Fındıklı, eine Kleinstadt an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei, unweit der Grenze zu Georgien. Rund 16.000 Menschen leben hier in Fındıklı. Viele gehören zur Volksgruppe der Lasen. Die Lasen gelten in der Türkei als traditionsbewusst, heimatverbunden und auch als ein bisschen stur.
Das Land der Lasen und der gesamte Nordosten der Türkei sind von atemberaubender Schönheit. Berge, die auf 3900 Meter ansteigen, dichte Mischwälder mit unvergleichlicher Flora und Fauna, mit tief eingeschnittenen Tälern, reißenden Flüssen und Bächen. Der Nordosten der Türkei ist die wasserreichste Region des Landes. Über 2000 Millimeter Regen pro Jahr fallen hier. Mit unbändiger Kraft schießt das Wasser durch Hunderte von Tälern hinunter zum Schwarzen Meer.
Seniye Özkaya ist Anfang 30. Sie lebt im Haus ihrer Eltern. Sechs Kühe, 30 Hühner, Haselnusssträucher, kleine Teeplantagen sowie ein Obst- und Gemüsegarten sind ihre Einkommensquellen. Dank des üppigen Regens, der gemäßigten Temperaturen, des fruchtbaren Bodens und des Baches gedeiht alles prächtig, sagt Seniye. Für Seniye ist der Bach unterhalb ihres Hauses mehr als nur ein fließendes Gewässer. Das Rauschen des Baches ist für sie Musik, sein Klang eine Therapie.
"Überall ist die Natur schön - auf ihre eigene besondere Art. Aber die Natur am Schwarzen Meer - wie soll ich sagen - ist noch einmal anders. So reich an Wasser. Und es heißt, der östliche Schwarzmeerraum könnte eines Tages der letzte Ort zum Überleben sein."
Seniyes Welt ist in Gefahr. Flüsse und Bäche sollen von Betonmauern eingefasst, ihr Bett soll begradigt werden. Das Wasser der Schwarzmeerregion soll künftig zur Energiegewinnung herangezogen werden. Das Land müsse die gewaltige Kraft des Wassers für die Stromerzeugung nutzen, fordert die Regierung in Ankara. Die Türkei war in den vergangenen Jahren nach China die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der G20-Staaten. Sechs bis neun Prozent betrug das jährliche Wachstum. Der Energiebedarf des Landes ist gewaltig, und er wird immer größer. Deshalb sollen in den kommenden zehn Jahren bis zu 4.000 kleine und mittlere Wasserkraftwerke in der Schwarzmeerregion entstehen. Dank der Energiegewinnung am Schwarzen Meer, schwärmt Haydar Kocaker, langjähriger Chef der Staatlichen Wasserwerke, winke der Türkei eine lichte Zukunft. Den betroffenen Menschen in den Tälern stellt er eine schöne neue Welt in Aussicht.
"Stellen sie sich einen Bach mit 20 Kraftwerken vor. Das bedeutet 20 Regulatoren. 20 Regulatoren bedeuten 20 kleine Stauseen. Die Gebiete um diese Stauseen werden zu Erholungsgebieten erklärt und entsprechend verschönert. Das Wasser geht in Röhren durchs Gebirge, kommt irgendwo wieder heraus, dort entsteht dann ein See, und so entstehen dann viele kleine Seen in den Tälern. Um diese Seen herum würde man Bäume pflanzen, Sitzbänke hinstellen, also eine schöne Gegend gestalten. Menschen haben anfangs immer etwas gegen Veränderung. Das verstehe ich. Aber nehmen wir einmal an, man würde diese Menschen woanders ansiedeln und nachdem alles fertig ist, wieder zurückbringen: Sie würden mit Sicherheit sagen: Oh, ist das aber toll geworden."
Ein Albtraum in Beton. So sehen viele Bewohner der betroffenen Täler die Pläne zum Bau der Wasserkraftwerke. Eine Apokalypse aus Röhren, Tunneln, eingezwängten Bächen, monströsen Steinbrüchen, Umspannwerken und Wäldern aus Strommasten auf engstem Raum.
Asım Kutluata lebt in Fındıklı und ist studierter Bergbauingenieur. Der 47-Jährige ist entschieden gegen Wasserkraftwerke in der Schwarzmeerregion. Das Land, räumt er ein, brauche Energie. Aber die könne auf unterschiedliche Weise gewonnen werden.
