Maja Ellmenreich: Rassismus- und MeToo-Vorwürfe häufen sich – auch an deutschen Kulturinstitutionen, die jüngsten Fälle etwa am Schauspiel Düsseldorf und am Staatsballett Berlin. Schiedsgerichte und Vertrauensstellen werden einbezogen, doch die eine Wahrheit ist nicht auszumachen. Nicht selten steht am Ende ein Vergleich.
Wenn eine Tänzerin einer Ballettmeisterin Rassismus vorwirft, wie am Staatsballett in Berlin, die Ballettmeisterin das aber bestreitet: Bei wem liegt nun die Deutungshoheit? Wer definiert, wann es sich um Rassismus handelt?
Aladin El-Mafaalani: Das ist eine Frage, die schon zwei Schritte übersprungen hat. Eigentlich muss man jetzt fragen: warum konnte es überhaupt so weit kommen? Denn da scheinen ja im Prinzip keinerlei Stufen eingebaut zu sein oder im Prinzip eine offene Kultur, Dinge anzusprechen, bestimmte Klarheiten, an wen richtet man sich, wenn so was passiert, wie versucht man dann, über Workshops oder sonst was Dinge zu regeln.
Präventiv handeln, souverän reagieren
Im Kulturbereich im Schauspielhaus Dortmund hat beispielsweise die neue Intendantin Julia Wissert das in die Verträge reingeschrieben - die sogenannte "Rassismusklausel" bezieht sich aber auch auf alle anderen Diskriminierungsformen. Dass man praktisch transparent macht, was passiert eigentlich, wenn jemand sich nicht korrekt behandelt fühlt, dass es dafür Regelwerke gibt und dass man gar nicht erst so weit kommt, zu einer Situation, wo Aussage gegen Aussage steht, man schon nicht mal miteinander redet und im Prinzip die Führungsebene sich gedrängt fühlt, jetzt zu entscheiden, wem sie eher glaubt.
Das ist eine total ungünstige Situation, wäre es auch in jedem anderen Bereich, unabhängig von Rassismus. Dafür muss man eben eine konzeptionelle Überlegung einbauen, die sehr wissensbasiert ist - mit Kompetenzen, mit Ansprechpartnern, transparenten Regeln, damit man eben nicht hektisch und aktionistisch handelt; wenn man direkt über Schiedsgerichte gehen muss und Menschen suspendieren muss und so weiter, dann ist das kein souveräner Umgang mit Rassismus.
Rassismus in Kulturinstitionen zu lange ignoriert
Ellmenreich: Ist das also ein Zeichen von Hilflosigkeit noch, denn man könnte ja meinen, Schiedsgerichte und Vertrauensstellen einzurichten, das ist eigentlich ein konstruktives Mittel, um gegen Rassismus vorzugehen.
El-Mafaalani: Ja, da ist schon mal besser, als so was nicht zu haben, aber Hilflosigkeit passt vielleicht noch nicht ganz, sondern einfach Unerfahrenheit, die im Übrigen gerade in solchen Institutionen, Kultur und Hochkultur und Institutionen, die ja sozusagen den Habitus haben, bessere Menschen zu sein, also außerhalb von Kapitalismus, Rassismus, Sexismus zu stehen, über den Dingen zu stehen.
Das ist ja tatsächlich so eine Aura, die Kulturinstitutionen von sich selber haben, und die Wahrheit ist, dass struktureller Rassismus gerade deshalb struktureller Rassismus heißt, weil er überall ist: in allen Institution findet man den. Und je stärker man glaubt, man selber ist nicht betroffen, und je stärker man glaubt, bei uns haben wir das Problem nicht, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich der Rassismus dort Bahn bricht.
Dementsprechend würde ich sagen: einfach zu lange hat man das Thema nicht bearbeitet, geglaubt, dass man frei davon wäre, und jetzt hat einen das eingeholt oder überholt, und man muss jetzt ziemlich schnell nachholen.
Einzelfälle nicht skandalisieren
Im Prinzip würde ich sagen, Unerfahrenheit, Unwissenheit und natürlich das gesamtgesellschaftliche Klima, das merken jetzt genau solche Institutionen, die zu lange nichts getan haben, dass alle erwarten, dass man das Thema in Angriff nimmt. Und deswegen handelt man manchmal zu schnell, zu hektisch und auch manchmal tatsächlich, bevor man überhaupt richtig klar hat, was eigentlich passiert ist. Und präventive Maßnahmen, da sind wir ja noch ganz weit von entfernt, dass wir sozusagen davon ausgehen können, dass so eine Institution so souverän mit dem Thema umgeht, dass es die Themen anspricht, bevor sie passieren. Dieses Jahrzehnt, die 20er-Jahre, wird in diesem Zeichen steht, was rassismuskritische Arbeit geht, dass all die Institutionen das aufholen.
Ellmenreich: Sie plädieren also für Souveränität, Sie plädieren für Gelassenheit, auch in Ihrem Buch, und Sie plädieren gegen Skandalisierung. Müssen wir jetzt sozusagen diesen Weg erst mal gemeinsam gehen, in dem vielleicht der ein oder andere Irrläufer bei so einem Prozess sich ereignet, bevor diese Gelassenheit, bevor diese Souveränität sich einstellen kann?
El-Mafaalani: Ganz sicher, ganz sicher ist das so. Erst mal werden jetzt ganz viele Fehler gemacht, und die werden an allen möglichen Stellen gemacht, und manchmal werden die gleichen Fehler mehrmals gemacht, und man wird feststellen, dass es überhaupt nichts hilft zu glauben, man hätte mit dem Thema nichts zu tun, sondern ganz im Gegenteil.
