Seit Ende Juli steigt die Zahl der Neuinfektionen mit dem SARS-CoV-2 in Deutschland wieder an – und damit auch die Angst vor einem neuerlichen Lockdown. Denn das Infektionsgeschehen wird zudem unübersichtlicher. Ein solches Szenario hatten viele Experten vor den Sommerferien vorausgesagt.
Nach Ansicht des Medizinstatistikers Gerd Antes ist Deutschland darauf trotzdem nicht richtig vorbereitet. Es sei in den vergangenen zwei bis drei Monaten versäumt worden, genauere Informationen darüber zu erlangen, wie ein Lockdown besser gesteuert werden könne. So liege weiter "völlig im Dunkeln" wie sich die Infektion tatsächlich verbreite, kritisierte der langjähriger Direktor des Cochrane-Zentrums und Mitbegründer des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Verwendete Modellrechnungen seien "teilweise hanebüchen".
Zudem werde gegenwärtig im Kampf gegen die Pandemie viel zu viel auf die Impfung gehofft. Dadurch werde die Erforschung der nicht pharmakologischen Intervention wie etwa Abstandhalten vernachlässigt. Die Politik müsse hier viel stärker steuernd eingreifen, forderte Antes, etwa durch eine Task Force.
Philipp May: Fangen wir mal mit was Positivem an: Fast überall auf der Welt wird Deutschland als Musterknabe bei der Corona-Bekämpfung aufgeführt. Zu Recht?
Gerd Antes: Ja, was die Zahlen angeht, gerade auch die Todeszahlen, sind wir sicherlich ein Musterknabe, und auch was den Aufwand angeht, sieht es gut aus von draußen. Aber wenn man genauer hinschaut, dann muss man leider feststellen, dass wir ganz einfach Glück hatten.
May: Mehr Glück als Verstand.
Antes: Ja, das ist die böse Interpretation, aber ich glaube, man kann es so böse sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.
Richtige Panikreaktion zu Anfang
May: Was wurde hier denn richtig gemacht beziehungsweise was wurde besser gemacht als anderswo, was sich dann am Ende als glücklich herausgestellt hat?
Antes: Wir hatten auf der einen Seite natürlich ein Gesundheitssystem, das einfach nur ohne Corona gut aufgestellt ist, und zwar insbesondere auch, was die Anzahl der Betten angeht. Also das Grundgefüge, was die Katastrophe aufnehmen sollte, war besser als in anderen Ländern. Zweitens haben wir dann – und das war zu Anfang eine Panikreaktion, die richtig war – alles geschlossen, alles zugemacht und nicht die Fehler gemacht, die zum Beispiel Italien gemacht hat, wo dann noch irgendwie jede Menge Chinesen eingereist sind. Das sind einfach Unterschiede, da muss man genauer hinschauen. Aber wir haben zu Anfang einfach die richtige Panikreaktion gemacht, und das hat funktioniert.
May: Und dann hat der Verstand ausgesetzt, oder wie soll ich Sie deuten?
Antes: Nein, dann kam die Phase, wo die Zahlen runtergingen, auch vorhersagbar, da hat der Verstand nicht ausgesetzt. Da war noch die Mischung aus Vorsicht, und die Maßnahmen haben gegriffen. Und dann kam das, was man auch teilweise als Dauerproblem sieht bei der Prävention, dann kommt die Unvorsicht. Wir sehen, es funktioniert, und dann kommt die psychische Reaktion: Wir haben eigentlich kein Problem. Dann schlägt es zurück, und das erleben wir jetzt gerade.
May: Also das, was jetzt passiert, das war auch für Sie zu erwarten?
Antes: Ich hab das erwartet, ja, klar. Jetzt ist die große Herausforderung, wie man damit umgeht. Zu Anfang ist zum Beispiel, wenn man zu viel Panik erzeugt, dann schießt das umso mehr in die andere Richtung, und an der Stelle eiern wir jetzt gerade herum.
May: Aber es war doch schon richtig, dass am Anfang Panik beziehungsweise zumindest ein Problembewusstsein bei der Bevölkerung geschaffen wurde, damit auch diese Maßnahmen überhaupt umgesetzt werden können.
Antes: Aus meiner Sicht ja, nicht alle sind der Meinung. Es gibt ja auch heute noch Leute, die glauben, wir haben eigentlich nur eine schwerere Grippe, und auch inzwischen nach all den klinischen Verläufen, die wir beobachtet haben, ist das aus meiner Sicht blanker Unfug. Wir haben wirklich einen schwereren Fall, das muss man auch in Ruhe diskutieren. Aber zu Anfang war erst mal, weil wir so wenig wussten, diese scharfe Reaktion aus meiner Sicht uneingeschränkt richtig.
Verbreitung der Infektion "völlig im Dunkeln"
May: Und dann hätte man langsamer aus Lockdown raus gemusst, oder hätte man den Lockdown einfach beibehalten müssen? Was war das Problem?
