Sandra Schulz: Fast 100.000 Menschen haben in diesem Jahr Italien erreicht. Das sind Zahlen des italienischen Innenministeriums. Die meisten der Flüchtlinge erreichen Italien von Libyen aus übers Mittelmeer. Wir wissen, dass Tausende ihr Leben beim Versuch der Flucht übers Mittelmeer verlieren, auch wenn wir keine genauen Zahlen kennen. Der europäisch-afrikanische Gipfel zur Flüchtlingspolitik heute in Paris, der will versuchen, Antworten zu geben auf die Flüchtlingsfrage.
Wir können in den kommenden Minuten noch weiter über das Thema sprechen. Am Telefon ist Michael Gahler von der CDU, im Europäischen Parlament Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Schönen guten Tag.
Michael Gahler: Guten Tag, Frau Schulz.
"Beschlüsse gebe es viele - jetzt gehörten sie umgesetzt"
Schulz: Es soll jetzt gehen um Verabredungen mit Libyen, mit Niger, mit dem Tschad. Wenn wir auf das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei schauen, das ja im vergangenen Jahr geschlossen wurde, dann ist die Türkei in der Flüchtlingsfrage noch nicht ausreichend kompliziert, brauchen wir da noch kompliziertere Partner?
Gahler: Wir können uns die Partner nicht aussuchen. Wir haben mit der Türkei das Abkommen geschlossen. Das funktioniert bis jetzt. Und wir müssen schauen, was mit der libyschen Regierung möglich ist. Beschlusslagen gibt es ja schon spätestens seit November 2015, seitens der Kommission einen Treuhandfonds für Afrika aufzulegen, 2,6 Milliarden sind da drin, und die Mitgliedsstaaten sollen beitragen. Es gibt auch einen Gipfel vom Februar diesen Jahres, wo es darum ging, Maßnahmen zur Senkung der Zahl der Überfahrten zu ergreifen, Intensivierung des Kampfes gegen Schleuser und so weiter. Ich denke, wichtig ist zunächst, dass wir auf der einen Seite das Geschäftsmodell der Schleuser beenden. Das ist ja auch in der Türkei erfolgreich gewesen. Das heißt, wenn die Flüchtlinge wissen, dass es sich nicht lohnt, aufs Wasser zu gehen, werden sie den Schleusern kein Geld bezahlen.
Und parallel dazu müssen wir das mit dem Programm, was mit Libyen bereits vereinbart ist seit Ende Juli, ein 46-Millionen-Programm für integriertes Migrations- und Grenzmanagement, das muss jetzt umgesetzt werden. Und ganz wichtig – das ist auch angesprochen worden vom Kollegen eben -, wir müssen uns dafür einsetzen, dass der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen die "Verwaltung" dieser Lager übernimmt, denn in der Tat: Die menschliche, die humanitäre Lage dort ist schrecklich und deswegen müssen dort die Vereinten Nationen auch mit finanzieller Unterstützung sicherlich der Europäischen Union dort diese Lager übernehmen.
Mittel zur Stärkung von Küstenwache und Grenzschutz
Schulz: Was soll denn genau mit dem Geld passieren, das in die Staaten fließen soll? Die Kanzlerin hat gestern von einer Größenordnung von 150 Millionen gesprochen. Was genau soll damit passieren?
Gahler: Es geht zum Beispiel um die Stärkung der operativen Kapazitäten der libyschen Küstenwache. Es geht um die Einrichtung grundlegender Kapazitäten zur besseren Organisation auch dieser Maßnahmen, die zu ergreifen sind. Wir machen Machbarkeitsstudien für zwei voll ausgestattete Kontrolleinrichtungen in Tripolis, und es geht auch darum, an der südlichen Grenze Libyens dort die operativen Kapazitäten des dortigen Grenzschutzes zu prüfen, und dazu sind ja dann auch die südlichen Nachbarn Niger und Tschad eingeladen, um dort einfach, ich sage mal, Staatlichkeit herzustellen.
EU stelle 1,6 Milliarden bereit, Mitglieder müssten aufstocken
Schulz: Herr Gahler, wird das denn mit 150 Millionen Euro zu machen sein?
Gahler: Natürlich nicht. Das ist erst mal auch ein Beitrag, der zu Beginn veranschlagt wird, aber das ist ja Teil auch unter anderem dieses Afrika-Treuhandfonds, der eingerichtet worden ist. Wie gesagt, die Kommission, wir haben von europäischen Mitteln 2,6 Milliarden zur Verfügung gestellt. Die Mitgliedsstaaten, die sich eigentlich auch schon im November 2015 verpflichtet haben, haben bisher überhaupt erst 90 Millionen Zahlungen da geleistet. Wir sind im EU-Budget alleine natürlich überfordert. Die Mitgliedsstaaten müssen ihren Beitrag leisten. Wer nicht will, dass so viele Menschen kommen, der muss dann den anderen Schritt gehen und dann auch dafür zahlen, das ist nämlich im Verhältnis dann effektiver, dass vor Ort geleistet wird. Das Eine ist, was sofort zu tun ist, zum Beispiel die Kapazitäten des Grenzschutzes zu erhöhen, auf der anderen Seite die langfristigen Planungen, um den Menschen zu Hause Perspektiven zu geben.
