Frankreich könne zwar das in der Charta der Vereinten Nationen verbriefte Notwehrrecht für sich beanspruchen - aber der Beistand Deutschlands sei damit längst noch nicht legitimiert, betonte der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel im Interview mit dem Deutschlandfunk. Das Hauptproblem sei nämlich, dass Frankreich gegenwärtig überhaupt nicht angegriffen werde, die Anschläge von Paris seien vergangen. Und auch zukünftige Bedrohungslagen seien für die Bundesrepublik nicht ausreichend, ihre Unterstützung Frankreichs legitimieren zu können. Präventive Militärschläge seien vielmehr eine Gefahr für den Weltfrieden.
Das zurückliegende Engagement westlicher Staaten in Syrien hält der Rechtsphilosoph generell für fragwürdig. Syrien sei nach wie vor ein souveräner Staat, noch dazu Mitglied der Vereinten Nationen. Und deren Charta untersagt ausdrücklich die Unterstützung bewaffneter Aufstände in einem Land.
Das Interview mit Reinhard Merkel in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Der Bundestag hat gestern mit großer Mehrheit eindeutig entschieden, ja, die Bundeswehr wird sich am Syrien-Einsatz beteiligen, zumindest so, wie die Bundesregierung es vorgeschlagen hat. Die Debatte war heftig, das haben wir gestern gehört, und darüber haben wir berichtet. Wir wollen heute nachfragen, wie ist denn eigentlich die juristische Sicht auf diese Entscheidung, und was haben wir da zu erwarten? Das wollen wir tun mit Reinhard Merkel, er ist Strafrechtler aus Hamburg, gleichzeitig Mitglied des Deutschen Ethikrates. Zunächst einmal guten Morgen, Herr Professor Merkel!
Reinhard Merkel: Guten Morgen!
Zurheide: Fangen wir an mit der großen Mehrheit. Große Mehrheit heißt eigentlich immer große Legitimation, muss es aber nicht unbedingt bedeuten. Große Mehrheit kann manchmal auch schwach legitimiert bedeuten, oder?
Merkel: Ja, so kann man das sagen. Zuletzt wird man die Legitimation aus den dafür zuständigen Rechtsnormen beziehen. Das ist sozusagen eine Interaktion von völkerrechtlichen Grundlagen und verfassungsrechtlichen Grundlagen bei uns. Dazu kommt noch der in Bezug genommene Artikel 42 Absatz 7 des sogenannten Lissabon-Vertrags, der innerhalb der EU zwischen den Staaten eine bestimmte Art Solidarität bei äußeren Bedrohungen formuliert.
"Sicherheitsratsbeschluss autorisiert Anwendung militärischer Gewalt in Syrien nicht"
Zurheide: Dann lassen Sie uns das versuchen. Wenn das Verfassungsgericht entscheiden muss, was ja vermutlich so sein wird, welche Güterabwägungen stehen dann auf der Tagesordnung?
Merkel: Das Verfassungsgericht hätte sich auf jeden Fall anzusehen, wie die völkerrechtliche Legitimationsgrundlage für die Gewaltanwendung ist in Syrien. Denn Syrien ist zwar ein Bürgerkriegsstaat, wenn man das so nennen will – es ist nicht nur ein Bürgerkrieg –, aber es ist nach wie vor ein souveräner Staat, ein Mitglied der UNO. Daher braucht man die im Völkerrecht dafür einschlägigen Grundlagen, die Gewalt legitimieren.
Ein Sicherheitsratsbeschluss existiert, der allerdings – und da sind sich eigentlich alle einig gewesen –, der ist vor zwei Wochen ergangen im Sicherheitsrat, der allerdings eine Anwendung militärischer Gewalt in Syrien nicht autorisiert. Da muss man sozusagen mit einem genauen Blick hingucken. Aber das ist eigentlich Konsens unter Völkerrechtlern, dass die notwendige Bezugnahme des Sicherheitsrats auf die Normen, die ihn selbst zur Gewaltanwendung autorisieren, und zur Autorisierung von Staaten zur Gewaltanwendung, dass die ausdrücklich in der Resolution nicht in Bezug genommen wurden.
Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass der Sicherheitsrat nichts weiter gesagt hat als: Im Rahmen der geltenden Völkerrechtsordnung könnt ihr sehen, wie ihr euch gegen den Terrorismus verteidigt. Ich, der Sicherheitsrat, liefere euch keine ausdrückliche Autorisierung dafür. Und da gibt es eine zweite Norm, das ist der Artikel 51 der UN-Charta, salopp formuliert, das Notwehrrecht von Staaten.