Antes: Aus meiner Sicht ist das Problem, dass man jetzt zwei, drei Monate versäumt hat, genauere Informationen zu erlangen darüber, wie wir gesteuert einen Lockdown machen. Also dass wir heute nicht genau wissen, ob wir, wenn ein Schüler infiziert ist, die Schule dicht machen oder die Klasse nach Hauses schicken oder nur einen Teil der Klasse, das hätte man alles jetzt in Ruhe – Ruhe ist übertrieben, Ruhe in Anführungszeichen – erkunden können. Genauso die Frage oder die Aussage jetzt vom Gesundheitsminister Spahn, dass er nicht dran denkt, Friseure und Einzelhandel zuzumachen. Ich glaube, das ist völlig unterschiedlich. Das Infektionsrisiko beim Friseur ist völlig unterschiedlich von einem Einzelhandelsgeschäft. Und auch dort haben wir nichts in der Hand, wo wir jetzt gezielt steuern können und ich nenne das immer Finetuning machen können.
May: Das heißt, man weiß bisher immer noch nicht so richtig, wie sich die Infektion verbreitet, das ist immer noch einigermaßen im Dunkeln für Sie?
Antes: Nein, das ist mehr als einigermaßen im Dunkeln, es ist völlig im Dunkeln. Gerade auch diese, na ja, Sie kennen ja die Schlagzeilen über Oberflächendesinfektion, dann eben über großen Auswurf aus dem Hals oder auch Aerosole aus der Lunge. Wie da die Zahlenverhältnisse sind, wo es wirklich gefährlich wird, wie es in Innenräumen in Relation zu außen ist, das wissen wir quantitativ nicht, wir wissen es nicht mal ansatzweise.
"Modellrechnungen teilweise hanebüchen"
May: Aber meine Wahrnehmung als interessierter Laie an dieser Stelle ist doch, dass wir mittlerweile relativ viel herausgefunden haben. Wir wissen zum Beispiel eben, dass diese Verbreitung durch Aerosole stark ist im Vergleich auch zu der klassischen Schmierinfektion, also über Oberflächen. Wir wissen zum Beispiel, dass Masken helfen, die Verbreitung einzudämmen. Wir wissen, dass sogenannte Superspreader-Ereignisse eine große Bedeutung für das Ausbreitungsgeschehen haben. Das ist doch in so kurzer Zeit nicht eine ganze Menge?
Antes: Ja, ich bin nicht Ihrer Meinung. Zum Beispiel, klar, wir wissen, dass Aerosole eine große Bedeutung haben, aber wir wissen nicht die Zahlen, wie die Relation ist. Ich finde die Formulierung von dem Superspreader völlig übertrieben. Die Formulierung, dass wir nur noch jetzt Superspreader jagen müssen, ist erstens einmal unmöglich, und zweitens sind es nicht die Personen, die Superspreader sind, sondern die Bedingungen, dass Events eben dann irgendwann außer Kontrolle geraten. Aber wie jetzt die Relation ist zum Beispiel, dass wir nur noch auf die großen Ereignisse achten sollten und die anderen lassen sollen und das, was man als Spontanübertragung bezeichnen könnte, keine Bedeutung mehr hat, halte ich für geradezu fahrlässig.
May: Das heißt, das gibt die Forschung bisher gar nicht her.
Antes: Nein, aus meiner Sicht nicht. Dann haben wir Modellrechnungen, weil es nicht so einfach ist. Wir brauchen eigentlich ja, jetzt wissenschaftlich formuliert, eine Dosis-Wirkungs-Beziehung: Wann wird ein Mensch infiziert, wenn er einem anderen infizierten Menschen gegenübersteht? Da haben wir Modellrechnungen, aber die sind teilweise hanebüchen neben der Realität – sag ich jetzt auch zu meinen eigenen Fachkollegen –, und deswegen sind wir da nicht so weit, wie wir eigentlich sein müssten. Es ist nicht einfach, aber wir hätten viel weiter sein können.
Wissenschaft bekommt nicht genug Druck von der Politik
May: Woran liegt denn das, weil ja – mein Eindruck auch wieder – mit Hochdruck überall auf der Welt an der Erforschung des Coronavirus gearbeitet wird, dass trotzdem solche elementaren Erkenntnisse, wie Sie sagen, noch fehlen?
Antes: Na ja, man nennt teilweise Corona die Lupe, die alle Defizite deutlicher erkennen lässt. Alles das, was in der Forschung nicht gut funktioniert, funktioniert gegenwärtig keinen Deut besser und teilweise richtig deutlich schlechter.
May: Zum Beispiel?
Antes: Banalitäten wie Publikationen, dass da geschlampt wird. Das haben wir gesehen, indem in den größten Zeitschriften Dinge zurückgezogen werden mussten. Oder wir haben eine unglaubliche Anzahl von Studien – keiner weiß genau wie viel, über 10.000 – nur zu diesem Thema zu gleichen Fragestellungen, unkoordiniert, unabgesprochen und auch im Ergebnis teilweise extrem widersprüchlich. Es ist – ich glaube, man kann es so deutlich sagen – es ist ein großes Chaos, was die Wissenschaft liefert. Die Wissenschaft liefert selbst nicht, sie kriegt aber auch den Druck nicht von der Politik, jetzt endlich besser zu liefern.
