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Kampf um Grundrechte: die Mapuche

Chile ist in den öffentlichen Fokus gerückt durch die dramatische Bergung der 33 verschütteten Kumpel. Im Glanz der geglückten Rettung ist der chilenische Präsident Pinera nach Deutschland gereist - heute Morgen noch traf er Bundespräsident Wulff in Berlin.

Von Peter B. Schumann | 23.10.2010
    Weniger Glanz, um nicht zu sagen: Tiefe Schatten liegen aber über einem anderen Kapitel der chilenischen Geschichte, denn das Land geht seit Jahren mit Militärrecht brutal gegen die Ureinwohner, die Mapuche-Indianer, vor.

    Am selben Tag als die Bergarbeiter gerettet wurden haben 30 inhaftierte Mapuche ihren Hungerstreik eingestellt, denn auch für sie gab es eine kleine Rettung, die nicht so medienwirksam war wie eine Bergung aus hunderten Metern Tiefe, aber auch einen Neuanfang Chiles mit den entrechteten Ureinwohnern bedeuten könnte. Peter B. Schumann über das schwere Erbe aus den Zeiten Pinochets und der Hoffnung auf Pinera:

    Großer Festakt vor der Moneda, dem Regierungs-Palast. Staatspräsident Piñera und vier seiner Vorgänger singen zusammen mit einer unüberschaubaren Menschenmenge die Nationalhymne. Ein riesiges Banner wird von Kindern hereingetragen und an einem baumstarken Mast emporgezogen: die Nationalflagge. Es ist der Höhepunkt der Feierlichkeiten zum Bicentenario, mit dem Chile im September die 200 Jahre seiner Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht beging.
    Doch es gibt auch ein anderes Chile, das sich der nationalen Euphorie verweigert: das Millionen-Volk der Mapuche, der Ureinwohner. Ihre Sprecherin Ximena Cumicán:

    "Wir Mapuche haben nichts zu feiern an diesem Jahrestag. Denn wir gehören zu denen, die unter der sozialen Ungleichheit und Ausgrenzung leiden, die nicht erst seit 200, sondern seit mehr als 500 Jahre andauert. Wir verlangen, dass die blutige Verfassung, die uns 1980 auferlegt wurde, außer Kraft gesetzt wird, damit unser Volk endlich eine angemessene Vertretung im chilenischen Machtsystem erhält. Wir verlangen die sofortige Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung."

    Zu dieser von der Pinochet-Diktatur erlassenen Konstitution gehört das sogenannte Anti-Terror-Gesetz. Mit seiner Hilfe kann jede Form von Demonstration als Anschlag auf den Staat gewertet und von der Militärjustiz mit drakonischen Strafen geahndet werden. Wenn die Aktionen der Mapuche eskalieren und beispielsweise zu Bränden kommt, dann werden sie nicht wie Brandstifter, sondern wie Schwerverbrecher behandelt. Wer in die Fänge dieser Justiz gerät – und das können selbst Kinder sein, befindet sich in einem quasi rechtlosen Raum. Ximena Cumicán:

    "Wir erwarten, dass das Anti-Terror-Gesetz abgeschafft wird. Kein inhaftierter und kein streikender Mapuche ist ein Terrorist. Denn Terroristen sind nicht jene, die ihre Behausungen verteidigen, sondern jene, die töten. Dazu gehören die Ordnungskräfte, die unsere Gemeinden überfallen."

    Der Kampf der Mapuche um Selbstbestimmung und den Besitz ihres angestammten Landes dauert bereits Jahrhunderte. Das kämpferische Volk hat sich einst erfolgreich gegen die Inkas gewehrt und später im 17. Jahrhundert den Spaniern ein Autonomie-Gesetz abgetrotzt, das ihren Landbesitz sicherte. Als dann aber Chile vor 200 Jahren unabhängig wurde, stellten es die wechselnden Regierungen zunehmend infrage. Schließlich raubten sie ihnen in einer blutigen Militäroperation 9/10 ihres Territoriums.

    Die Mapuche erlitten das gleiche Schicksal im 19. Jahrhundert wie die meisten indigenen Völker im Süden und im Norden Amerikas. Dabei ging es stets um Land. Die Regierung besiedelte es rücksichtslos und verschaffte sich so Zugang zu den Bodenschätzen. Für die Mapuche war und ist das Land-Problem jedoch bis heute eine Frage ihres Selbstverständnisses, denn ihr Name "Mapu Che" bedeutet "Menschen der Erde". Chacho Liempe, einer ihrer Sprecher:

    "Im westlichen Denken verbindet sich mit dem Begriff 'Land' Privatbesitz, ein Gebiet, das einem gehört, das man ausbeuten kann. Für uns ist es dagegen der Raum unseres Lebens, den wir deshalb immer verteidigt haben. Wir verstehen uns nicht als Eigentümer, sondern als ein weiteres Element dieser Gesamtheit von Natur, mit der wir und durch die wir leben, mit allen Fasern unseres Körpers und unseres Geistes, eben allem, was zum Leben gehört. Für die Regierung geht es gemäß der herrschenden Meinung nur um Besitz, über den sie die Kontrolle ausüben will."