"Als Ingenieur möchte ich mich hier nicht gegen die Steigerung der Energiegewinnung aussprechen. In der Türkei funktioniert es aber oftmals so, dass wir erst die Umwelt zerstören und dann mehr Geld in die Regenerierung stecken, als das entsprechende Projekt an Gewinn einbringt. Und es wird am Ende nie so, wie das Original war. Dieses Gebiet hier aber ist noch so unberührt. Das müssen wir schützen."
Bis zum Jahr 2023 – pünktlich zum 100. Geburtstag der Republik – möchte die Türkei zu den zehn größten Industrienationen der Welt gehören. Dafür, unterstreicht Haydar Kocaker, bedürfe es harter Anstrengungen.
"Wenn man Entwicklung und Aufschwung will, wenn man das Land voranbringen und mit anderen Ländern in einen Wettbewerb treten und einen Platz unter den führenden Nationen dieser Welt einnehmen möchte, dann muss man sich bemühen. Man muss sich entwickeln. Aber das geht nicht mit Worten. Es geht nicht, indem ich sage: Nö, wir wollen das nicht. Alles hat seinen Preis. Wenn man nö sagt, wenn man ein Steinzeitleben will, dann gibt es natürlich nicht viel hinzuzufügen. Aber dann muss man auch darauf verzichten, eine Stellung unter den Staaten dieser Welt einzunehmen."
Ja zum Tourismus, nein zu den Wasserkraftwerken, rufen Demonstranten in einem Tal nahe der Provinzhauptstadt Rize. Vielerorts formiert sich Widerstand. Die junge Bäuerin Seniye kämpft mit an vorderster Front.
"Wir sind nicht gegen Wasserkraftewerke oder Energiegewinnung an sich. Wir sind gegen den Schaden, den sie anrichten. Und wir sind gegen unnötige Projekte. Wir haben viele große Staudämme und erzeugen einen Stromüberschuss, denn schliesslich verkaufen wir ja Strom ins Ausland. Warum sollte ich zulassen, dass mir meine paradiesische Natur hier zerstört wird? Das ist der Grund unserer Haltung. Niemand möchte von hier weg."
Viele Menschen in der Nordosttürkei leben vom Teeanbau. Das Klima ist dafür aufgrund ergiebiger Niederschläge und konstant hoher Luftfeuchtigkeit ideal. Die Menschen fürchten, dass ihnen durch die zu erwartenden gewaltigen Zerstörungen in den betroffenen Tälern die Lebensgrundlage entzogen und dass sich das regionale Klima verändern wird. Der Bergbauingenieur Asım Kutluata über die Folgen des massiven Ausbaus von Wasserkraftwerken in der Schwarzmeerregion.
"Es gibt im Wesentlichen zwei unterschiedliche Arten von Wasserkraftwerken. Zum einen die Staudamm-Kraftwerke, wie zum Beispiel Karakaya, Keban oder Atatürk. Hinter einem Damm bildet sich ein See, dessen Wasserspiegel steigt. An der Staudammwand entsteht Druck. Das Wasser wird abgelassen und setzt Turbinen in Gang. Dadurch wird Strom erzeugt."
"Seit einigen Jahren gibt es einen neuen Trend, vor allem am Schwarzen Meer und in einigen Teilen Ostanatoliens. Das Wasser von Bächen und kleinen Flüssen wird abgefangen und in Rohre geleitet. An einer bestimmten Stelle im Gebirge, wo der Höhenunterschied günstig ist, schießt das Wasser dann abwärts und mit hohem Druck durch die Rohre."
"Hier wird das Flusswasser in Rohre umgeleitet und das Flussbett weiter unten bis zur Mündung trocknet aus. Nur 10 Prozent des Wassers sollen weiter fließen und das Flussbett mit Wasser versorgen. Jeder weiß, dass 10 Prozent niemals ausreichen. Das hier ist ein komplexes Ökosystem. Vieles hängt vom Wasser ab, aber auch von dessen Menge. Die Natur bleibt mehr oder weniger im Gleichgewicht - mit dem Gras und den Pflanzen am Bachufer, der hiesigen Luftfeuchtigkeit etc. Ein Eingriff in dieses ausgeglichene Ökosystem würde zweifellos negative Folgen haben."
"Wenn man in diesem Gebirge, in dem es ganz viele enge Schluchten, steile Hänge und so weiter gibt, Tunnel gräbt, dann muss man sich auch klar darüber sein, dass der Abtransport dieses teils sehr felsigen Gerölls sehr problematisch sein wird - ich spreche von Hunderten, von Tausenden Kubikmetern. Wohin mit dem Aushub? Dafür müssen Dutzende riesige Laster anfahren, für die man erst einmal Straßen bauen muss, wegen denen dann hier viel abgeholzt wird. Es drohen Erdrutsche. Kurz: Der Schaden für die Umwelt wäre immens."
