Archiv

Kampf um EU-Spitzenämter
"Wir könnten zuerst Nachfolger für Tusk und Tajani bestimmen"

Die anstehende Neuverteilung der EU-Spitzenämter könne schwierig werden. Vor allem, wenn die Parteien gleich mit dem heiß umkämpften Posten des Kommissionspräsidenten anfangen, sagte der Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme, im Dlf.

Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Dirk Müller |
Joachim Fritz-Vannahme, Programmdirektor "Europas Zukunft", Bertelsmann- Stiftung, gestikuliert bei einem Podiumsgespraech ueber Europa am 6.10.2016 in Freiburg. Foto:Winfried Rothermel | Verwendung weltweit
Joachim Fritz-Vannahme, Leiter Europa-Projekte der Bertelsmann-Stiftung, glaubt an die versöhnende Kraft des Proporz (Winfried Rothermel / picture alliance)
Dirk Müller: Gerangel um die Spitzenposten in der Europäischen Union, das ist auch weiterhin unser Thema mit Joachim Fritz-Vannahme, Europa-Experte der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag!
Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag.
Müller: Wir haben das gerade gehört: Angela Merkel und Emmanuel Macron, passen die beiden nicht mehr zusammen?
Fritz-Vannahme: Was Peter Kapern eben beschrieben hat, hat sich ja seit Langem abgezeichnet, ist aber auch im Augenblick noch nicht mal Kern des Problems bei der Findung der richtigen Personen für fünf wichtige Posten. Denn ebenfalls richtig beschrieben wurde ja eben, wie sehr diese Europäische Union sich ausdifferenziert hat, sowohl parteipolitisch ausdifferenziert als auch von den Standpunkten der nationalen Regierungen, die in vielen Punkten ja fast schon antipodisch weit auseinanderliegen.
Das war früher einmal anders, vielleicht auch ein bisschen bequemer, kann ja schon sein. Es ist so, wie es ist, und das spiegelt natürlich ein Stück weit auf der politischen Ebene unsere europäischen Gesellschaften wieder, dass wir uns in vielerlei Richtungen gleichzeitig bewegen, vielerlei Ansprüche gleichzeitig erheben, alle durchaus legitim und erst mal diskussionswürdig, die aber am Ende, wenn sie zusammengeführt werden sollen zu einer politischen Entscheidung, zu einer politischen Linie, mitunter sehr schwer zusammenzuführen sind.
Versöhnende Kraft des Proporz
Müller: Aber das hört sich so an, als würde das kaum Sinn machen, diesen Zwängen und diesen verschiedenen Argumenten, Interessen und Machtambitionen so viel Raum einzuräumen, dass man hinterher sagt, wir müssen jetzt trotzdem eine gemeinsame Lösung finden.
Fritz-Vannahme: Ich fand, dass Frau Merkel mit ihrer Stellungnahme gestern immerhin auf einen Punkt hingewiesen hat. Sie hat eine Linie verfolgt, die sie eigentlich auch schon seit Langem verfolgt, indem sie sagt, wir dürfen niemanden ausschließen, wir müssen alle irgendwo an Bord halten. Das geht natürlich nur über Kompromissfähigkeit durch Zugeständnisse. Anders funktioniert das mit Sicherheit bei 27 nicht länger.
Wenn ich einen guten Rat geben würde, dann würde ich jetzt sagen, ihr habt ja fünf Posten zu vergeben. Es ist sicherlich der spektakulärste im Augenblick der Kommissionspräsident. Warum? Weil sich dort Parlament und Rat als zwei der wichtigsten institutionellen Pfeiler aufeinander zubewegen und offenkundig ein Zusammenstoß nicht mehr ausgeschlossen ist. Aber wir haben ja zum Beispiel zwei Posten zu vergeben, die der Hoheit der jeweiligen Kammer, wenn ich das mal so sagen darf, zugehören, nämlich den Ratspräsidenten, den Nachfolger von Donald Tusk, und den Parlamentspräsidenten. Das Parlament bestimmt autonom über seinen Präsidenten, wird das übrigens schon Anfang Juli nach der konstituierenden Sitzung auch tun müssen. Und beim Rat kann man sicher auch sagen, da redet eigentlich keiner richtig rein.
"Es gibt nicht das ideelle Gesamteuropa"
