Bettina Klein: Sie haben es vielleicht in den Nachrichten heute Früh bei uns schon hören können: Der kurdische Präsident Barsani fordert einmal mehr mehr Hilfe des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Die internationale Gemeinschaft müsse die Unterstützung maximieren, damit die Stadt Kobane nicht bald komplett von der ISIS kontrolliert wird, sagte Barsani der „Bild"-Zeitung heute Früh, und er warnte vor einem drohenden Massaker in der seit Tagen schwer umkämpften Stadt im Norden Syriens. Inzwischen regt sich auch in Washington weiter Kritik am NATO-Partner Türkei, zumindest hinter den Kulissen und in den Kommentaren, denn während die USA den Islamischen Staat attackieren, greift die Türkei offenbar lieber die Kurden-Organisation PKK an. Die Bedrohung durch einen Kurden-Staat an der Grenze scheint gefährlicher aus Sicht Ankaras, als durch den selbsternannten Islamischen Staat. - Michael Werz arbeitet am regierungsnahen Center for American Progress in Washington. Muss man sagen, die USA werden im Augenblick vom NATO-Mitglied Türkei vorgeführt?
Michael Werz: Ich glaube, man muss sich darüber im Klaren sein, dass das, was die Türkei im Moment tut, nicht nur ihren eigenen politischen Interessen widerspricht, sondern natürlich auch hier in Washington erhebliche Unruhe verursacht hat. Die Türkei ist nicht nur ein wichtiger NATO-Partner, sondern auch ein strategischer Alliierter der Vereinigten Staaten, zumindest aus der Perspektive des Weißen Hauses, und was sich aufgebaut hat an politischer Missstimmung und auch Interessenskonflikten über die vergangenen beiden Jahre, kulminiert jetzt in dem Kobane-Konflikt, und man kann davon ausgehen, dass das eine qualitative Veränderung herbeiführen wird in der Beziehung zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten.
Klein: Der Dissens wurde ja nach dem Treffen mit den Generalstabschefs bei Washington zumindest offiziell heruntergespielt. Wie wird das denn hinter den Kulissen diskutiert?
Erstaunen und Ärger
Werz: Es gibt sehr viel Erstaunen und auch Ärger darüber, dass die Türkei nicht nur über die vergangenen zwei Jahre hinweg zumindest stillschweigend zugelassen hat, dass Kämpfer für ISIS durch die Türkei nach Syrien einreisen, sondern mehr noch, dass jetzt die türkische Grenze nach Syrien und nach Kobane blockiert wird, dass nicht einmal oder nur unter erschwerten Bedingungen humanitäre Lieferungen in die Stadt kommen und dass die Türkei auch alles tut, um zu verhindern, dass PKK-Kämpfer durch die Türkei nach Kobane gehen, um ihre kurdischen Verbündeten dort zu unterstützen. Und die Tatsache, dass die Regierung sich jetzt entschlossen hat, Kampfflugzeuge gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, auch wenn einige sagen, das war eher symbolisch und niemand ist bei den Bombardierungen innerhalb der Türkei zu Schaden gekommen, so ist das doch eine Eskalation, die hier viel Unruhe verursacht, denn der Friedensprozess mit den Kurden innerhalb der Türkei steht auf dem Spiel, und jeder, der sich ein wenig mit dem Thema beschäftigt, weiß, dass die Lösung dieses Konfliktes entscheidend ist für die zukünftige Stabilität und Prosperität der gesamten türkischen Gesellschaft.
Klein: Viel Unruhe, sagen Sie. Aber wird Washington das hinnehmen? Sie sprachen von einer neuen Qualität der Beziehungen zwischen Ankara und Washington.
Werz: Das ist mit Sicherheit der Fall. Präsident Obama hat ja sehr viel politisches Kapital investiert in die US-türkischen Beziehungen. Er ist als erster Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten auf der ersten Europareise nach Amtsantritt 2009 auch in die Türkei gefahren, hat dort vor dem Parlament in Ankara eine viel beachtete Rede gehalten und hat dort erklärt, dass die Türkei und die USA längerfristige strategische Partnerschaften aufbauen wollen. Er hat auch sehr viel in die persönliche Beziehung zu damals noch Premierminister Erdogan investiert. Und wenn man sich nun die Summe ansieht dessen, was sozusagen auf der Haben- und auf der Sollseite steht, dann war das für die USA keine Investition, die sich gelohnt hat in dem Sinne, dass dort in der Türkei eine Regierung wirklich auch regionale Verantwortung wahrnimmt und demokratische Reformen weiter vorantreibt. Insofern hat sich das in den letzten Monaten schon verändert. Die Beziehung ist eine des Gebens und Nehmens geworden und damit auch kleinteiliger und weniger freundschaftlich. Und die Tatsache, dass die Türkei sich jetzt zuletzt sogar geweigert hat, die US-amerikanische Militärbasis Incirlik im Osten der Türkei freizugeben für die Syrien- und Irak-Mission, hat hier natürlich auch sehr viel Schulterzucken verursacht, weil das die Kosten und auch den logistischen Aufwand für die Militärmission erheblich in die Höhe treibt.
Klein: Einige Politiker auch hierzulande, gerade von den Grünen zum Beispiel - Claudia Roth hat sich in die Richtung auch bei uns im Programm geäußert - fordern mehr Druck auf Ankara. Aber wenn sich selbst die US-Regierung dazu nicht imstande sieht, wer denn dann?