4000 Wasserkraftwerke sollen nahe der Schwarzmeerküste entstehen. Hunderte von Flüssen und Bächen sind betroffen. Mehr als 1600 Lizenzen sind bislang vergeben worden, an knapp 240 Projekten wird bereits gearbeitet. Regenerative Energiegewinnung nennen das die Befürworter. Es mag verlockend klingen: sauberer Strom ohne Klimagase, ohne CO2-Ausstoß, ohne radioaktiv strahlenden Abfall. Wasserkraft – ein Segen für die Umwelt? Die Dokumentarfilmerin Arzu Rüya Köksal beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Wasserkraft am Schwarzen Meer.
"Der Hauptkonflikt besteht darin, dass Wasserkraftwerke weltweit als 'grüne Energie' angesehen werden Wir glauben nicht mehr daran. Es mag welche geben, bei denen die Natur intakt bleibt. Aber in unserem Fall [nicht], wo an die 20 [Kraftwerke] an einem kleinen Fluss gebaut werden, dazu wird dann noch das Wasser in unterirdische Beton-Röhren geleitet und verschwindet. Die Landschaft wird der Feuchtigkeit beraubt."
Widerstand gegen den massiven Ausbau von Wasserkraftwerken ist nach Auffassung von Arzu Rüya Köksal die Pflicht aller betroffenen Bürger. Die Filmemacherin betont, Artikel 56 der geltenden Verfassung schreibe jedem türkischen Staatsbürger den Schutz seiner Umwelt vor. Dieser Verfassungsauslegung möchte sich der Dachverband der Wasserkraftunternehmen natürlich nicht anschließen. Der Ausbau der Wasserkraft stärke die Türkei und mache sie von Öl- und Gaseinkäufen in Russland, im Iran, in Aserbaidschan und den arabischen Ländern unabhängiger, so das Credo. Die gewaltigen Investitionen erfolgen dabei aber nicht aus rein patriotischen Zielen.
"Sie schließen Verträge über 49 Jahre. Nach fünf Jahren haben sie ihre Investitionen raus. Sie machen also über 44 Jahre Gewinn. Insofern ist das auch profitabel."
Fahrettin Arman ist der Verbandsvorsitzende der Wasserkraftunternehmen in der Türkei. Er glaubt fest an seine Sache, deshalb hat er auch ein erkleckliches Sümmchen in konkrete Projekte gesteckt.
"In der Türkei gibt es viele Leute und Unternehmen, die in das Geschäft einsteigen. Selbst Ärzte, Änderungsschneidereien oder Goldschmiede investieren in Wasserkraft. Jeder will sich eine Scheibe vom Kuchen abschneiden. Das ist schließlich ein Markt. Wir wollen ja nicht den Fluss der Marktwirtschaft aufhalten."
Arzu: "Bis jetzt gab’s 60 Prozesse. 59 sind zugunsten der Dörfler ausgegangen. Einer ist anhängig. Natürlich gewinnen sie - Atatürk oder Gott oder wem auch immer sei Dank. Das alles steht auf den Füßen einer Verfassung. Das ist Demokratie."
Fahrettin A. Arman: "Gegen mein Projekt läuft ein Verfahren. Die Justiz wird entscheiden. Momentan ist es in Revision. Gebe ich deswegen auf? Nein, auf keinen Fall! Ich bin von der Notwendigkeit dieser Wasserkraftwerke überzeugt. Wegen ein paar Halunken dort werde ich nicht aufgeben. Es geht mir auch gar nicht mehr um meine Investition. Es geht mir darum, die Richtigkeit dieses Vorhabens zu beweisen. Diese Projekte müssen verwirklicht werden."
Viele Bewohner der Schwarzmeerregion sehen das ganz anders. 18 Prozent der in der Türkei erzeugten Energie gingen aufgrund mangelhafter Stromleitungen verloren, sagen sie. Energiesparen sei für viele Menschen in der Türkei ein unbekanntes Wort. Sie stemmen sich gegen die neoliberale Wachstum-koste-es-was-es-wolle-Politik der regierenden islamisch-konservativen AK-Partei.
