die wissen sehr genau, wer was gemacht hat."
    Mit anderen Worten: Jeder weiß Bescheid, doch keiner will jemanden beschuldigen. Diese Einstellung der Bevölkerung wird seitens der Politik kräftig unterstützt, womöglich sogar hervorgerufen, ist Stöver überzeugt. Die derzeitige Regierung von Premierminister Hun Sen, einem ehemaligen Weggefährten Pol Pots, bemühe sich nicht um die Aufarbeitung der Geschichte und des Völkermords. Sie stehe viel mehr für staatlich verordnete Dumping-Löhne in der Textilbranche, um andere asiatische Billiglohnländer noch zu unterbieten und auf Kosten der Bevölkerung am Welthandel teilnehmen zu können.
    Kambodschanische Arbeiterinnen und Arbeiter sitzen im Jahr 2007 in einer Textilfabrik am Rande Phnom Penhs mit Mundschutz an Nähmaschinen.
    Kambodschanische Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Textilfabrik am Rande Phnom Penhs (dpa / picture alliance / Arjay Stevens)
    Dabei sei Kambodscha einmal ein Global Player gewesen, etwa zur Zeit des europäischen Mittelalters. Der Potsdamer Historiker hat sein Buch zur Geschichte Kambodschas weitgehend chronologisch aufgebaut. Er erklärt, wie die Großreiche der Khmer entstanden, über deren Ursprung im zweiten Jahrhundert hauptsächlich chinesische Quellen berichten:
    "Die chinesischen Chronisten zeigten sich besonders beeindruckt von den Steinmetzarbeiten und den für die Bewässerung der Felder und den Transport angelegten Kanalsystemen. Sie schufen damals die Verbindungen zwischen den befestigten Siedlungen und ermöglichten den Bau der Tempelanlagen."
    Bis zum Niedergang der Herrscherdynastien der Khmer im 15. Jahrhundert entstanden Tausende von hinduistischen und buddhistischen Tempeln, die bis heute von dieser religiösen und kulturellen Blüte des Landes zeugen. Die Ruine Angkor Wat, die einstige mittelalterliche Hauptstadt des Khmer-Reiches, ist bis heute aufgrund ihrer malerischen Erscheinung mitten im Dschungel das bekannteste Bauwerk der alten Khmer-Epoche. Von der Mitte des 15. bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Land der Khmer von den Nachbarvölkern des heutigen Thailand und Vietnam erobert und beherrscht. 1863 traten die Franzosen als Kolonialherren in Kambodscha auf und entließen das Volk der Khmer erst 1954 wieder in seine Unabhängigkeit. Doch das verträumte Dschungelland blieb weiterhin Opfer der Weltpolitik, wie Stöver erläutert:
    "Kambodscha war eine der großen Hoffnungen für eine demokratische Entwicklung in den 50er-Jahren. Aber das Land ist zerstört worden mit der Einbeziehung in den Vietnamkrieg."
    Und hierauf hat der Professor für Neuere Geschichte den Fokus seines Buches gelegt: Die Aufklärung, wie es zur Zerrüttung eines Volkes kommen konnte, das von sich aus weder nach innen noch nach außen eine Bedrohung dargestellt hatte. Um den Nachschub der nord-vietnamesischen Kämpfer im Süden Vietnams zu unterbinden, begannen die USA ab 1972 auch kambodschanisches Gebiet an der Grenze zu Vietnam zu bombardieren.
    "Die Sideshow, wie das Schlachtfeld Kambodscha (in den USA) genannt wurde, zerstörte in diesen Jahren eines der letzten, noch relativ stabilen Länder Südostasiens und ebnete damit den Weg für Pol Pots Regime. Denn die rund 2,4 Millionen Bomben trafen zwar auch Truppenansammlungen, insbesondere aber Zivilisten, was die bis dahin unbedeutende kommunistischen Roten Khmer, die gegen die Zentralregierung standen, erst in die Lage versetzte, massenhaft jugendliche Waisen zu rekrutieren. Heute weiß man, dass diese Kindersoldaten zu ihren gläubigsten und rücksichtslosesten Anhängern wurden."
    Ein Regenbogen scheint am 05.09.2004 über dem Tempelbezirk Angkor Wat bei Siam Reap (Kambodscha) auf. Angkor Wat, erbaut im 12. Jahrhundert, gilt als das Meisterwerk der klassischen Khmer Architektur.
    Regenbogen über dem Angkor Wat (picture-alliance / dpa/dpaweb /epa Barbara Walton)
    Und sie führten aus, was Pol Pot, der vermeintliche "Retter der Waisenkinder" nach dem Abzug der Amerikaner im April 1975 bei der Einnahme der Hauptstadt Phnom Penh anordnete: die Ermordung von 1,6 Millionen oppositionellen Kambodschanern. Wie gehen die Überlebenden heute mit dem 40. Jahrestag des Beginns dieser Schreckensherrschaft um?
    "Es ist, glaube ich, eher ein Jahrestag, der im Ausland interessant ist."
    Doch aus dem Schicksal Kambodschas sollte man Lehren ziehen, ist der Autor überzeugt – auch wenn es um die Bewältigung heutiger Krisen geht:
    "Man muss sich die Geschichte eines Landes erst einmal anschauen, bevor man solche Entscheidungen trifft, zu bombardieren. Man muss sich die Folgen genauer anschauen."
    Stöver präsentiert eine moderne, erfrischende Art des wissenschaftlichen Schreibens, indem er beispielweise auf Filmszenen aus dem Hollywoodstreifen "Apocalypse Now" zurückgreift. Damit dürfte er auch jüngere Leser für seine Historiografie gewinnen. Doch Stöver schreibt nicht nur anschaulich, er kennt seinen Forschungsgegenstand auch ausgezeichnet. Gerade ist er erst von einem Forschungsaufenthalt aus Kambodscha zurückgekehrt. Sein Buch ist nicht nur für Asieninteressierte Leser zu empfehlen. Stöver wirbt dafür, dass Europäer das südostasiatische Land grundsätzlich neu entdecken sollten, denn bei all der düsteren jüngsten Vergangenheit ist er dennoch überzeugt:
    "Kambodscha ist viel mehr. Es ist im Grunde genommen ein vergessenes Paradies. Wir finden eine unentdeckte Welt."
    Bernd Stöver: "Geschichte Kambodschas. Von Angkor bis zur Gegenwart"
    C.H. Beck Verlag, 256 Seiten, 14,95 Euro