Der Westen habe offensichtlich keine Mittel, die Terrormiliz Islamischer Staat zu bekämpfen, sagte der Parteivorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, im DLF. Die Luftschläge seien nicht ausreichend, die USA müssten ihre rote Linie überschreiten und gemeinsam mit der Türkei eine Bodenoffensive starten.
Özdemir kritisierte vor allem die passive Haltung der Europäischen Union. Der Kampf gegen den IS spiele in den europäischen Hauptstädten eine untergeordnete Rolle, sagte der Grünen-Politiker. Das sei fatal, denn die Terroristen wüteten in der Nachbarregion der EU, quasi vor der Haustür. "Die Kurden werden im Kampf gegen IS alleine gelassen." Der Westen, Deutschland eingeschlossen, müsse sie hingegen mit allem Kräften unterstützen - auch mit Waffen. Der IS dürfe nicht gewinnen, ein islamischer Gottesstaat sei unter keinen Umständen zu akzeptieren.
Das Interview mit Cem Özdemir in voller Länge:
Christiane Kaess: Die syrisch-kurdische Stadt Kobane ist zum Wahrzeichen geworden für den Kampf der Kurden gegen die Terrororganisation Islamischer Staat. In mehreren europäischen Städten hat es Demonstrationen von Kurden gegeben. Sie wollen auf die verzweifelte Situation der Kurden in Syrien und im Irak aufmerksam machen und fordern von ihren Regierungen mehr Unterstützung. Bei den Kurden-Protesten in der Türkei gegen die Tatenlosigkeit Ankaras sind mehrere Menschen getötet worden und es gab zahlreiche Verletzte. Die Situation eskaliert, weil die Wut darüber so groß ist, dass, so scheint es im Moment, die Weltöffentlichkeit mehr oder weniger tatenlos zusieht, wie die Kurden in der syrisch-kurdischen Stadt Kobane nahe der türkischen Grenze in diesem verzweifelten Kampf untergehen.
Mitgehört am Telefon hat Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen.
Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Kaess.
Kaess: Warum lässt der Westen die Kurden in Kobane alleine?
Özdemir: Es zeigt sich offensichtlich, dass der Westen keine Mittel hat. Mit dem, was zur Verfügung steht, kann man ISIS nicht stoppen. Die USA haben eine rote Linie, keine Bodentruppen. Es zeigt sich, dass Luftschläge alleine ganz offensichtlich nicht reichen, um die sehr gut bewaffnete ISIS zu stoppen. Die amerikanische Nation ist traumatisiert aus zwei Kriegen, Afghanistan und Irak, letzterer zusammengekommen mit Lügen und unnötig und Präsident Obama, dem die Strategie auszugehen scheint. Deutschland ist ein Land, wo die Pazifisten wahrscheinlich sich nie erträumt hätten auf den Ostermärschen, dass christdemokratische Verteidigungsminister mal die Bundeswehr demobilisieren. Insofern: Niemand kann sagen, was kann die Bundeswehr überhaupt und welche Zusagen kann sie einhalten. Sie fällt de facto aus, die UN ist blockiert, der Sicherheitsrat durch Ränkespiele um das Thema Ukraine durch Russland und China, und die Türkei - das hat man ja vorher in dem Beitrag gehört - fährt eine sehr zynische Strategie, nämlich dass sie ganz offensichtlich die PKK schwächen möchte und sich dadurch Vorteile erhofft innenpolitisch für den Friedensprozess, wobei die Frage dann gestellt werden kann, was von dem Friedensprozess noch übrig ist, und offensichtlich will sie eine Regionalmacht werden.
Kaess: Ja, Herr Özdemir. Die Rolle der Türkei, die können wir gleich noch etwas weiter vertiefen. Das war jetzt Ihre Analyse, aber nach außen entsteht das Bild, der Islamische Staat hat gewonnen.
Özdemir: Das ist so. Das ist ein Propagandasieg für die ISIS. Man darf das gar nicht unterschätzen.
Desaster für den Westen
Kaess: Können wir uns das leisten?
Özdemir: Auf keinen Fall! Ich halte das für katastrophal, denn jede neue schwarze Flagge, also ISIS-Flagge, die gehisst wird, ist ein riesiger Propagandaerfolg im Netz. Das mobilisiert junge Leute, die sich der ISIS anschließen. Ich verstehe nicht, dass man nicht versteht, dass wir uns das nicht leisten können.
Kaess: Was muss also passieren?
Özdemir: Jeder kleine Sieg von ISIS ist ein Desaster auch für uns hier im Westen. Man muss ISIS stoppen. Das Ziel, Priorität Nummer eins muss sein, ISIS zu stoppen.
Kaess: Wie?
