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Kampf mit dem Alleinsein

Mit ihrem Buch "Blankow oder das Verlangen nach Heimat" rekonstruiert Autorin Pauline de Bok Geschichte aus neuartiger Perspektive. Die Journalistin zieht sich in einen halb verfallenen Hof in Mecklenburg zurück und versucht – teils in völliger Einsamkeit – die Historie dieses bizarren Ortes lebendig zu machen.

Von Dorothea Dieckmann |
    Was bringt eine 50-jährige Niederländerin dazu, sich monatelang allein auf einem von Berliner Freunden gekauften, halb verfallenen Hof in Mecklenburg den Strapazen von Arbeit, Einsamkeit und Weltferne auszusetzen? Wer diese Frage stellt, wird bei der Lektüre ihres Buches enttäuscht werden – oder die Antwort zwischen den Zeilen finden. Wie ein andauernder Selbstversuch lesen sich Pauline de Boks Aufzeichnungen von ihrem Kampf mit dem Alleinsein, der Unwirtlichkeit des Wetters und der Landschaft, den Widrigkeiten der Alltagsarbeit und den Zumutungen einer permanenten Selbstbeobachtung.

    "Es gibt kein Entrinnen, dieses Leben allein auf Blankow läßt mir keinen Ausweg: Alles, was ich tue, tue ich für mich. ... Jeder Dezimeter Erde, den ich bearbeite ..., jede Mahlzeit, die ich zubereite, all das Lesen und Schreiben und Geschichten sammeln, es nützt niemandem sonst. Es ist vollkommen überflüssig, das ist das Bestürzende. Wer so ein Dasein nicht will, kann es aufgeben, in die Stadt zurückkehren. ... Ich weiß, daß ich es nicht tun werde ... Von hier fortzugehen, das passiert nicht einfach so. ... Einfach so passiert es, daß ich lebe wie ein Organismus, der sich selbst instand hält. Ich bin hier nun mal. Das ist eine nacktere Einsicht als der ganze Sinn und die ganze Gescheitheit der Stadt."

    Sinn und Gescheitheit, diese Bestandteile einer zuversichtlichen Perspektive, die davon ausgeht, dass sich die Welt verstehen lässt und die Geschichte sich weiterentwickelt – sie sind rar in einer Gegend, die seit jeher von Armut und Abhängigkeit geprägt ist. Blankow, ursprünglich das von Pächtern bewirtschaftete Vorwerk eines junkerlichen Gutsbesitzes, erlebte feudale Verhältnisse, wirtschaftliche Krisen, nationalsozialistische Aufsiedlung, Kriegswirtschaft, Flüchtlingselend, Zwangskollektivierung und den Zusammenbruch der DDR. Diese Geschichte zu rekonstruieren, erfordert ein ausgeprägtes persönliches oder wissenschaftliches Interesse. Pauline de Bok aber, die in ihrem Bericht als namenloses Ich erscheint, wird von viel unmittelbareren Impulsen dazu getrieben, dem Leben der Menschen nachzuforschen.

    "Die Geschichte erschließt sich nicht ohne weiteres, die Gegend ist zu unbedeutend und zu dünn besiedelt und die Eigentümer und politischen Systeme sind zu schnell aufeinandergefolgt. Ich denke oft an früher, überlege, wie es hier gewesen sein mag, verschanze mich in diesen Gedanken. Wenn ich Teil einer langen Kette bin, wird alles gleich unwichtiger. Mit Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhige ich mich selbst. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, hier passiert nur selten etwas Schreckliches."

    Es ist die Suche nach Halt und Gewissheit in der abweisenden, ja unheimlichen Umgebung, die die fremde Bewohnerin motiviert, in den menschlichen Spuren zu lesen. Zuerst sind da zwei Schachteln mit Dokumenten, Fotos und Briefen. Es folgen Gespräche mit den Bewohnern, schließlich Gänge ins Archiv, und allmählich findet sich die Niederländerin in einem Gewebe aus Menschenleben und Zeitgeschichte. Immer lebendiger wird die Vergangenheit: an den Küchentischen der Nachbarn, auf Grabsteinen, in dem alten Sofa, auf dem die Erzählerin "Krieg und Frieden" liest, in den Brettern, die sie zersägt; immer mehr Geschichten durchdringen ihr Dasein zwischen Wohnräumen und Hof, Garten und alten Vorbauten, Feldern und fernen Gehöften. Geschichten von Migration und Heimweh, Unterdrückung und familiärer Gewalt, Liebe und Verlust, Krieg und Vergewaltigung.

    "Ich trete in die Ruine des Gesindehauses, an einer Wand sind noch alte Schichten Putz und Anstrich zu sehen, ... wie von einem Fresko. Hier wohnte die Witwe Sina Hornwath. War es hier, als sie vergewaltigt wurde? Sie muss sich sicher gefühlt haben mit ihren mehr als 80 Jahren."

    Immer wieder hört die Erzählerin, dass es die anderen Frauen waren, die vergewaltigt wurden. Die Verbrechen – die erlittenen und die begangenen – werden vom eigenen Selbst abgetrennt. Oft führen Fragen zu Ergebnissen in Frageform, und das Schweigen sagt mehr als die Aussagen. Pauline de Bok stößt auf stillschweigende Übereinkünfte, Familiengeheimnisse, Erfindungen, Verweigerungen. Das Volk der Täter, das so viele Opfer erlebt hat, scheut das Reden:

    "Käthe Droschler erzählt dem Anschein nach ohne viel Scheu über die Nazizeit, doch sie wählt ihre Worte auffällig genau, nämlich immer vage. So daß ein aufmerksamer Zuhörer versteht, was sie andeutet und meint, aber niemand sie auf einzelne Wörter festlegen kann. ... Die Leute hier benutzen oft allgemeine Begriffe, eine nichtssagende Sprache. Das läßt sich nicht nur durch Angst erklären, offenbar ist es auch der Widerwille, die Schrecknisse wieder ins Gedächtnis zu rufen und Schuld zu empfinden. ... Die Wahrheit, das ist vor allem die Geschichte, derer man sich bedient, um zu überleben. ... Der Selbsterhaltungstrieb ist der Motor des Schweigens, der Lügen, der Erfindungen. Wahrhaftigkeit ist Luxus."

    Um diesen Luxus von Wahrhaftigkeit und Aufmerksamkeit ist es Pauline de Bok zu tun. Indem sie den Überlebenskampf und den Selbsterhaltungstrieb der Menschen am eigenen Leib erlebt und als Fremde an ihrem Dasein teilnimmt, erprobt sie ein distanziertes und trotzdem intensives Verstehen, das eine neue, poetische Art der Geschichtsschreibung ausbildet. Im vergangenen Leben der anderen spiegelt sich die eigene Existenz, die eigene Vergänglichkeit. Und so wird Blankow, der erfundene Name des realen Ortes, zur Chiffre der erinnerten Welt. Auf sich selbst zurückgeworfen, bleibt der Erzählerin am Ende nur die Schlussfolgerung:
    "Jeder lebt mit seinem eigenen Blankow."

    Pauline de Bok: Blankow oder das Verlangen nach Heimat. Aus dem Niederländischen von Waltraut Hüsmert. Weissbooks Verlag, Frankfurt 2009, 311 Seiten, 22 Euro