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Kampf der Waldbrüder

In Deutschland ist der 8. Mai der Tag der Befreiung von der Nazidiktatur – in Russland der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland. In Estland, Lettland und Litauen ist das Kriegsende die Zeit, in der das Baltikum vom Regen in die Traufe kam – von der einen in die andere Besatzung.

Von Matthias Kolb |
    Meelis Mottus verharrt einige Sekunden schweigend neben der großen Holztafel. Nachdenklich blickt er auf die Schwarz-Weiß-Fotos von einem Dutzend Männer, die dort angebracht sind. Die Männer waren Waldbrüder oder metsavennad, wie die Esten sagen. Mottus deutet auf einen jungen Kerl, der selbstbewusst in die Kamera schaut:

    "Das ist Alfred Käärmann. Er versteckte sich acht Jahre in einem Bunker, bevor er 1952 verhaftet und nach Sibirien geschickt wurde. Seinen Widerstand gegen die sowjetische Besatzung hat das nicht gebrochen. Vor zwei Monaten ist er im Alter von 82 Jahren gestorben."
    Etwa 20.000 Männer und einige hundert Frauen haben sich wie Käärmann damals in den Wäldern versteckt, als die Rote Armee 1940 einmarschierte und das Land später besetzte. Die einen, weil sie mit den Deutschen kooperiert hatten und eine Verhaftung fürchteten. Die anderen, weil sie als Partisanen gegen die sowjetischen Besatzer kämpfen wollten. Die Hoffnung, ein "weißes Schiff" aus dem Westen, auf estnisch valge laev, werde zur Rettung kommen, hielt sich lange, so Meelis Mottus:

    "Alle warteten auf Hilfe aus Amerika und hörten heimlich Sender wie 'Voice of America'. Sogar die Kinder: ihre ersten Wörter waren Mutter, Vater und dann weißes Schiff."
    Sein Vater war selbst Waldbruder – allerdings vor Meelis' Geburt. In der Familie und in der Gegend war das Thema Tabu. Doch bei einem Spaziergang im Jahr 1981 weihte der Vater den jungen Meelis ein:
    "Vater sagte mir: Ich habe mich 14 Jahre lang unter dem Schulhaus versteckt, weil ich als junger Mann zur estnischen Armee gegangen bin und später keine Sowjet-Uniform tragen wollte. Ich war ein Waldbruder, weil ich an ein freies Estland glaubte."

    Den Anstoß, mit einem Waldbrüder-Hof an deren Geschichte zu erinnern, gab jedoch ein Onkel, der 1944 nach Australien ausgewandert war und Mottus in den 90er-Jahren genug Geld vermachte, um den Hof zu restaurieren. Mottus führt die Gruppen nach einer Einführung immer zu einer alten Scheune. Über eine Leiter geht es dann auf den Heuboden, wo Mottus einen Balken von der Rückwand löst und einen Hohlraum präsentiert - genug Platz für eine Person. Eha Lorits, die 76 Jahre alte Nachbarin, erinnert sich genau an die Zeit, als sich ihr Vater dort versteckte und der Geheimdienst die Familie drangsalierte:

    "Am schlimmsten waren die Jahre 1945 bis 1947. Meine Mutter und ich wurden fast täglich auf dem Amt verhört. Weil wir nichts sagten, wurden wir geschlagen. Oft trennte man uns und ich musste mithören, wie meine Mutter verprügelt wurde. Manchmal zwangen die Agenten mich, zuzusehen. Ich hatte wenig körperliche Schmerzen, aber psychisch war es die Hölle."

    Doch weder sie noch ihre Mutter verrieten den Vater, der sich als Förster im Wald gut auskannte. Dieser stellte sich 1948, doch als die Sowjetmacht ein Jahr später Zehntausende Esten deportieren ließ, wurde auch Ehas Vater nach Sibirien geschickt.

    Erst durch eine Amnestie nach dem Tod Stalins 1953 konnte Eha Lorits' Vater zurückkehren. Die energische alte Dame freut sich, dass nun wieder offen über die Waldbrüder und ihren Widerstand gesprochen wird. Schließlich habe deren Überzeugung, dass die estnische Nation überleben werde, zur Unabhängigkeit geführt. Lorits holt einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1988 hervor und deutet auf das Foto: Darauf hält sie die blau-schwarz-weiße Nationalfahne, die ihr Vater einst versteckte. Meelis Mottus verabschiedet sich von seiner Nachbarin und geht hinaus in den Wald. Zielstrebig steuert er auf den Bunker zu, den er nachgebaut hat. Über eine Holzleiter geht es hinab:

    "Hier haben zehn oder zwölf Leute Platz. Anfangs lebten die Waldbrüder zu sechst oder acht zusammen, doch am Ende lebte jeder allein. Das Überleben war hart: Man konnte nur nachts heizen, denn der Rauch hätte am Tage das Versteck verraten und im Winter mussten alle Spuren im Schnee beseitigt werden. Umso wichtiger war der selbstgebrannte Wodka: Er wärmte von innen und diente als Medizin und Tauschmittel."

    Zweifellos ist es eine gewisse Folklore, die Mottus zelebriert, wenn er Gruppen anbietet, im Bunker zu übernachten. Aber es ist ihm dadurch gelungen, in einer verlassenen Gegend den Tourismus anzukurbeln und seine Berichte sind ausgewogen. Zurück in der Holzhütte gibt es deftiges Essen und Mottus zeigt, wie man früher den Wodka testete: Er taucht einen Finger in den Selbstgebrannten und hält ihn über eine Kerzenflamme. Der Finger scheint zu brennen – es handelt sich um echten Schnaps.