Özdemir: Nach wie vor gibt es über dieses Ziel keine Einigkeit, denn unser wichtigster Partner Türkei hat nach wie vor die Strategie, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. Wenn man Assad wegbekommen möchte, ISIS Assad bekämpft, dann gibt es schon mal einen großen Dissens. Ich finde, das Ziel Nummer eins - darüber muss man sich verständigen - ist, ein islamistischer Gottesstaat ist unter keinen Umständen zu akzeptieren. Da es mit Luftschlägen alleine nicht geht, muss man offensichtlich auch auf dem Boden ISIS bekämpfen. Die einzigen, die zurzeit dazu in der Lage sind, sind die Kurden, und mit denen muss man zusammenarbeiten.
Kaess: Sie haben jetzt noch mal die Rolle der Türkei angesprochen. Wie gesagt, da sprechen wir gleich noch drüber. Aber die EU schaut ja zum Teil auch zu. Manche Länder machen bei den Luftschlägen im Irak mit. Ist das wieder der Beweis, dass es außenpolitisch eigentlich keine gemeinsame Linie gibt?
Europäische Union muss ein Interesse daran haben, dass IISIS gestoppt werden
Özdemir: Die EU findet außenpolitisch gegenwärtig im Irak und in Syrien, im Kampf gegen ISIS nicht statt, sondern einzelne Länder finden statt. Man sieht das ja daran, dass die größte Volkswirtschaft der Europäischen Union, die Bundesrepublik Deutschland, gegenwärtig quasi ihre Bestände aus dem Zweiten Weltkrieg dort entsorgt. Das ist auch eine besondere Form von Recycling. Wenn es nicht so zynisch wäre, dann könnte man darüber lachen. Aber das ist natürlich, angesichts dessen, dass es sich hier um die Nachbarregion Europas handelt - im Gegensatz zu den USA sind das unsere Nachbarn und wir sind unmittelbar betroffen durch Flüchtlinge, wir sind betroffen durch Terrorismus -, insofern muss die Europäische Union schon aus eigenem Interesse ein Interesse daran haben, dass ISIS gestoppt wird. Dass das offensichtlich in den europäischen Hauptstädten eine untergeordnete Rolle spielt, verrät viel über den Zustand der Europäischen Union.
Kaess: Nehmen die Europäische Union und auch die USA zu sehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der Türkei?
Özdemir: Ich glaube, dass es im türkischen Interesse liegt, dass die Türkei gemeinsam mit den Kurden ISIS stoppt. Das hätte Vorteile für den Friedensprozess in der Türkei, denn die Türkei würde dadurch doch klar machen, dass die Kurden die Türkei brauchen, als Freund, als Partner, auch als Sicherheitsgaranten. Das was die Türkei jetzt macht, ich befürchte, dafür wird sie selber einen hohen Preis bezahlen, aber wir alle mit, denn das Vertrauen der Kurden in den Friedensprozess dürfte dahin sein und das wird sicherlich lange dauern, das alles wieder zu reparieren.
Kaess: Sie haben es gerade selber auch schon angesprochen: Das Verhältnis zur PKK ist nach wie vor schwierig. Wir haben jetzt wirklich massiv gewaltsame Proteste in der Türkei gehabt. Steht das Land vor einer Zerreißprobe?
Ich befürchte irreversible Folgen
Özdemir: Ich bin sicherlich unverdächtig, ein Freund der PKK zu sein. Ich hatte schon Polizeischutz wegen der PKK. Die PKK ist eine autoritäre Organisation mit terroristischen Methoden in der Vergangenheit. Aber in der Türkei gibt es ja einen Friedensprozess gegenwärtig. Es gibt Verhandlungen, die man gar nicht als Geheimverhandlungen bezeichnen kann, weil sie ja offen stattfinden, mit Öcalan, der ja ein Gefangener der Türkei ist. Die türkische Regierung unter Erdogan hat diese Verhandlungen geführt. Wenn man diese Verhandlungen zum Erfolg führen möchte, dann kann man ja nicht zuschauen, wie quasi auf der anderen Seite der Grenze in Syrien gegenwärtig die Kurden - und für die Kurden ist Kobane nun mal ein Symbol geworden - platt gemacht werden. Das hat drastische Konsequenzen für die Türkei und für den Friedensprozess und ich befürchte irreversible Folgen, und das hat global gesehen natürlich auch für uns im Westen Konsequenzen, denn zu Recht oder zu Unrecht wird der Eindruck da sein, den Christen, den Jesiden im Irak hat man geholfen, den Muslimen, in dem Fall den kurdischen Muslimen in Kobane hilft man nicht. Diese Bilder kann man nicht wollen.
Kaess: Aber, Herr Özdemir, um es mal konkret zu machen: Dann müsste man auch schnellstmöglich weg von der Einstufung der PKK und ihrem syrischen Ableger als Terrororganisation.
Özdemir: Man sollte das mit der Türkei zusammen machen. Man sollte der Türkei sagen, ihr verhandelt mit der PKK, ihr wertet die dadurch ja auf. Welchen Sinn macht es dann, dass man gleichzeitig sagt, aber man darf mit der PKK im Kampf gegen ISIS nicht zusammenarbeiten. Das ist nicht logisch.
Kaess: Nun sagt Erdogan, die Türkei sei zu einer Bodenoffensive gegen den Islamischen Staat bereit, aber er stellt eine Bedingung: nur zusammen mit anderen Staaten. Wer sollte sich daran beteiligen?