Staaten, die Ziel eines bewaffneten Angriffs sind, dürfen sich natürlich unmittelbar selbst verteidigen, ohne Einschaltung des Sicherheitsrats, und denen darf von dritten Staaten geholfen werden. Und das ist sozusagen der Kern der Materie, der normativen, also der Materie der Rechtsnormen, die zugrunde liegen diesem Beschluss jetzt des Bundestags.
Der Bundestag selbst sagt dann, beziehungsweise die Bundesregierung hat zunächst gesagt, wir sind im Rahmen von Artikel 42 Absatz 7 des Lissabon-Vertrags verpflichtet, den Franzosen zu helfen. Und dieser Artikel des Lissabon-Vertrags nimmt ausdrücklich Bezug auf das Notwehrrecht der Staaten in der UNO-Charta, von dem ich eben geredet habe. Und so verknüpfen sich diese Normen. Der zentrale Punkt ist: Gibt es in dieser Situation ein Selbstverteidigungsrecht Frankreichs mit militärischer Gewalt, und dann über Artikel 42 Absatz 7 eine gewisse Verpflichtung der Bundesrepublik, zu helfen?
Legitimationsgrundlage für russisches Eingreifen in Syrien
Zurheide: Übrigens mal die Klammer auf: Das russische Eingreifen ist, wenn ich Ihnen folge, eher legitimiert, weil immerhin die Syrer die Russen gebeten haben oder Putin dafür gesorgt hat, dass er gebeten wurde.
Merkel: Richtig. Das ist die dritte Möglichkeit, so etwas zu legitimieren. Wenn in einem Staat unzweifelhaft ein militärischer Konflikt herrscht wie in Syrien – ob der innerstaatlich oder sozusagen zwischenstaatlich ist, spielt dafür keine Rolle –, und die zuständige Regierung bittet andere Regierungen, ihr militärisch zu helfen, dann ist das eine Legitimationsgrundlage, und das ist die, auf deren Basis Russland in Syrien agiert.
Zurheide: Ich will Sie noch etwas anderes fragen ...
Merkel: Aber ich habe, wenn ich das vielleicht noch dazu sage, ich habe jetzt noch nichts gesagt, wie das eigentlich in der Sache zu beurteilen ist. Ich habe die Normen genannt, die herangezogen werden. Aber, um ehrlich zu sein, die Deckungsgrundlage ist sehr, sehr dünn.
Zurheide: Das ist ja, was einige Verfassungsrechtler inzwischen schon gesagt haben. Also wagen wir dann die Prognose – wir wissen das alle, vor Gericht und auf hoher See ist es ja immer schwierig, so was zu machen, aber dann will ich Sie doch gern verleiten. Bitte schön.
Merkel: Das Hauptproblem scheint mir nicht zu sein – das ist im Bundestag zwar intensiv erörtert worden – ob man von einem bewaffneten Angriff im Sinne des Artikels 51 der UN-Charta sprechen kann, wenn die Attacke eine Terrorattacke einer sozusagen privaten terroristischen Vereinigung gewesen ist. Das war früher ganz ausgeschlossen. Immer mussten das Staaten sein. Aber seit dem 11. September 2001 wird im Völkerrecht anerkannt, dass in bestimmten Dimensionen vorgenommene Terrorattacken einem bewaffneten Angriff gleichstehen müssen.
Nun ist natürlich das Urbild, an dem man das sozusagen modellhaft ablesen kann, der Angriff des 11. Septembers 2001 mit immerhin 3.000 Toten, und nicht mit 140 wie in Paris, so scheußlich diese Taten in Paris auch waren. Aber das wird man vielleicht noch bejahen können. Ich würde sozusagen sagen, ja, das können Völkerrechtler noch unter den Artikel 51 ziehen. Man spricht dann von einem bewaffneten Angriff.
"Präventives Notwehrrecht ist eines riesige Gefahr für den Frieden der Welt"
Aber das ist nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem kam seltsam wenig zur Sprache in der Bundestagsdiskussion: Ist denn dieser Angriff gegen Frankreich noch gegenwärtig? Das bedeutet, dass das Völkerrecht Staaten ein Recht zum Krieg ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat nur in einem engen Rahmen einräumt, wenn sie gegenwärtig Ziele von bewaffneten Angriffen sind, nicht von vergangenen terroristischen Taten, und nicht bedroht nur von zukünftigen Gefahren, deren Realisierung noch nicht genau absehbar ist.