Er komme aus der Bewegung der islamistischen Wohlfahrtspartei von Necmettin Erbakan, sagt der Kraftwerksgegner Kazim Delal. Auch Ministerpräsident Erdoğan sei über diese politische Schiene gekommen.
"Erdoğan singt gerne das Lied 'Und gemeinsam gingen wir den Weg.' Ich war einer der Gefolgsleute auf diesem Weg. Auch ein Ministerpräsident kann sich irren. Er glaubt, er hat hier etwas sehr Modernes, Gutes eingeleitet. Aber der Ministerpräsident hat nicht Zugang zu allem, was um ihn herum geschieht. Er kriegt manches nicht mit. Dieses Pack, diese Firmen, die schießen sich doch ins eigene Bein. Die bereiten den Weltuntergang vor."
Kasim Delal lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe der Provinzhauptstadt Rize. Aus Rize stammte einst der Vater von Regierungschef Erdoğan, der auszog, sein Glück in Istanbul zu suchen. In Rize wird Recep Tayyip Erdoğan verehrt wie sonst nirgends. Die Politik der AKP, die er entscheidend prägt, wird nicht infrage gestellt. Auch deshalb, glaubt Kazim Delal, wird er in seinem Kampf um das Tal von seinen Nachbarn allein gelassen.
"Was mir wehtut, ist, wie teilnahmslos die Menschen hier in der Gegend sind. Null Interesse daran, was um sie herum passiert. Dabei ist dieses Wasser hier überlebenswichtig für alle Bürger der Gegend. Aber die Menschen sind total verdrossen. Unter tausend Bewohnern finden sich vielleicht drei, die den Mund aufmachen."
Kazim Delal lebt von einer bescheidenen Rente, dem Verkauf von Haselnüssen und geernteten Teeblättern. In der Protesthochburg Fındıklı sind Wasserkraftgegner in der Mehrheit. Kazim Delal aber kämpft in seinem Tal fast allein.
"Du siehst doch die große Tanne dort drüben an der Straße. Dort ist der Eingang zum Bergtunnel. Sie werden das Wasser aus den Bächen hier nehmen und in diesen Tunnel leiten. 13,5 km durch den Berg, stell' dir das vor. Das Wasser, das hier fließt, soll gänzlich von der Natur abgeschnitten und in Rohre eingesperrt wer den und damit allen Kontakt zur Natur und zur Luft verlieren."
Die Kraftwerksgegner fürchten nicht nur um ihre weitgehend intakte Umwelt. Sie wollen verhindern, dass ihnen das Wasser ihrer Bäche und Flüsse auf Dauer weggenommen wird. Wasser, so argumentieren sie, werde schon in absehbarer Zukunft ein knapper Rohstoff sein, der teuer gehandelt werde.
"Wasser ist keine Ware, die man verkaufen kann. Wasser darf nicht verkauft werden. Wasser ist etwas Universelles, es gehört allen Menschen. Schau Dir dieses schöne Tal hier an. Das Grün, das Kraut, das Obst, das Wasser – Das Paradies. In den heiligen Schriften wird genau so - und nicht anders - das Paradies beschrieben. An so vielen Stellen im Koran - in 36 der 114 Suren - wird Wasser gepriesen. Wo immer vom Paradies die Rede ist, ist auch vom Wasser die Rede. In Gottes Namen, warum? Weil es ein so unbeschreiblich wichtiges Element ist."
Um die Wasserrechte zu bekommen, erklärt die Filmemacherin Arzu Rüya Köksal, nutzen die Kraftwerksbauer gewachsenen Traditionen in der Schwarzmeerregion aus.
"Dieses Land, das seit Urzeiten bebaut wird, hat keine eigentlichen Besitzer. Das wird durch mündliche Absprachen weitergegeben. Es gibt keine legalen Papiere. Der Dorfvorsteher war also derjenige, der entscheidet. Die haben all die Verabredungen mit den Gesellschaften getroffen und ihnen das Land verkauft, ohne den Leuten etwas davon zu sagen, und dann haben sie ihnen nur wenig gegeben. Der Dorfvorsteher wurde dadurch reich."
In Fındıklı, der Kleinstadt an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei unweit der Grenze zu Georgien, funktioniert der Widerstand. Hier werden die Täler vielleicht verschont bleiben. Doch andernorts stehen schon Bagger im Bachbett, tragen Berge ab und heben Baugruben aus. Die Justiz mag noch auf der Seite der Gegner sein, doch die Gesetzgeber schreiben zielstrebig Gesetze zum Naturschutz um, Kraftwerksbauer geben ihren Firmen und Projekten neue Namen, um juristische Verwirrung zu stiften und ihr Werk voranzutreiben.
