"Liebe Freundinnen und Freunde! Danke, dass ihr alle da seid heute." Cetin Gültekin, der Bruder des am 19. Februar 2020 ermordeten Gökhan, begrüßt zum Jahreswechsel rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Kundgebung in Hanau-Kesselstadt. Nicht weit entfernt steht der Kiosk, in dem fünf Menschen nach dem rechtsterroristischen Anschlag starben. Am Ende waren elf Menschen tot.
"Ehrlich gesagt, frage ich mich, warum wir heute eigentlich hier stehen müssen. Warum sich zehn Monate nach dem rassistischen Anschlag eigentlich nichts geändert hat."
Organisiert hat die Veranstaltung etwas mehr als zehn Monate nach den Morden von Hanau die Initiative 19. Februar. In dieser Gruppe treffen sich seit dem Attentat Angehörige der Opfer und antirassistische Aktivistinnen und Aktivisten, um immer wieder vollständige Aufklärung zum Attentat zu fordern. Die Kundgebung vor wenigen Tagen sollte insbesondere auf den Vater des Attentäters aufmerksam machen.
Pieter Minnemann hat den Anschlag am 19. Februar 2020 überlebt und wohnt weiterhin in Hanau-Kesselstadt: "Wir sind heute hier zusammengekommen, weil der Vater des Rechtsterroristen seit mindestens April 2020 bis September 2020 immer noch rassistische Anzeigen stellt, das Gedankengut seines Sohnes vertritt. Er fordert Munition und Waffen. Und er meint, sein Sohn wäre das Opfer des Anschlags gewesen. Das macht uns Angst."
Angst im Stadtteil
Erst kurz vor Weihnachten hatte "Der Spiegel" berichtet, dass der Vater des Attentäters sich seit Monaten in Schreiben an Behörden rassistisch äußert, Drohungen ausspricht und auch die Waffen zurückverlangt, die sein Sohn in der Februar-Mordnacht benutzt hatte.
Newroz Duman von der Hanauer Initiative 19. Februar appelliert an die hessischen Sicherheitsbehörden, den Fall ernst zu nehmen: "Wir wissen alle in Hanau nur zu gut, dass ein Rassist von Ermittlungsbehörden nicht ernst genommen wurde und das nicht ernst nehmen und nicht hingucken, dazu geführt hat, dass junge Menschen ermordet wurden. Und seit April wissen die Ermittlungsbehörden, wir nicht, wir erst jetzt, dass der Vater genauso tickt wie der Sohn."
Vor allem im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, wo der Mann lebt, herrscht nun Angst. Darauf macht Cetin Gültekin über den Lautsprecher aufmerksam: "Warum ist es unsere Aufgabe, dass wir nach Bekanntgabe von 'Spiegel online' Konsequenzen ziehen müssen? Warum ziehen die Behörden und vor allem die Polizei keine Konsequenzen?"
Der Bruder des Mordopfers vom 19. Februar fordert vor allem, dass dem Vater des Täters nach seiner öffentlichen Forderung nach Waffen nun der Führerschein entzogen wird, damit die Nachbarn nicht weiterhin in Angst leben müssen: "Wir haben auch gesehen, was man mit Autos machen kann. Nizza. Breitscheidplatz. Volkmarsen. Trier. Wir haben Angst, dass er mit einem Auto durch die Gegend fährt."
Ein Polizeisprecher reagiert am Rande der Kundgebung. Er erklärt: Bis auf Polizeipräsenz vor dem Haus des Mannes gebe es im Augenblick keine rechtliche Handhabe, gegen ihn vorzugehen: "Wir nehmen für jede Situation eine sogenannte Gefährdungslagensituation vor. Das heißt, wir prüfen alle Fakten, die uns vorliegen. Alle Situationen, die uns bekannt sind und danach bewerten wir, welche Maßnahmen getroffen werden müssen und welche Maßnahmen wir treffen."
Nach Psychiatrie-Aufenthalt zurück
Diese Aussage beruhigt viele Menschen vor allem in Hanau-Kesselstadt nicht. Sie sehen zwar die Polizeipräsenz vor dem Haus des Attentäters, in dem der Vater nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie wieder lebt. Doch die Sorgen bleiben: "Allein schon, dass er die Waffen und die Munition zurückhaben will, deutet auf die Ideologie, die er da verbreitet hat oder was er mit seinem Sohn teilt oder geteilt hat. In meinen Augen und in meiner Denkweise ist dieser Mann gesundheitlich eine Gefahr für die Bevölkerung."
Auch Newroz Duman von der Initiative 19. Februar macht noch einmal über den Lautsprecher deutlich, dass rassistische Gewalt nicht nur ein Hanauer Problem ist. Sie schlägt den Bogen von der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor knapp zwei Jahren bis heute: "Kassel. Wächtersbach. Halle. Hanau. Von Rassisten, von Rassisten, die bekannt sind."
Dann bricht Newroz Duman vorerst die Stimme. Doch sie wird sie wiederfinden. Denn die Initiative 19. Februar in Hanau wird weiter kämpfen – gegen Rassismus. Nicht nur in der eigenen Stadt.
"Die rassistische Minderheit, die außer sich selbst alles andere auf dieser Welt hasst, muss entwaffnet werden. Nazis raus aus Ämtern, Behörden, Institutionen, Parlamenten, Bundeswehr und Polizei. Wir warten nicht auf den nächsten Anschlag!"