Wenn diese beiden Entscheidungen gefällt sind, dann geht die Zählerei los: Wer ist denn jetzt noch nicht bedient worden? Ist der Osten noch nicht bedient? Ist der Süden noch nicht bedient? Sind die Konservativen, die Sozialisten, die Liberalen noch nicht bedient? Das sind natürlich Entscheidungshilfen, um die Gemengelage, die im Moment eine sehr verwirrende ist bei der Frage, wer soll denn der nächste Kommissionspräsident werden, ein Stück weit aufzulösen.
Müller: Das hört sich ein bisschen so an, um da vielleicht noch mal anzuknüpfen an meine vorherige Frage, dass viele Europäer, die Verantwortung tragen, die jetzt mitmischen, gar nicht europäisch denken.
Fritz-Vannahme: Ja, in der Tat. Da kommt natürlich mitunter auch durchaus ein Regionalproporz, ein Geschlechterproporz, eine politische Färbung mit ins Spiel. Das ist aber nun mal Politik. Es gibt nicht das ideelle Gesamteuropa, das man anrufen könnte wie das Orakel in Delphi und dann anschließend hoffentlich ein bisschen besser weiß, was man tun und was man lassen sollte.
Vorschlag: Mit weniger umkämpften Posten anfangen
Müller: Sind das denn noch angemessene Kriterien, was Sie gerade gesagt haben? Proporz?
Fritz-Vannahme: Die Kriterien, wenn Sie sich die mal genau anschauen, die kommen ein Stück weit ja auch aus unseren Gesellschaften. Wenn wir jetzt auf einmal sagen, wir müssen gucken, dass von den fünf Posten eine genügende Anzahl mit Frauen besetzt wird, würden alle in unseren europäischen Gesellschaften sofort sagen, das ist ja aber auch mal Zeit, dass die Frauen hier auch mal zum Zuge kommen. Dann die nächste Frage: Wir müssen bei den Kräfteverhältnissen, wie sie sich im Europäischen Parlament abzeichnen, eine geschwächte Europäische Volkspartei, eine geschwächte sozialistische Fraktion, eine gestärkte liberale Fraktion, irgendwo diese drei Blöcke auch irgendwo bedienen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das ist doch auch ein Kriterium, das durchaus plausibel erscheint.
Und die Frage zwischen Groß und Klein und Ost und West und Nord und Süd, die haben wir bei der Europäischen Union seit langem, wenn es um personelle Entscheidungen geht. Wir können den Osten nicht einfach vorlassen, wir können den Süden nicht vergessen. Das hat eine gewisse integrative Symbolik, die vielleicht überschätzt wird, weil am Ende die Qualität des Politikers oder der Politikerin mehr zählt als das Herkunftsland, aber es hat sich einfach so eingespielt.
Müller: Aber kann es sein, dass das jetzt wieder einen zusätzlicher Vertrauensverlust, einen Vertrauensbruch ergeben wird? Wenn Sie diese komplizierte Gemengelage, wie Sie sie gerade beschrieben haben, dann hinterher in die politische Praxis übertragen, dann wird es ja diese Wunden geben, die Angela Merkel noch angesprochen hat oder versucht hat jetzt auszuschließen bei der Frage, dass die Posten wieder wichtiger sind als die Inhalte, als die Politik.
Fritz-Vannahme: Ja, das ist das Nachgelagerte. Ich persönlich wäre schon zufrieden, wenn wir profilierte, überzeugte und auch vor allem überzeugende Politiker auf diesen fünf wichtigen Posten sehen würden, wobei ich bei "Politikern" Politikerinnen jetzt mit einschließe.
Mein Ratschlag eben, der war nicht ganz unbedacht. Ich glaube, dass Parlament und Rat sich das Leben einfacher machen würden, wenn sie sagen, wir werden vielleicht nicht als erstes den Kommissionspräsidenten finden, aber wir könnten als erstes den Nachfolger für Herrn Tusk bestimmen und den Nachfolger für Herrn Tajani, den jetzigen Parlamentspräsidenten, bestimmen. Dann haben wir schon mal zwei, wo wir einen Haken hinter machen können und wo wir auch mit einer gewissen Harmonie wahrscheinlich eine Entscheidung fällen können, und dann kommen die wirklich konfliktuellen drei weiteren Posten, die aber dann natürlich durch die Besetzung dieser beiden anderen Posten bereits in ihren Kriterien der Findung ein Stück weit eingeschränkt sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.