"Diese individuelle Förderung ist das A und O von allen Konzepten von Chancengleichheit."
Darüber sei sich die Bildungsforschung einig, sagt Jutta Allmendinger, Professorin für Bildungssoziologie an der Humboldt Universität Berlin. Zu einer guten Schule gehöre, dass jedes Kind individuell betrachtet und gefördert werde. In der Praxis passiere aber viel zu selten:
"Wir haben Umsetzungsprobleme, wir haben schlichtweg immense Umsetzungsprobleme und wir bekommen es nicht hin, diese guten Schulen in die Fläche zu bringen. Weil uns da die Verpflichtung der Schulleiter und Lehrer fehlt, eine andere Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und zum dritten eine andere Komposition der Schulen als solche."
Eine andere Komposition der Schule – wie das aussehen kann, zeigt die Evangelische Schule Berlin Zentrum.
"Wir haben die große Schule in der kleinen: Drei Klassen gehören zusammen. Die Schule ist so aufgestellt, dass die Lehrer nur mit diesen drei Klassen zu tun haben und mit denen ganz viel Zeit verbringen, damit sie die Schüler kennenlernen und nicht 130 am Tag haben."
Arbeiten im eigenen Tempo
Margret Rasfeld ist Schulleiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Unter individueller Förderung verstehen viele Schulen: Für die Kinder gibt es unterschiedliche Arbeitsblätter, je nach Leistungsstand, je nach Schulfach. Das sei zu wenig, sagt Margret Rasfeld.
"Wenn Du den ganzen Tag nur individuelle Förderung in den Fächern machst – das ist tödlich."
In ihrer Schule kämen die Schüler morgens in die Schule und suchten sich aus, was sie machen: Deutsch, Englisch oder Mathe. Jeder arbeite dann in seinem Tempo, die eine mit Laptop, der andere mit Büchern.
"In meiner Schule ist es sogar so, dass die Schüler sich selber dann zum Test anmelden können. Also es gibt nicht mehr die Mathematik-Arbeit Donnerstag um 11 Uhr. Sondern die Schüler arbeiten individuell mit Unterstützung, auch gegenseitig unterstützen sie sich, mit gutem Material ihre Themen und melde sich dann an, wenn sie sich sicher fühlen."
"Man lernt doch nur, was man lernen will, durch Begeisterung und Sinn"
Donnerstags ist Projekttag, Schüler gehen eigenen Fragen nach:
"Das ist doch individuell! Wenn Du Deinem eigenen Thema nachgehst. Man lernt doch nur, was man lernen will und durch Begeisterung und Sinn. Man muss Schüler aber sehr gut begleiten, damit sie überhaupt Forscherfragen stellen. Denen ist das ja schon abgewöhnt worden in der Schule."
Um ihren Ansatz des individuellen Lernens voranzubringen, hat Margret Rasfeld die Initiative "Schule im Aufbruch" gegründet. Denn andere Schulen könnten dieses zunächst recht komplexe Modell des individuellen Lernens leicht übernehmen, sagt Schulleiterin Margret Rasfeld, wenn sie denn das richtige Lernmaterial hätten:
"Das ist eine Hürde. Wenn Schulen gutes Material hätten, würden sie auch anfangen. Aber dieses Material zu machen, ist echt sehr zeitaufwändig und auch im normalen Schulalltag fast eine Überforderung. Deswegen machen wir von 'Schule im Aufbruch' jetzt Material, was auch kopiert werden darf mit Designern und Design-Thinkern, was auch in die Breite geht."
Lehrer müssen neues Selbstverständnis entwickeln
Doch Material ist nur das eine. Vor allem die Lehrer müssten neue Fähigkeiten und ein anderes Selbstverständnis entwickeln:
"Es geht ja um Haltungsänderung. Der Lehrer ist nicht mehr Wissensvermittler, sondern der Lehrer ist plötzlich Lernbegleiter, ja, und guckt nicht mit Defizitblick, sondern was braucht jeder, was kann der, alles Haltungsänderungen. Dazu musst du vielleicht auch Fortbildung machen zum Beispiel in gewaltfreier Kommunikation oder indem Du Dich mit anderen austauscht, die auch schon so lehren, wo man seine Zweifel auch loswerden kann. Dazu muss man sich gut vernetzen in der Szene und gutes Material haben, dann würden viel mehr das machen."