USA alleine gelassen
Werz: Das ist eine gute Frage. Es ist ja auch so, dass die USA mit der Syrien- und Irak-Mission und dem Kampf gegen ISIS auch von den Europäern in großem Maße allein gelassen werden. Die Tatsache, dass wir hier in Washington zu Recht erklären müssen und gefragt werden, warum die einzigen aktiven Alliierten mit der Ausnahme Großbritanniens Golf-Staaten sind, die nun wirklich nicht durch Transparenz und Demokratieförderung auf sich aufmerksam gemacht haben in den letzten Jahrzehnten, macht die Sache politisch schwieriger für die Vereinigten Staaten. Und die Türkei weiß natürlich auch genau, die AKP-Regierung ist sich darüber im Klaren, dass es hier Meinungsunterschiede beziehungsweise fehlende Solidarität Europas mit den Vereinigten Staaten gibt, und das bringt die Türkei in eine Position, in der sie sich jetzt relativ erfolgreich den Verantwortungen entziehen kann, weil der Druck, der gegenüber Ankara aufgebaut wird, der notwendig ist, nicht von allen Seiten aus gleich stark produziert wird.
Klein: Die Frage von Bodentruppen - die wurden ja bisher ausgeschlossen, auch durch den Präsidenten. Wie wird das im Augenblick diskutiert in den USA? Wer fordert das möglicherweise noch und möglicherweise noch mit Erfolg?
Werz: Das ist sehr schwierig, weil es keine politische Mehrheit, weder in der demokratischen, noch der republikanischen Partei gibt. Alle sind sich darüber im Klaren, dass nach dem Abenteuer im Irak und der militärischen Mission in Afghanistan die Kräfte sowohl politisch als auch finanziell erst einmal erschöpft sind und dass auch die Gemengelage gerade in Syrien so unübersichtlich ist, dass dort die Positionierung westlicher Bodentruppen politisch und militärisch vollkommen unkalkulierbar wäre. Das ist ein Grund mehr, warum die Diskussionen sich hier in Washington auch hin verschieben zu der Frage, welche potenziellen Alliierten und Kooperationsmöglichkeiten gibt es, und da kommen natürlich die einzigen demokratischen und einigermaßen aufgeklärten Kräfte ins Blickfeld, und das sind die kurdische Regierung im Nordirak und die kurdischen Organisationen in Nordsyrien. Das ist einer der Stolpersteine, wo die Türkei wirklich im Wege steht, um diese Diskussion in Gang zu bringen, aber auch hier ist zu sehen, dass es Bewegung gegeben hat in den vergangenen Tagen, und es wird interessant sein zu beobachten, inwieweit sich diese Diskussion verselbständigt und weiterentwickelt.
Klein: Unter dem Strich: Was ist Ihre Prognose? Was ist, wenn Kobane fällt? Strategisch, hören wir jetzt, sei das ja gar nicht so bedeutend. Also dann nur ein Propagandaerfolg für den selbsternannten Islamischen Staat und von daher hinnehmbar?
Versuch, das Problem kleinzureden
Werz: Nein, auf keinen Fall. Wer jetzt plötzlich sagt, Kobane sei strategisch nicht bedeutend, der versucht, das Problem klein zu reden und unter Umständen einem anstehenden Gesichtsverlust des Westens vorwegzugreifen. Kobane ist militärstrategisch bedeutend, weil ISIS zum ersten Mal ein großes Stück Territorium entlang der türkischen Grenze konsolidieren und dann die Kräfte auch auf andere Konfliktfelder lenken könnte, denn ISIS ist ja im Moment gezwungen, einen Zwei-Fronten-Krieg zu führen: einmal gegen die kurdischen Kräfte im Norden Syriens und einmal gegen die Peschmerga und die irakische Armee im Irak. Das würde zu einer Konsolidierung der Kräfte führen und zu einer militärischen Stärkung von ISIS.
Der zweite Punkt ist, dass ISIS dann einige hundert Kilometer türkisch-syrischer Grenze kontrollieren würde. Das heißt, eine terroristische Organisation wäre ein Nachbar von einem NATO-Mitgliedsstaat und an den Außengrenzen der NATO stark positioniert. Und zum dritten: Ein Propagandaerfolg ist nicht nur eine abstrakte Angelegenheit, sondern wäre natürlich auch ein ungeheures Mobilisierungsinstrumentarium für ISIS, was weltweite Ausstrahlung hätte, denn mit dem Fall Kobanes würde die einzige militärisch erfolgreiche Organisation, nämlich die kurdische YPG, zurückgeschlagen, einschließlich der westlichen Hilfe, die sie jetzt erfahren. Man kann überhaupt nicht einschätzen, was das bedeuten würde für Mobilisierungskapazitäten innerhalb des islamistischen Lagers.
Der zweite Punkt ist, dass ISIS dann einige hundert Kilometer türkisch-syrischer Grenze kontrollieren würde. Das heißt, eine terroristische Organisation wäre ein Nachbar von einem NATO-Mitgliedsstaat und an den Außengrenzen der NATO stark positioniert. Und zum dritten: Ein Propagandaerfolg ist nicht nur eine abstrakte Angelegenheit, sondern wäre natürlich auch ein ungeheures Mobilisierungsinstrumentarium für ISIS, was weltweite Ausstrahlung hätte, denn mit dem Fall Kobanes würde die einzige militärisch erfolgreiche Organisation, nämlich die kurdische YPG, zurückgeschlagen, einschließlich der westlichen Hilfe, die sie jetzt erfahren. Man kann überhaupt nicht einschätzen, was das bedeuten würde für Mobilisierungskapazitäten innerhalb des islamistischen Lagers.
Klein: Die Einschätzung von Michael Werz, Senior Fellow am Center for American Progress. Wir haben ihn vor der Sendung in Washington erreicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.