May: Das heißt, die Politik müsste was tun?
Antes: Sie müsste einerseits wirklich eine sogenannte Taskforce – das ist auch so ein Schlagwort – so aufstellen, dass die funktionieren können. Man muss teilweise die Regeln ändern, weil wir einfach schneller sein müssen als normal. Der Wettbewerb zwischen Wissenschaftlern, damit sie irgendwann ihren Professor kriegen, der kann gegenwärtig so nicht funktionieren, weil wir die Zeit nicht haben, und das ist noch nicht in den Köpfen drin.
Pandemie-Plan in der Schublade gelassen
May: Auf der einen Seite sagen Sie, Wissenschaft muss schneller werden, auf der anderen Seite sprechen Sie vom großen Chaos. Bedingt das eine nicht das andere?
Antes: Ja, das hängt auf diesem Grat zwischen Qualitätsaufgabe für mehr Schnelligkeit und auf der anderen Seite Irrwege – die Zulassung des Impfstoffs in Russland ist zum Beispiel dafür ein Beispiel –, indem wir versuchen, Schritte zu überschritten, und die werden uns auf die Füße fallen. Ja, das haben Sie perfekt formuliert, genau an der Stelle sind wir, und aus der Falle kommen wir auch nicht raus. Das muss in völliger Transparenz mit hoher Integrität diskutiert werden und dann auch schnell entschieden werden.
May: Das heißt, wir müssten jetzt unter Hochdruck unter Pandemiebedingungen ein Dilemma lösen?
Antes: Ja, genau, und das ist auch wieder vorhersagbar gewesen, weil wir schon 2012 einen Pandemieplan hatten, auch in Deutschland, den aber ganz sorgfältig in der Schublade gelassen haben, ohne auch nur ein einziges Mal draufzuschauen.
May: Herr Antes, Sie haben gerade die Impfstoffentwicklung in Russland angesprochen. Wenn wir aber auf die Impfstoffentwicklung außerhalb Russlands gucken, jetzt auch gerade in der westlichen Welt und Russland mal beiseitenehmen, ist das nicht eher ein positives Beispiel? Wenn man sieht, mit welchem Hochdruck überall daran geforscht wird, sodass wahrscheinlich nächstes Jahr schon mehrere Impfstoffe bereitstehen werden, das ist doch eigentlich phänomenal.
Antes: Ja, es ist phänomenal, aber ich glaub’s erst, wenn’s passiert ist.
May: Sie haben große Zweifel?
Antes: Ich habe, denke ich, auch berechtigte Zweifel, weil es nicht so schnell gehen kann. Alle diese Entwicklungen haben immer ein hohes Risiko, und deswegen müssen wir mal sehen, ob das wirklich funktioniert, und auch dann … In der Öffentlichkeit wird ja immer transportiert, wir haben da einen Impfstoff, und dann klingt es so, als ob wir ein hundertprozentiges Verschwinden des Virus haben. Das wird nicht so sein. Im Gegenteil, wir werden einen Impfstoff haben mit einer gewissen Wirksamkeit, und der wird nicht alles erwischen. Dann werden Impfgegner kommen und sich dagegen verweigern, und dann haben wir wieder eine reale Situation, wie auch gegenwärtig. Eine völlige Mischung von verschiedenen Faktoren, und dann müssen wir sehen, wie es da weitergeht. Ich bin gespannt.
"Es wird zu viel auf die Impfung gehofft"
May: Nichtsdestotrotz, selbst ein Impfstoff mit einer geringeren Wirksamkeit oder mit einer gewissen Wirksamkeit, wie Sie sagen, würde der nicht auch schon helfen, diese Herdenimmunität zu erzeugen mittlerweile, wenn man beispielsweise sagt, bei 60 Prozent der Menschen schlägt er an?
Antes: Ja, er würde die nicht erzeugen, er würde der näherkommen. Das war das, was ich gerade eben schon sagte, wir kommen nicht raus aus der gegenwärtigen Falle, dass wir diese ganzen Einzelmaßnahmen, die wir nicht 100 Prozent verstehen – Masken, Abstand und so weiter, und impfen –, irgendwie angehen müssen unter Einsatz aller Mittel. Gegenwärtig wird aus meiner Sicht viel zu viel auf die Impfung gehofft. In der Forschungswelt, die kritischen Stimmen, fordern viel mehr – man nennt das auch Erforschung der nicht pharmakologischen Intervention, also noch mehr genaues Hinschauen, was machen wir eigentlich mit dem Abstandhalten zum Beispiel, reicht das? Oder vielleicht können wir auch weniger haben, vielleicht waren ja auch viele Maßnahmen viel zu scharf. Deswegen kommen wir aus dem gegenwärtigen Dilemma nicht heraus, und das ist, das glaube ich auch, in der Fachwelt Konsens.
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