Nur was gegenwärtig, also akut an Angriffen läuft und was erkennbar ganz unmittelbar bevorsteht, reicht aus, um das Selbstverteidigungsrecht der Staaten auszulösen. Dafür gibt es gute Gründe. Ein präventives Notwehrrecht, wie die Regierung Bush das 2003 im Irak für sich in Anspruch genommen hat, ist eine riesige Gefahr für den Frieden der Welt. Und ich glaube, Frankreich ist im Moment nicht gegenwärtig angegriffen, und das ist das Hauptproblem dieses Artikels 51 und das Hauptproblem der Beteiligung der Bundesrepublik.
Zurheide: Ich will – erst mal Danke für diese Erläuterungen. Ich will noch einen anderen Aspekt einführen. Man könnte ja auch fragen: Es gilt im Westen als normal, dass Rebellengruppen unterstützt werden, sowohl in Syrien, wie aber auch in Libyen, wo man aktiv dafür gesorgt hat, dass eine Regierung, so scheußliche Verbrechen sie auch gemacht hat, dass sie aus dem Amt am Ende gebombt worden ist. Wie ist eigentlich die Legitimation für diese Art von Tätigkeiten?
Merkel: Das kann man eindeutig beantworten: Die Unterstützung bewaffneter Aufstände in einem anderen Staat ist völkerrechtlich verboten. Das ist nicht zulässig. Und Sie weisen mit Recht darauf hin, dass die Lage in Syrien in den vergangenen Jahren in einem hohen – und das Verhalten einiger westlicher Staaten – in einem hohen Maß dubios waren.
Ich selber bin immer überzeugt gewesen, dass die Unterstützung des syrischen Aufstands mit Waffen und mit sonstigen sozusagen die Gewaltanwendung erleichternden, ermöglichenden, fördernden Mitteln illegitim gewesen ist, und zwar auch und nicht nur seitens Saudi-Arabiens, die von Anfang an auch Terrorgruppen dort unterstützt haben, oder Katars, sondern auch vonseiten des Westens, der von der Türkei aus immerhin logistische Hilfe geleistet hat.
Das alles, nach meiner ganz festen Überzeugung, ist illegitim gewesen. Wir hätten in Syrien – also wir – Deutschland hat sich Gott sei Dank in diesem Maße nicht beteiligt, aber die westlichen Staaten hätten sich in Syrien herauszuhalten gehabt.
"Förderung des flächendeckenden syrischen Aufstands war nicht legitim"
Zurheide: Mir kommt gerade in den Sinn: Und wie sieht es im Kurdengebiet aus?
Merkel: Sie meinen, ob man den Kurden helfen dürfte?
Zurheide: Ja.
Merkel: Ja, wir haben ein ähnliches – nun, die Kurden hat man natürlich auch im Irak, im Nordirak und in Syrien – wir haben ein ähnliches Problem mit der Unterstützung der Kurden. Allerdings wird man sagen müssen, dass ab einem bestimmten Punkt der Unterdrückung einer Bevölkerungsgruppe eine sozusagen Legitimation für den Aufstand selbst bejaht werden kann.
Sie hören an meinem zögerlichen Formulieren, dass das Völkerrecht dazu wenig sagt, denn Aufstände innerhalb von Staaten sind eben innerstaatliche Angelegenheiten. Sowohl das Völkerrecht als auch die politische Philosophie, wenn Sie so wollen, hat das in den letzten 200 Jahren vernachlässigt. Wann sind Aufstände legitim? Bei den Kurden mag man streiten. Vieles ist da etwas undurchsichtig. Die könnte man vielleicht sozusagen bei einer defensiven Verteidigung gegen Schikanen und sonstige Attacken des Regimes unterstützen. Man hat aber in Syrien einen flächendeckenden Aufstand gefördert, und das war nicht legitim.
Zurheide: Ich bedanke mich bei Reinhard Merkel für diese Erläuterungen zum Völkerrecht, mit dem sicheren Hinweis darauf, wir werden nicht zum letzten Mal darüber gesprochen haben. Herr Merkel, herzlichen Dank für das Gespräch heute Morgen!
Merkel: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.