Das Land der Lasen und der gesamte Nordosten der Türkei sind von atemberaubender Schönheit. Berge, die auf 3900 Meter ansteigen, dichte Mischwälder mit unvergleichlicher Flora und Fauna, mit tief eingeschnittenen Tälern, reißenden Flüssen und Bächen. Der Nordosten der Türkei ist die wasserreichste Region des Landes. Über 2000 Millimeter Regen pro Jahr fallen hier. Mit unbändiger Kraft schießt das Wasser durch Hunderte von Tälern hinunter zum Schwarzen Meer.
Seniye Özkaya ist Anfang 30. Sie lebt im Haus ihrer Eltern. Sechs Kühe, 30 Hühner, Haselnusssträucher, kleine Teeplantagen sowie ein Obst- und Gemüsegarten sind ihre Einkommensquellen. Dank des üppigen Regens, der gemäßigten Temperaturen, des fruchtbaren Bodens und des Baches gedeiht alles prächtig, sagt Seniye. Für Seniye ist der Bach unterhalb ihres Hauses mehr als nur ein fließendes Gewässer. Das Rauschen des Baches ist für sie Musik, sein Klang eine Therapie.
"Überall ist die Natur schön - auf ihre eigene besondere Art. Aber die Natur am Schwarzen Meer - wie soll ich sagen - ist noch einmal anders. So reich an Wasser. Und es heißt, der östliche Schwarzmeerraum könnte eines Tages der letzte Ort zum Überleben sein."
Seniyes Welt ist in Gefahr. Flüsse und Bäche sollen von Betonmauern eingefasst, ihr Bett soll begradigt werden. Das Wasser der Schwarzmeerregion soll künftig zur Energiegewinnung herangezogen werden. Das Land müsse die gewaltige Kraft des Wassers für die Stromerzeugung nutzen, fordert die Regierung in Ankara. Die Türkei war in den vergangenen Jahren nach China die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der G20-Staaten. Sechs bis neun Prozent betrug das jährliche Wachstum. Der Energiebedarf des Landes ist gewaltig, und er wird immer größer. Deshalb sollen in den kommenden zehn Jahren bis zu 4.000 kleine und mittlere Wasserkraftwerke in der Schwarzmeerregion entstehen. Dank der Energiegewinnung am Schwarzen Meer, schwärmt Haydar Kocaker, langjähriger Chef der Staatlichen Wasserwerke, winke der Türkei eine lichte Zukunft. Den betroffenen Menschen in den Tälern stellt er eine schöne neue Welt in Aussicht.
"Stellen sie sich einen Bach mit 20 Kraftwerken vor. Das bedeutet 20 Regulatoren. 20 Regulatoren bedeuten 20 kleine Stauseen. Die Gebiete um diese Stauseen werden zu Erholungsgebieten erklärt und entsprechend verschönert. Das Wasser geht in Röhren durchs Gebirge, kommt irgendwo wieder heraus, dort entsteht dann ein See, und so entstehen dann viele kleine Seen in den Tälern. Um diese Seen herum würde man Bäume pflanzen, Sitzbänke hinstellen, also eine schöne Gegend gestalten. Menschen haben anfangs immer etwas gegen Veränderung. Das verstehe ich. Aber nehmen wir einmal an, man würde diese Menschen woanders ansiedeln und nachdem alles fertig ist, wieder zurückbringen: Sie würden mit Sicherheit sagen: Oh, ist das aber toll geworden."
Ein Albtraum in Beton. So sehen viele Bewohner der betroffenen Täler die Pläne zum Bau der Wasserkraftwerke. Eine Apokalypse aus Röhren, Tunneln, eingezwängten Bächen, monströsen Steinbrüchen, Umspannwerken und Wäldern aus Strommasten auf engstem Raum.
Asım Kutluata lebt in Fındıklı und ist studierter Bergbauingenieur. Der 47-Jährige ist entschieden gegen Wasserkraftwerke in der Schwarzmeerregion. Das Land, räumt er ein, brauche Energie. Aber die könne auf unterschiedliche Weise gewonnen werden.
"Als Ingenieur möchte ich mich hier nicht gegen die Steigerung der Energiegewinnung aussprechen. In der Türkei funktioniert es aber oftmals so, dass wir erst die Umwelt zerstören und dann mehr Geld in die Regenerierung stecken, als das entsprechende Projekt an Gewinn einbringt. Und es wird am Ende nie so, wie das Original war. Dieses Gebiet hier aber ist noch so unberührt. Das müssen wir schützen."