Gelassen bleiben, Veränderungen anstoßen
Ich plädiere auch in meinem Buch dafür, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und sich zu freuen, wenn rassistische Dinge in der eigenen Institution zur Sprache kommen. Da sollte man sich freuen, so wie wenn man etwas gefunden hat, ein Problem gefunden hat, von dem man wusste, dass es da ist, und es endlich findet, weil man dann es ansprechen kann, thematisieren kann und es als Lerngelegenheit parat hat. Das klappt aber natürlich nur, wenn wir nicht jeden Einzelfall skandalisieren und es moralisch völlig überladen, denn wenn wir das so tun, wird es immer Abwehrreaktionen geben, dann lernt man nicht. Und das meine ich mit Gelassenheit – Gelassenheit nicht, weil das nicht schlimm wäre das Thema, sondern Gelassenheit, weil wir nur dann, wenn wir uns klarmachen, dass es ein strukturelles Problem ist, was überall ist, nur dann lernen wir.
Rassismus ist wie Asbest
Ich vergleiche es gerne mit Asbestverseuchung von Gebäuden. Würden wir jedes Mal in Tränen ausbrechen, wenn wir wieder Asbest irgendwo finden, da kommen wir doch nicht weiter, sondern ganz im Gegenteil, wir müssen Asbest suchen. Rassismus ist so ähnlich wie Asbest: Es macht krank, man sieht ihn häufig nicht, wenn man nicht nach sucht, man muss aktiv danach suchen. Immer wenn wir finden, sollten wir uns freuen, und dann sagen, so, was machen wir jetzt, wie können wir das konstruktiv bewältigen, immer mit dem Bewusstsein, das ist etwas, was Menschen voneinander dividiert, krank macht, einfach negativ ist, aber überall existent. Und dann lohnt es sich einfach gar nicht, jedes Mal sich zu empören, sondern jede Gelegenheit zu nutzen, zu lernen. Das ist es eigentlich.
Ellmenreich: Also aus einer oberen Warte verstehe ich Sie richtig, dass die Freude darüber bestehen soll, dass man wieder einen Fall hat, nur der kann einen weiterbringen, aber Freude einem Opfer von Rassismus anzuraten, ist wahrscheinlich der falsche Weg, oder?
El-Mafaalani: Eine betroffene, eine negativ betroffene Person wird sich tatsächlich auch freuen heutzutage, wenn sie erlebt, dass das, was sie schildert, erstens nicht sofort abgelehnt wird – "stimmt ja gar nicht so" oder "du bist zu empfindlich" oder "was hast du denn getan" sind so ganz typische Antworten in allen möglichen Institutionen, von der Schule eben bis zu Theaterhäusern.
Zweitens, wenn man mitkriegt: aha, das wird ernst genommen und sofort wird gehandelt, und zwar nicht entlassen, suspendieren, solche ganz harten Maßnahmen, sondern nein: wir wollen jetzt alle daraus lernen, wie kann man es besser machen, Austausch, Workshops und so weiter und so fort. Und dann auf Grundlage dessen, dass ich als betroffene Person etwas äußere, merke ich, dass es nachhaltige Veränderungen in einer Organisation gibt – entschuldigung, ich bin mir ganz sicher, dass die Betroffenen sich dann auch freuen.
Rassistische Denkmuster abtrainieren erfordert Zeit
Ellmenreich: Nun haben wir zwei Seiten, wir haben auf der einen Seite diejenigen, die Rassismus, wie sagt man, ausagiert haben, ohne es gewollt zu haben womöglich, die, die es erlitten haben. Müssen beide Seiten eigentlich diese Gelassenheit an den Tag legen, also auch diejenigen, die es gemacht haben? Die müssen auch zu dem Schluss kommen und sagen, okay, ich stehe dazu, auch wenn es nicht so gemeint war.
El-Mafaalani: Es stimmt schon, vielleicht ist der Begriff Gelassenheit nicht aus jeder Perspektive der richtige, aber das, was man tatsächlich braucht, ist aufseiten der Betroffenen, aufseiten der Führungskräfte und der Entscheider und aufseiten der, in Anführungsstrichen, "Täter" die Perspektive, dass das, was wir gerade thematisieren, etwas ist, was Jahrhunderte alt ist. Es ist nichts, was jetzt gerade passiert, es ist nichts, was jetzt gerade begriffen werden kann als persönliches Defizit, sondern das ist etwas, das ist eine Jahrhunderte alte Geschichte, das ist ein strukturelles Problem.
Alle sollten es als Lernanlass nehmen, und das bedeutet natürlich dann auch, dass diejenigen, die das sozusagen verursacht haben einen bestimmten Fall, es zum Anlass nehmen sollten, das noch mal zu reflektieren. Ich erinnere daran, und das fand ich ja sehr interessant, auch wenn es kritisch gesehen wurde, aber so jemand wie Thomas Gottschalk, der in einer Fernsehsendung Dinge gesagt hat, die heute einfach so aus rassismuskritischer Perspektive nicht mehr gehen – also er hat sich nicht direkt entschuldigt, aber gesagt, dass sein Denken im letzten Jahrhundert entstanden ist und offenbar nicht mehr zeitgemäß ist, und deswegen überdenkt er das. Also das ist ein wirklich älterer Herr, Thomas Gottschalk, der auch so sehr eine Koryphäe ist, der das nicht hätte machen müssen, und das finde ich gar nicht so eine verkehrte Perspektive. Auch wenn es dem einen oder der anderen nicht gereicht hat, würde ich sagen, ist das schon mal ein überdurchschnittlich konstruktiver Umgang damit.
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani forscht über Rassismus, Diskriminierung und soziale Ungleichheit; er hat an der Universität Osnabrück den Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft inne – und ist Autor des Buches "Wozu Rassismus?"
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