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Kampf um Aleppo
"Das Endszenario ist, ihr geht oder ihr werdet sterben"

Das derzeitige Szenario in Aleppo könne noch sehr lange so weitergehen, sagte Daniel Gerlach, Chefredakteur von "Zenith", im DLF. Die Konfliktparteien, insbesondere das syrische Regime, führten einen demografischen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Gerlach hält das syrische Regime aber für wesentlich instabiler, als es den Anschein habe.

Daniel Gerlach im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Zerstörung im Viertel Ramouseh im Süden Aleppos
    Zerstörung im Viertel Ramouseh im Süden Aleppos (dpa / picture-alliance / Sputnik)
    Martin Zagatta: Eine überraschende Nachricht aus Syrien: Nach den schweren Luftangriffen, nach der wochenlangen, ja monatelangen Bombardierung Aleppos durch die syrische und die russische Armee sollen jetzt die Rebellen einen Gegenangriff gestartet haben. Wie kann das überhaupt noch sein, auf was läuft das hinaus jetzt in dem umkämpften Land?
    - Das will ich mir nun von dem Syrienexperten Daniel Gerlach erläutern lassen. Er ist Chefredakteur von "Zenith", der Zeitschrift für den Orient, und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Gerlach!
    Daniel Gerlach: Ja, guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Gerlach, Aleppo, wieso sind die Rebellen da überhaupt noch nach all dem, was wir da in den vergangenen Wochen gehört haben, in der Lage zu einem Gegenangriff – wenn diese Nachrichten jetzt stimmen?
    Gerlach: Na, wir haben, glaube ich, eine etwas falsche Vorstellung von den Dimensionen, um die es da geht. Erst mal ist Aleppo nach wie vor eine sehr, sehr große Stadt. Und das Umland von Aleppo, besonders auf der westlichen Seite, ist auch nach wie vor nicht in Regierungshand. Und diese Rebellenoffensive, die da im Südosten stattgefunden hat, die findet ja vor dem Hintergrund dessen statt, dass auch das von der Regierung, von den Regimetruppen kontrollierte Aleppo sich in den letzten Monaten seinerseits in einer Belagerung befunden hat. Es ist also nicht nur so, dass das Regime die von der Opposition gehaltenen Gebiete Aleppos belagert, sondern es ist auch umgekehrt so, dass das Regime seinerseits belagert wird. Und die vielen Luftangriffe, die wirklich zerstörerischen Luftangriffe, die wir da erlebt haben vor allem in den letzten Monaten, die richteten sich weniger gegen die Rebellen, die von Osten her vordringen, sondern die richten sich vor allem gegen die Menschen, die im Osten von Aleppo leben, die wiederum von der Regierung belagert werden. Das klingt sehr, sehr kompliziert, ist es auch, am Ende kann man, glaube ich, subsumieren, die Zivilbevölkerung leidet und wird bombardiert, aber bewaffnete Rebellengruppen haben immer noch die Möglichkeit, sich zu bewegen. Und das gibt letztendlich ja auch den Russen, die dort bombardieren, und dem syrischen Regime Argumente zu sagen, was wollt ihr eigentlich, wir müssen diese Operation weiterführen, denn offensichtlich sind die Terroristen noch nicht besiegt.
    Zagatta: Und diese Rebellen oder Assad-Gegner, wie immer wir sie nennen wollen, die scheinen nach wie vor, wenn ich Sie recht verstanden haben, dann auch keine Probleme zu haben, immer noch an Waffen zu kommen.
    Gerlach: Na, die haben schon Probleme, aber es gelingt ihnen nach wie vor. Wir haben es, wie wir alle wissen, mit sehr verschiedenen Rebellengruppen zu tun. Das Tragische an dieser ganzen Situation derzeit ist wohl – und das spielt dem Regime natürlich auch in die Hände -, dass die Rebellengruppen ganz darauf angewiesen sind auf diese extremistischen, dschihadistischen Gruppen, die sich früher mal die Nusra-Front genannt haben, die jetzt irgendwie in einem kreativen Namensfindungsprozess sich die Eroberungsfront von Syrien nennen, aber letztendlich das Gleiche geblieben sind. Das große Problem für das, was die Amerikaner die gemäßigten Rebellen, also ihre Verbündeten, sagen wir mal, nennen, ist natürlich, dass sie sich fragen müssen, was für eine Munition können wir diesen Gruppen zur Verfügung stellen. Können wir denen Luftabwehrraketen zur Verfügung stellen, können wir denen panzerbrechende Waffen zur Verfügung stellen? Und da sind die Amerikaner meinem Eindruck nach eben noch nicht so weit gegangen, dass sie denen Waffen gegeben haben, mit denen sie zum Beispiel auch Flugzeuge beschießen können. Und weil sie da nicht weitergehen wollten, sind sie jetzt in der Situation, dass sie sich eigentlich auf diejenigen verlassen müssen, die sie selbst als Terroristen betrachten, nämlich diese Nusra-Front, die sie auch selber bombardieren. Und das spiegelt letztendlich die Absurdität dieser Situation in Aleppo wider.
