Irak, Mitte Juni, vor mehr als drei Monaten: Ein schmaler Kanal südlich der Stadt Kirkuk markiert die Grenzlinie zwischen der kurdischen Peschmerga-Miliz und den Kämpfern um ISIS, wie die Terrororganisation, die sich mittlerweile Islamischer Staat nennt, seinerzeit noch heißt.
Das Gebiet jenseits des Kanals ist eine Tabu-Zone; jeder, der sich hinüber wagt und nicht zu den Islamisten und ihren Verbündeten zählt, läuft Gefahr, umgebracht zu werden. Nachdem die USA 2003 Saddam Hussein gestürzt hatten, gab es nur eine kurze Phase, in der sich Fremde mehr oder weniger ungefährdet in der Region auf der anderen Seite der Brücke bewegen konnten: Zwischen 2007 und 2010. Damals waren die Amerikaner noch Besatzer. Wenngleich sie das Gebiet jenseits des Kanals nicht kontrollierten. Genauso wenig wie die irakische Führung um den schiitischen Regierungschef Nuri al-Maliki und dessen Streitkräfte, die das US-Militär gleichzeitig versuchte aufzubauen. Oder Al-Kaida im Irak, die Vor-Vorgänger-Organisation von IS.
Die wahren Herrscher über das Land südlich von Kirkuk bis Bagdad waren andere; Männer wie Abdul Karim Ali Nassif al-Jouburi. Und Abu Sayf, wie ihn seine Leute nannten, hätte dafür beinahe mit seinem Leben bezahlt. 2008 war er in einem Konvoi unterwegs, den ein Selbstmordattentäter angriff; doch Abu Sayf überlebte. Ein Jahr später saß er auf einem roten Plastikstuhl vor seinem Anwesen. Mit schwerem Atem erzählte er:
"Die US-Militärs haben mich in ihre Basis nach Balad gebracht, ein Ort zwischen Kirkuk und Bagdad. In einem Hospital haben sie meinen linken Unterarm amputiert, mich mehrfach operiert: die Bauspeicheldrüse und die Lunge, und mein linkes Bein, das verletzt worden war."
Zusammenschluss gegen Islamisten
Wahrscheinlich hatte Al-Kaida den Mord an Abu Sayf geplant. Denn: Er war eine Führerfigur der "Sahwa" - zu Deutsch: "Die Erweckung". Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Art Bürgerwehr, Milizen sunnitisch-arabischer Stämme im Irak. Die hatten recht schnell nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein den Druck von Al-Kaida zu spüren bekommen: Als Vorgängerorganisation von IS wollte die Organisation schon damals im Irak ein Kalifat errichten. Und dieses Ziel versuchten die Islamisten mit Mordanschlägen durchzusetzen. Sie verübten Attentate gegen die US-Besatzungstruppen, was für viele Sunniten Anreiz genug war, sich jenen Islamisten anzuschließen. Denn für sie war dieser Kampf ein gerechter Widerstand gegen die Amerikaner.
Aus mehreren Gründen: Im politischen Prozess bevorzugte die Regierung in Washington die Schiiten als stärkste Bevölkerungsgruppe, womit die Sunniten, die unter ihrem Glaubensbruder Saddam Privilegien genossen hatten, ins Hintertreffen gerieten. Al-Kaida im Irak kaufte sie einfach - und bekam ausgebildete Militärprofis. Abu Sayf hingegen behauptete seinerzeit, 2009, dass er und die mehreren Tausend Mann, denen er als Clan-Chef vorstand, ihre Hände in Unschuld waschen konnten; von ihnen habe niemals jemand gegen die Amerikaner gekämpft. Ab Anfang 2005 wollten manche Stammesfürsten der sunnitischen Araber im Irak die Umtriebe von Al-Kaida jedenfalls nicht mehr länger hinnehmen, die Kämpfer dieser Anti-al-Kaida-Clans in der Provinz Anbar schlossen sich gegen die Islamisten zusammen - die "Sahwa" war geboren.
Ein Erfolgsmodell, wie die USA schnell erkannten: Ab September 2006 akzeptierten sie die Bürgerwehr und begannen, die Stammesfürsten samt deren Kämpfern, die zuvor von Al-Kaida gekauft worden waren, buchstäblich zurückzukaufen. Nur drei Jahre später, als Abu Sayf in dem heute von IS kontrollierten Gebiet herrschte, standen mehr als 100.000 Mann auf der Gehaltsliste der USA. Abu Sayf:
"Jeder Kämpfer bekommt 300.000 irakische Dinar, aber wir verhandeln darüber, dass der Sold auf 500.000 erhöht wird."
300.000 Irakische Dinar - das waren damals umgerechnet 230 Euro. Die USA ließen sich den Kampf gegen Al-Kaida im Irak viel Geld kosten. Waren damit jedoch erfolgreich. Al-Kaida-Hochburgen wie die Städte Ramadi und Fallujah waren lange Zeit frei von Islamisten; ebenso das Gebiet südlich von Kirkuk, das Abu Sayf kontrollierte.
Al-Kaida statt "Sahwa"
Bald gab es sogar Pläne der US-Administration, die "Sahwa"-Milizen in die regulären irakischen Sicherheitskräfte einzubinden. Schließlich hatten die US-Streitkräfte beschlossen sich bis Ende 2011 aus dem Irak zurückzuziehen. Diesem Termin sah Abu Sayf optimistisch entgegen:
"Der Rückzug wird eine Lücke im Sicherheitssystem hinterlassen. Die irakische Armee wird sie nicht füllen können, wenn die Amerikaner sich zurückziehen. Doch gerade deshalb wird die 'Sahwa' wichtig bleiben - wir sind Teil des Sicherheitssystems und wir sind dazu bereit, unser Land zu verteidigen."
Doch rasch folgte die Ernüchterung: Die Kämpfer der "Sahwa" - der "Erweckung" - sind nie in die irakischen Sicherheitskräfte integriert worden. Nuri al-Maliki, der damalige schiitische Regierungschef, stoppte sogar die Zahlungen an die sunnitischen Stammeschefs. Eine Folge war, dass sich manche "Sahwa"-Milizionäre wieder Al-Kaida im Irak zuwandten. Und deren Nachfolgeorganisation Islamischer Staat.
Im irakischen Fernsehen wird die "Wieder-Erweckung" der "Sahwa" inzwischen - nach dem Ende der Maliki-Herrschaft - plötzlich lebhaft diskutiert. Bleibt indes die Frage, ob das Konzept einer wiederbelebten "Sahwa" realisierbar sein wird. Und ob sich die sunnitischen Stämme noch einmal werden kaufen lassen. In manchen Regionen des Irak könnte dies gelingen; möglicherweise ist es ganz simpel eine Frage des Preises.
Abu Sayf, der vor gut sechs Jahren bei einem Attentat einen Arm verlor - und auch sonst erheblich verwundet worden ist, wäre wohl wieder dabei. Wenn er denn noch lebt und wegen seines damaligen Engagements von IS nicht schon längst umgebracht worden ist. Sein Schicksal ist unbekannt, seine alte Telefonnummer funktioniert nicht mehr und sein altes Herrschaftsgebiet - jenseits des Kanals, der südlich von Kirkuk als Demarkationslinie heute die kurdischen Milizen vom IS trennt - bleibt vorerst unerreichbar.