Bis zum Jahr 2023 – pünktlich zum 100. Geburtstag der Republik – möchte die Türkei zu den zehn größten Industrienationen der Welt gehören. Dafür, unterstreicht Haydar Kocaker, bedürfe es harter Anstrengungen.
"Wenn man Entwicklung und Aufschwung will, wenn man das Land voranbringen und mit anderen Ländern in einen Wettbewerb treten und einen Platz unter den führenden Nationen dieser Welt einnehmen möchte, dann muss man sich bemühen. Man muss sich entwickeln. Aber das geht nicht mit Worten. Es geht nicht, indem ich sage: Nö, wir wollen das nicht. Alles hat seinen Preis. Wenn man nö sagt, wenn man ein Steinzeitleben will, dann gibt es natürlich nicht viel hinzuzufügen. Aber dann muss man auch darauf verzichten, eine Stellung unter den Staaten dieser Welt einzunehmen."
Ja zum Tourismus, nein zu den Wasserkraftwerken, rufen Demonstranten in einem Tal nahe der Provinzhauptstadt Rize. Vielerorts formiert sich Widerstand. Die junge Bäuerin Seniye kämpft mit an vorderster Front.
"Wir sind nicht gegen Wasserkraftewerke oder Energiegewinnung an sich. Wir sind gegen den Schaden, den sie anrichten. Und wir sind gegen unnötige Projekte. Wir haben viele große Staudämme und erzeugen einen Stromüberschuss, denn schliesslich verkaufen wir ja Strom ins Ausland. Warum sollte ich zulassen, dass mir meine paradiesische Natur hier zerstört wird? Das ist der Grund unserer Haltung. Niemand möchte von hier weg."
Viele Menschen in der Nordosttürkei leben vom Teeanbau. Das Klima ist dafür aufgrund ergiebiger Niederschläge und konstant hoher Luftfeuchtigkeit ideal. Die Menschen fürchten, dass ihnen durch die zu erwartenden gewaltigen Zerstörungen in den betroffenen Tälern die Lebensgrundlage entzogen und dass sich das regionale Klima verändern wird. Der Bergbauingenieur Asım Kutluata über die Folgen des massiven Ausbaus von Wasserkraftwerken in der Schwarzmeerregion.
"Es gibt im Wesentlichen zwei unterschiedliche Arten von Wasserkraftwerken. Zum einen die Staudamm-Kraftwerke, wie zum Beispiel Karakaya, Keban oder Atatürk. Hinter einem Damm bildet sich ein See, dessen Wasserspiegel steigt. An der Staudammwand entsteht Druck. Das Wasser wird abgelassen und setzt Turbinen in Gang. Dadurch wird Strom erzeugt."
"Seit einigen Jahren gibt es einen neuen Trend, vor allem am Schwarzen Meer und in einigen Teilen Ostanatoliens. Das Wasser von Bächen und kleinen Flüssen wird abgefangen und in Rohre geleitet. An einer bestimmten Stelle im Gebirge, wo der Höhenunterschied günstig ist, schießt das Wasser dann abwärts und mit hohem Druck durch die Rohre."
"Hier wird das Flusswasser in Rohre umgeleitet und das Flussbett weiter unten bis zur Mündung trocknet aus. Nur 10 Prozent des Wassers sollen weiter fließen und das Flussbett mit Wasser versorgen. Jeder weiß, dass 10 Prozent niemals ausreichen. Das hier ist ein komplexes Ökosystem. Vieles hängt vom Wasser ab, aber auch von dessen Menge. Die Natur bleibt mehr oder weniger im Gleichgewicht - mit dem Gras und den Pflanzen am Bachufer, der hiesigen Luftfeuchtigkeit etc. Ein Eingriff in dieses ausgeglichene Ökosystem würde zweifellos negative Folgen haben."
"Wenn man in diesem Gebirge, in dem es ganz viele enge Schluchten, steile Hänge und so weiter gibt, Tunnel gräbt, dann muss man sich auch klar darüber sein, dass der Abtransport dieses teils sehr felsigen Gerölls sehr problematisch sein wird - ich spreche von Hunderten, von Tausenden Kubikmetern. Wohin mit dem Aushub? Dafür müssen Dutzende riesige Laster anfahren, für die man erst einmal Straßen bauen muss, wegen denen dann hier viel abgeholzt wird. Es drohen Erdrutsche. Kurz: Der Schaden für die Umwelt wäre immens."