    Zagatta: Das heißt dann auch, wenn ich Sie da recht verstehe, dass es so etwas wie gemäßigte Rebellen oder Regimegegner, die wir aus dem Westen unterstützen sollten, es vielleicht lange nicht getan haben, dass es die ohne die Hilfe dieser Islamisten eigentlich gar nicht mehr gibt. Als Machtfaktor.
    Gerlach: So würde ich das nicht sehen. Es geht jetzt gerade konkret um diese Schlacht von Aleppo, da gibt es Interessenüberschneidungen zwischen diesen Gruppen. Und ich denke mal, in einem kriegerischen Konflikt wie diesem ist es überhaupt schwierig, von gemäßigt oder nicht gemäßigt zu sprechen, wenn man sich die Ziele anguckt, die da verfolgt werden. Das große Missverständnis ist, dass die Amerikaner als westliche Führungsmacht nicht symmetrisch zu Russland alle anderen unterstützen wollten, die eben gegen das Regime sind. Es entsteht immer der Eindruck, dass Russland das Regime unterstützt und Amerika unterstützt alle anderen. Das ist aber mitnichten so. Und die Gruppen, auf die man sich da verlassen hat und die man dort unterstützen möchte, sind eben kleiner geworden. Und diese sind auch bewusst und sehr aggressiv vom Regime und seinen Verbündeten beiseite gedrängt worden, weil man dieses Endszenario haben wollte, wir gegen die Extremisten, weil nur dann kann man gewinnen. Nun kommen aber andere Mächte wieder rein, wie zum Beispiel die Türkei, die diese, sagen wir mal, gemäßigten Rebellengruppen massiv wieder unterstützen, weil sie dort auch ihre Macht projizieren wollen und weil sie eben nicht aus dem Spiel geworfen werden wollen. Und diese Überschneidung von verschiedenen Interessen, die erleben wir dort, und das Ganze geht natürlich auf Kosten der Zivilbevölkerung.
    Zagatta: Wie lange kann das Ihrer Meinung nach, Ihrer Einschätzung nach überhaupt noch so weitergehen?
    Das kann noch sehr lange so weitergehen
    Gerlach: Ich denke, das kann noch sehr lange so weitergehen, denn letztendlich haben sich viele Mächte hier als nicht deklarierte Kriegsparteien in diesen Konflikt eingenistet. Und während sich einige zurückgezogen haben, erleben wir jetzt wieder, dass wieder mehr Player im Spiel sind. Ich höre auch immer wieder, dass viele sich fragen, na, was ist denn eigentlich, wenn wir den sogenannten Islamischen Staat mal besiegt haben, um den es ja hier in Aleppo überhaupt nicht mehr geht, werden wir uns dann auch über andere Territorien streiten? Und werden wir jetzt auch erleben, dass ausländische Mächte wie zum Beispiel die Türkei möglicherweise, wie sie angekündigt haben, jetzt nach Rakka vordringen. Also dieses Szenario kann noch sehr lange anhalten und sehr lange gespielt werden, denn wie auch immer brutal und unerbittlich diese Bombardements waren – die jetzt kurz mal ausgesetzt wurden ja übrigens in Ost-Aleppo –, wir dürfen uns keine Illusionen darüber machen, es gibt dort Hunderttausende Menschen, die dort noch ausharren. Und das Ziel der Konfliktparteien ist nicht ein politischer Sieg, sondern ist, die Bevölkerung dort zu vertreiben. Das ist ein demografischer Krieg, den wir in Aleppo erleben, der besonders vom syrischen Regime geführt wird. Das heißt also, das Endszenario ist, entweder ihr geht oder ihr werdet sterben. Und das ist, glaube ich, eine Radikalität, die bis heute nicht bewusst ist hier.
    Zagatta: Wir im Westen gehen ja davon aus, dass das ursprüngliche Ziel der Gegner Assads war, da einen Diktator zu stürzen. Ist das überhaupt noch denkbar mit dem Eingreifen der Russen? Oder ist das mittlerweile unmöglich geworden in der Praxis vor Ort?
    Gerlach: Das Ziel einiger Rebellen oder vielen Rebellen war es, das Regime zu stürzen, aber für viele ging es auch einfach nur darum, ihr Territorium, in dem sie leben, vom Regime – ich sag's jetzt mal in Anführungszeichen – "zu befreien", sich letztendlich selbst zu verteidigen. Und das sind natürlich Ziele, die unter Umständen überlappen, aber auch nicht ganz deckungsgleich sind. Ich halte das syrische Regime anders als viele für wesentlich weniger stabil, als es den Anschein hat. Ich denke aber, einen militärischen Sieg über dieses Regime – und das ist wohl hinreichend klar geworden – wird es in dieser Form nicht geben. Dennoch glaube ich, dass dieses Regime sehr, sehr schnell kollabieren kann und dass dann die Karten wieder völlig neu gemischt sind. Und auf dieses Szenario muss sich die internationale Gemeinschaft vorbereiten. Und da dürfen sich auch Russland und Iran, die gerade in Moskau zusammensitzen, keine Illusionen machen. Man kann ein solches Regime auf Dauer nicht halten, aber es derzeit militärisch zu stürzen, scheint mir eine Illusion.
    Zagatta: Sagt der Syrienexperte Daniel Gerlach. Er ist der Chefredakteur der Zeitschrift "Zenith", der Zeitschrift für den Orient. Herr Gerlach, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Gerlach: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.