    Es sind zwei Konzepte, die unversöhnlich aufeinanderprallen. Die chilenischen Regierungen haben in der Vergangenheit ihren Machtanspruch gewissenlos durchgesetzt und viele Mapuche dadurch in extreme Armut gestürzt – bis in unsere Tage. Chacho Liempe:

    "Sie wurden beispielsweise durch die Ausbreitung des Soja-Anbaus vertrieben und in einem Gebiet zusammengepfercht, das ihre Existenz gefährdet. Sie leben unter miserablen Bedingungen. Für viele bedeutet das den Tod durch Unterernährung. Aber die Regierung interessiert sich nicht dafür, denn sie richtet sich nur nach Kapitalinteressen. Wir sind Gefangene im eigenen Land, Gefangene einer anderen Gesellschaft und Kultur."

    Dagegen wehren sich die Mapuche. Anfang des Monats kommt es in Temuco, einem ihrer Zentren im Süden Chiles, zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei – wie der Nachrichtensprecher im staatlichen TV-Kanal berichtet. "Hunderte von Indios blockieren die Zufahrtstraßen und unterstützen die Manifestationen der Studenten an zwei Universitäten. Die Stadt ist praktisch von der Außenwelt abgeschlossen. Dies alles geschieht zur Unterstützung jener Häftlinge der Mapuche, die sich heute seit 80 Tagen im Hungerstreik befinden."

    Als im ganzen Land die Feierlichkeiten zum Bicentenario begannen, traten 38 Mapuche in verschiedenen Gefängnissen in einen unbegrenzten Hungerstreik. Sie waren nach dem Anti-Terror-Gesetz verurteilt worden und wollten damit die Öffentlichkeit auf die unerträglichen Haftbedingungen und die Verletzung der Menschenrechte durch dieses Gesetz aufmerksam machen. Da Staatspräsident Piñera ein ungetrübtes Fest begehen wollte, beeilte er sich zu versichern:

    ""Mit der gleichen Kraft, mit der wir uns dafür einsetzen, das Leben der Bergleute zu retten, setzen wir uns auch für diejenigen ein, die mit ihrem Hungerstreik ihr Leben gefährden. Ich rufe alle Personen guten Willens und insbesondere die katholische Kirche dazu auf, uns dabei zu helfen, damit dieser Streik beendet wird. In der kommenden Woche wird die Regierung zwei Gesetzesvorschläge ins Parlament einbringen. Mit dem einen soll die Militärjustiz den Erfordernissen einer Demokratie und eines Rechtsstaates angepasst werden. Und der andere soll das Antiterror-Gesetz modifizieren."

    Damit signalisierte der Milliardär Piñera, der Unternehmer-Präsident, jene Bereitschaft, die die Mapuche eigentlich von seinen christ- und sozialdemokratischen Vorgängern erwartet haben. Auch die katholische Kirche übernahm ihren Part. Sie organisierte den Dialog zwischen den Indios und der Regierung. Währenddessen setzten die Häftlinge ihren Hungerstreik in den Gefängnissen fort, verliehen ihren Forderungen noch einmal Nachdruck. Manuel Chocori, ihr Sprecher:

    "Die Urteile gegen uns Gefangene müssen aufgehoben werden, denn sie wurden sowohl nach den Gesetzen der Militär- wie der Ziviljustiz gefällt. Das aber hat sehr viel höhere Strafen zur Folge. Die Besetzung der Mapuche-Gebiete durch das Militär muss aufhören. Und alle politischen Häftlinge der Mapuche müssen freigelassen werden."

    Mehrfach droht der Dialog zu scheitern. Auch im Parlament steht eine Einigung über die Gesetzesvorschläge immer wieder auf der Kippe. Dann kommt der Durchbruch. Die Abgeordneten verabschieden diverse Änderungen. Am folgenreichsten ist die Reform des Militärgesetzes:

    "Die Militärjustiz ist nicht mehr für Vergehen von Zivilpersonen, sondern nur noch von Militärangehörigen zuständig. Entsprechende Verfahren, die noch nicht abgeschlossen sind, werden zivilen Gerichten übergeben. Die Strafen durch bereits ergangene Urteile werden überprüft."
    Die letzten 10 Häftlinge, die sich noch im Hungerstreik befinden, beenden nach nahezu einem Vierteljahr ihre Aktion. Ihre Verfahren können nun vor zivilen Richtern verhandelt werden – genauso wie 4500 weitere offene Fälle.

    Die Mapuche haben im Jahr des Bicentenario einen ersten Erfolg erzielt: Ihr sozialer Protest ist weitgehend entkriminalisiert worden. Doch der eigentliche Kampf um würdige Lebensbedingungen, um einen angemessenen Lebensraum geht weiter.