Özdemir: Er sagt vor allem mit dem Ziel, Assad zu stürzen, und dann muss man die Gegenfrage stellen: Was kommt dann? Was ist die Strategie von Syrien?
Kaess: Bleiben wir gerade noch mal kurz bei der Bodenoffensive. Wer könnte sich daran beteiligen, wenn die Türkei sagt, wir machen das nicht alleine?
Özdemir: Da kommen offensichtlich nur die Amerikaner in Frage, vom militärischen Stand her, und die Amerikaner schließen das gegenwärtig aus. Die Bundeswehr, darüber muss man, glaube ich, nichts sagen. Das ist eher was für Satiresendungen. Dann bleiben nicht viele übrig. Die Kurden sind die einzigen, die dort in der Lage wären. Die Turkmenen, die Christen, die Jesiden, alle wollen sich wehren. Alle sind bereit, in die Auseinandersetzung zu gehen. Sie haben die Mittel dazu nicht, weil wir sie ihnen verweigern. Die einzigen, die dort bewaffnet sind und die offensichtlich über ein riesiges Arsenal an tödlichem Material verfügen, ist ISIS. Alle anderen, die sich ihnen dem Kampf stellen wollen und in der Lage dazu wären, wird die Hilfe verweigert.
Kaess: Aber Sie haben sich ja bei der Abstimmung im Bundestag über Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak enthalten, obwohl Sie sich eigentlich davor dafür ausgesprochen haben. Haben Sie denn auch die Situation völlig falsch eingeschätzt?
Özdemir: Nein! Ich befürchte, dass ich Recht behalten habe, dass man mit Luftschlägen alleine ISIS nicht stoppen kann, dass die einzigen dort vor Ort, die in der Lage wären, ISIS zu stoppen, allein gelassen werden. Das sind die Kurden, das sind die Turkmenen, das sind die Christen, das sind die Jesiden. Sie kennen die Region, sie kennen ihre Dörfer, sie wollen zurück in ihre Heimat und sie wollen ISIS bekämpfen. Man muss sie in die Lage dazu versetzen, es zu tun, und jetzt keine Haarspalterei betreiben, welche Kurden man unterstützt, welche man nicht unterstützt, oder wie die Türkei das verbinden mit der Frage, was in Damaskus, was mit Assad passiert. Wenn wir diese Frage auch noch klären sollen, dann lebt bis dahin keiner mehr.
Kaess: Also ganz eindeutig: Sie sind dafür, dass Deutschland auch Waffen an die Kurden in Syrien liefert?
Özdemir: Meine Position hat sich nicht geändert. Ich bin der Meinung, dass man ISIS stoppen muss, und das muss man zusammen mit den Partnern machen und muss dafür die, die in der Lage sind, ISIS zu stoppen, unterstützen, auch mit Waffen.
Kaess: Es gibt noch ein ganz anderes Thema. Da möchte ich noch kurz mit Ihnen drüber sprechen, Herr Özdemir. Es gibt heute Morgen die Meldung, Deutschland steht vor dem Beginn der Bundeswehr-Hilfsmission für die Ebola-Region in Westafrika. Jetzt hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen das Versprechen, das sie gegeben hat an Soldaten und freiwillige Helfer, zurücknehmen müssen, dass diese im Notfall ausgeflogen würden. Ist es eigentlich zu verantworten, Leute in diese Region zu schicken unter diesen Voraussetzungen?
Bundeswehr nicht zum Gespött der Welt machen
Özdemir: Wenn man mal schaut, was die Amerikaner in kürzester Zeit mobilisiert haben im Kampf gegen Ebola, und wenn man das vergleicht mit der Europäischen Union, mit Deutschland - und wir reden hier ja nicht von Entwicklungsländern; wir reden im Fall von Deutschland von der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt, der größten in Europa -, dann muss man schon sagen, es ist offensichtlich nicht mehr nur so, dass wir keine Flughäfen bauen können und dass wir Schwierigkeiten haben, unseren Haushalt zu sanieren, sondern offensichtlich ist es auch so, dass wir zunehmend Probleme haben, die Bundeswehr nicht zum Gespött in der Welt zu machen. Ich befürchte, dass deutsche Politiker künftig Schwierigkeiten haben werden, international zu erklären, was eigentlich bei der Bundeswehr los ist, und da wäre doch mal etwas mehr notwendig als die Vergabe von teuren Gutachten, nämlich dass man Konsequenzen daraus zieht und so schnell wie möglich dafür sorgt, dass die Bundeswehr mit dem bestehenden Geld auskommt. Es ist hier nicht ein Problem, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht. Sie kann ja das bestehende Geld schon gar nicht ausgeben. Das was in jedem Unternehmen der Fall ist, dass man mit dem Geld verantwortungsvoll umgeht, das muss doch, bitte schön, auch für Bundesministerien gelten.
Kaess: ..., sagt Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, live bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch!
Özdemir: Gerne! - Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.