4000 Wasserkraftwerke sollen nahe der Schwarzmeerküste entstehen. Hunderte von Flüssen und Bächen sind betroffen. Mehr als 1600 Lizenzen sind bislang vergeben worden, an knapp 240 Projekten wird bereits gearbeitet. Regenerative Energiegewinnung nennen das die Befürworter. Es mag verlockend klingen: sauberer Strom ohne Klimagase, ohne CO2-Ausstoß, ohne radioaktiv strahlenden Abfall. Wasserkraft – ein Segen für die Umwelt? Die Dokumentarfilmerin Arzu Rüya Köksal beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Wasserkraft am Schwarzen Meer.
"Der Hauptkonflikt besteht darin, dass Wasserkraftwerke weltweit als 'grüne Energie' angesehen werden Wir glauben nicht mehr daran. Es mag welche geben, bei denen die Natur intakt bleibt. Aber in unserem Fall [nicht], wo an die 20 [Kraftwerke] an einem kleinen Fluss gebaut werden, dazu wird dann noch das Wasser in unterirdische Beton-Röhren geleitet und verschwindet. Die Landschaft wird der Feuchtigkeit beraubt."
Widerstand gegen den massiven Ausbau von Wasserkraftwerken ist nach Auffassung von Arzu Rüya Köksal die Pflicht aller betroffenen Bürger. Die Filmemacherin betont, Artikel 56 der geltenden Verfassung schreibe jedem türkischen Staatsbürger den Schutz seiner Umwelt vor. Dieser Verfassungsauslegung möchte sich der Dachverband der Wasserkraftunternehmen natürlich nicht anschließen. Der Ausbau der Wasserkraft stärke die Türkei und mache sie von Öl- und Gaseinkäufen in Russland, im Iran, in Aserbaidschan und den arabischen Ländern unabhängiger, so das Credo. Die gewaltigen Investitionen erfolgen dabei aber nicht aus rein patriotischen Zielen.
"Sie schließen Verträge über 49 Jahre. Nach fünf Jahren haben sie ihre Investitionen raus. Sie machen also über 44 Jahre Gewinn. Insofern ist das auch profitabel."
Fahrettin Arman ist der Verbandsvorsitzende der Wasserkraftunternehmen in der Türkei. Er glaubt fest an seine Sache, deshalb hat er auch ein erkleckliches Sümmchen in konkrete Projekte gesteckt.
"In der Türkei gibt es viele Leute und Unternehmen, die in das Geschäft einsteigen. Selbst Ärzte, Änderungsschneidereien oder Goldschmiede investieren in Wasserkraft. Jeder will sich eine Scheibe vom Kuchen abschneiden. Das ist schließlich ein Markt. Wir wollen ja nicht den Fluss der Marktwirtschaft aufhalten."
Arzu: "Bis jetzt gab’s 60 Prozesse. 59 sind zugunsten der Dörfler ausgegangen. Einer ist anhängig. Natürlich gewinnen sie - Atatürk oder Gott oder wem auch immer sei Dank. Das alles steht auf den Füßen einer Verfassung. Das ist Demokratie."
Fahrettin A. Arman: "Gegen mein Projekt läuft ein Verfahren. Die Justiz wird entscheiden. Momentan ist es in Revision. Gebe ich deswegen auf? Nein, auf keinen Fall! Ich bin von der Notwendigkeit dieser Wasserkraftwerke überzeugt. Wegen ein paar Halunken dort werde ich nicht aufgeben. Es geht mir auch gar nicht mehr um meine Investition. Es geht mir darum, die Richtigkeit dieses Vorhabens zu beweisen. Diese Projekte müssen verwirklicht werden."
Viele Bewohner der Schwarzmeerregion sehen das ganz anders. 18 Prozent der in der Türkei erzeugten Energie gingen aufgrund mangelhafter Stromleitungen verloren, sagen sie. Energiesparen sei für viele Menschen in der Türkei ein unbekanntes Wort. Sie stemmen sich gegen die neoliberale Wachstum-koste-es-was-es-wolle-Politik der regierenden islamisch-konservativen AK-Partei.
Er komme aus der Bewegung der islamistischen Wohlfahrtspartei von Necmettin Erbakan, sagt der Kraftwerksgegner Kazim Delal. Auch Ministerpräsident Erdoğan sei über diese politische Schiene gekommen.