Zahl der Überfahrten sinke - zum Teil allerdings durch Milizen
Schulz: Wir haben jetzt auch die Situation erlebt, dass der Druck, der ja angeblich wachsende Druck auf die Schlepperbanden, dass die den teilweise eins zu eins weitergeben an die Menschen, die die Flucht wagen. Wir haben schon lange die Situation, dass die Menschen teilweise ausgesetzt werden auf dem Mittelmeer. Wir hatten jetzt auch den Fall, in dem Flüchtlinge gezwungen wurden, ins Wasser zu springen. Wir haben Fälle, in denen Zeugen schildern, dass Flüchtlinge in der Sahara ausgesetzt werden. Was spricht dafür, dass diese Formel, über die wir schon so lange sprechen, der Kampf gegen Schlepperbanden, dass der in irgendeiner Form den Menschen, die da jetzt auf der Flucht sind, schon ansatzweise geholfen hat?
Gahler: Die Tatsache, dass jetzt deutlich weniger Menschen im August, in diesem abgelaufenen Monat, 90 Prozent weniger als im vergangenen Jahr im August aufs Wasser gegangen sind – wer nicht aufs Wasser geht, der kann auch da nicht umkommen, um es mal so zu formulieren -, das ist der eine Schritt. Aber es muss begleitet werden von effektiven Präsenzen von Hilfsorganisationen, am besten der Vereinten Nationen, der Flüchtlingskommissar, damit dort zum Beispiel in einer Stadt wie Sabrata – das ist in der Nähe von Tripolis -, wo offenbar jetzt sehr viel weniger kommen, weil dort eine örtliche andere Miliz jetzt offenbar die Kontrolle übernommen hat, das kann nicht das Endstadium sein. Es muss dafür gesorgt werden, dass die internationale Präsenz da ist. Die Flüchtlinge wissen, dass sie nicht mehr weiterkommen, dass sie dort vielleicht auch von Libyern abgefangen werden, und von daher ist ein Teil bereits im Gange, nämlich dass das Geschäftsmodell so nicht mehr funktioniert.
Im Dilemma zwischen Kapazität und Humanität
Schulz: Da würde ich noch mal gerne weiter genauer wissen: Wir haben die Situation ja auch, dass sich die Flüchtlingsorganisationen, die Hilfsorganisationen teilweise zurückziehen, weil die selbst sagen, das ist da so gefährlich und wir haben teilweise auch die Angriffe von libyschen Sicherheitskräften. Mit dem Land wollen Sie jetzt aber zusammenarbeiten und da soll auch Geld hinfließen?
Gahler: Wir sind in einem Dilemma. Wir wissen, dass wir nicht alle Flüchtlinge, die aus wirtschaftlichen Gründen – und gerade aus Afrika sind es vor allen Dingen wirtschaftliche Gründe -, wir können nicht alle Menschen in Europa aufnehmen. Wir können aber auch das Leid auf See und das Geschäftsmodell der Schleuser nicht akzeptieren, und wir müssen vorübergehend mit der Situation in Libyen umgehen. Wir helfen ja dieser Regierung, eigene Kapazitäten einzurichten, und wir wollen am Ende auch eine internationale Präsenz dort haben, damit etwa eine Situation, wie sie für Flüchtlinge in der Türkei besteht – die ist eine geordnete Situation, da wird verwaltet, da wird ernährt, da wird beschult -, das ist eine Situation, wo wir hinkommen müssen. Da sind wir noch nicht, aber die Situation einfach laufen zu lassen und dann bisher da auch Italien ziemlich allein zu lassen, das ist auch kein Ausweg für die Zukunft.
Der Anwurf der Hartherzigkeit sei falsch
Schulz: Dann erklären Sie mir noch, warum die Zuspitzung und der Vorwurf, der von der Opposition kommt, wir wollen uns oder Europa will sich mit seiner Politik letzten Endes die Menschen vom Hals halten – wenn Sie das jetzt gerade so sagen, es können nun mal nicht alle kommen -, was ist an dem Vorwurf und dieser Zuspitzung denn dann eigentlich falsch?
Gahler: Es ist falsch, glaube ich, die Absicht, uns zu unterstellen, wir wären hartherzig oder wir wären unverantwortlich. Nein, ich glaube, wir müssen unsere Verantwortung annehmen, sowohl was das Kurzfristige betrifft, aber auch – und das sage ich als jemand, der sich sehr lange mit Afrika befasst; ich war letzte Woche in Kamerun, habe dort mit den Spitzen des Panafrikanischen Parlaments auch darüber geredet - wir wissen, dass wir gemeinsam langfristig Strategien anlegen müssen, damit die Menschen in Afrika Zukunft haben. Das muss parallel jetzt angegangen werden, neben den Dingen, die im Flüchtlingsbereich kurzfristig zu tun sind.
"Die Rettungsmaßnahmen gehen ja auch weiter"
Schulz: Und so lange ertrinken im Mittelmeer Menschen und dagegen kann man jetzt kurzfristig nichts machen.
Gahler: Nein! Die Rettungsmaßnahmen gehen ja auch weiter. Es ist ja nicht so, dass unsere Mission Sofia – das ist die Marine-Mission der Europäischen Union -, dass die nicht mehr da wäre. Aber wie ich bereits sagte: Im August sind 90 Prozent weniger Menschen bereits auf See gegangen. Ich will nicht, dass die Menschen ertrinken, und wenn man im ersten Schritt dafür sorgt, dass sie erst gar nicht auf See gehen, dann sind wir da schon einen Schritt weiter, und die anderen Maßnahmen müssen dann auch an Land greifen.
Schulz: Der CDU-Politiker Michael Gahler, im Auswärtigen Ausschuss im Europäischen Parlament und heute Mittag bei uns hier im Deutschlandfunk im Interview. Ganz herzlichen Dank dafür.
Gahler: Bitte sehr.
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