"Erdoğan singt gerne das Lied 'Und gemeinsam gingen wir den Weg.' Ich war einer der Gefolgsleute auf diesem Weg. Auch ein Ministerpräsident kann sich irren. Er glaubt, er hat hier etwas sehr Modernes, Gutes eingeleitet. Aber der Ministerpräsident hat nicht Zugang zu allem, was um ihn herum geschieht. Er kriegt manches nicht mit. Dieses Pack, diese Firmen, die schießen sich doch ins eigene Bein. Die bereiten den Weltuntergang vor."
Kasim Delal lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe der Provinzhauptstadt Rize. Aus Rize stammte einst der Vater von Regierungschef Erdoğan, der auszog, sein Glück in Istanbul zu suchen. In Rize wird Recep Tayyip Erdoğan verehrt wie sonst nirgends. Die Politik der AKP, die er entscheidend prägt, wird nicht infrage gestellt. Auch deshalb, glaubt Kazim Delal, wird er in seinem Kampf um das Tal von seinen Nachbarn allein gelassen.
"Was mir wehtut, ist, wie teilnahmslos die Menschen hier in der Gegend sind. Null Interesse daran, was um sie herum passiert. Dabei ist dieses Wasser hier überlebenswichtig für alle Bürger der Gegend. Aber die Menschen sind total verdrossen. Unter tausend Bewohnern finden sich vielleicht drei, die den Mund aufmachen."
Kazim Delal lebt von einer bescheidenen Rente, dem Verkauf von Haselnüssen und geernteten Teeblättern. In der Protesthochburg Fındıklı sind Wasserkraftgegner in der Mehrheit. Kazim Delal aber kämpft in seinem Tal fast allein.
"Du siehst doch die große Tanne dort drüben an der Straße. Dort ist der Eingang zum Bergtunnel. Sie werden das Wasser aus den Bächen hier nehmen und in diesen Tunnel leiten. 13,5 km durch den Berg, stell' dir das vor. Das Wasser, das hier fließt, soll gänzlich von der Natur abgeschnitten und in Rohre eingesperrt wer den und damit allen Kontakt zur Natur und zur Luft verlieren."
Die Kraftwerksgegner fürchten nicht nur um ihre weitgehend intakte Umwelt. Sie wollen verhindern, dass ihnen das Wasser ihrer Bäche und Flüsse auf Dauer weggenommen wird. Wasser, so argumentieren sie, werde schon in absehbarer Zukunft ein knapper Rohstoff sein, der teuer gehandelt werde.
"Wasser ist keine Ware, die man verkaufen kann. Wasser darf nicht verkauft werden. Wasser ist etwas Universelles, es gehört allen Menschen. Schau Dir dieses schöne Tal hier an. Das Grün, das Kraut, das Obst, das Wasser – Das Paradies. In den heiligen Schriften wird genau so - und nicht anders - das Paradies beschrieben. An so vielen Stellen im Koran - in 36 der 114 Suren - wird Wasser gepriesen. Wo immer vom Paradies die Rede ist, ist auch vom Wasser die Rede. In Gottes Namen, warum? Weil es ein so unbeschreiblich wichtiges Element ist."
Um die Wasserrechte zu bekommen, erklärt die Filmemacherin Arzu Rüya Köksal, nutzen die Kraftwerksbauer gewachsenen Traditionen in der Schwarzmeerregion aus.
"Dieses Land, das seit Urzeiten bebaut wird, hat keine eigentlichen Besitzer. Das wird durch mündliche Absprachen weitergegeben. Es gibt keine legalen Papiere. Der Dorfvorsteher war also derjenige, der entscheidet. Die haben all die Verabredungen mit den Gesellschaften getroffen und ihnen das Land verkauft, ohne den Leuten etwas davon zu sagen, und dann haben sie ihnen nur wenig gegeben. Der Dorfvorsteher wurde dadurch reich."
In Fındıklı, der Kleinstadt an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei unweit der Grenze zu Georgien, funktioniert der Widerstand. Hier werden die Täler vielleicht verschont bleiben. Doch andernorts stehen schon Bagger im Bachbett, tragen Berge ab und heben Baugruben aus. Die Justiz mag noch auf der Seite der Gegner sein, doch die Gesetzgeber schreiben zielstrebig Gesetze zum Naturschutz um, Kraftwerksbauer geben ihren Firmen und Projekten neue Namen, um juristische Verwirrung zu stiften und ihr Werk voranzutreiben.