Die U-Bahn in Toronto. Montagabend. Feierabendverkehr. Ein Waggon voller Menschen. Wer in die Gesichter der Fahrgäste blickt, der sieht die Welt, sagt Torontos Stadtverordnete Kristin Wong Tam:
"Wenn wir den durchschnittlichen Deutschen auffordern würden 'Fahrt bei uns mal U-Bahn', dann würden sie schnell merken, hier in Toronto ist die gesamte Welt zu Hause."
"Hello my name is Oscar and I'm from Mexico."
"My name is Sarah. I am from Tschad."
"Hi, my name is Mustafa. I am from Jemen."
"My name is Yusuf. I am from Tschad."
Oscar, Sarah, Mustafa, Yusuf. Sie gehören zu den 51 Prozent der Einwohner in Toronto, Kanadas Wirtschaftsmetropole, die Einwanderer sind. Gekommen, um zu bleiben. So wie Kamo Mailyan. Geboren in Armenien. Er kam er vor zwei Jahren nach Kanada. Jetzt sitzt er in seinem Apartment am Abendbrottisch. Seine vierjährige Tochter Mariam schläft nebenan. Sie, sagt er, ist das beste Beispiel, dass wir angekommen sind: Einen Morgens, erzählt er, um fünf, wachten meine Frau und ich auf und unsere Tochter nebenan saß im Halbschlaf in ihrem Bett und sie sang die kanadische Nationalhymne.
"Du fängst eben ganz von vorn an"
Kamo hat studiert in Armenien. Das kanadische Punktesystem, das einwanderungswillige Bewerber nach Sprachqualifikation, Berufserfahrung, Ausbildung und Alter einteilt, es sprach für ihn. 67 von 100 Punkten braucht, wer ins Land will. Kamo hatte mehr und doch musste er hier in Kanada ganz unten anfangen.
"Ich habe wirklich Jobs gemacht, um zu überleben, habe Abendkurse an der Uni belegt, Praktika gemacht für meine Bewerbungsmappe und dann haben kanadische Arbeitgeber mich irgendwann wahrgenommen."
Das, sagt Kamo, sei der Königsweg für die meisten Einwanderer. Die Statistik zeigt, dass zwar die Hälfte der Zuwanderer der letzten fünf Jahre einen Hochschulabschluss hatte, die Zuwanderer aber zu Beginn – so sie einen Job finden - fast 40 Prozent weniger verdienen als Kanadier. Viele, vor allem besser ausgebildete Immigranten, kämen aus ihrem Herkunftsland mit der Erwartung, sie hätten in Kanada den gleichen Status wie zu Hause, sagt Kamo. Ein Irrtum., wie auch er feststellte:
"Du fängst eben ganz von vorn an", sagt er. Heute, zwei Jahre später, arbeitet Kamo als Manager bei einer internationalen Handelsgesellschaft, seine Frau Mary - auch aus Armenien – sie sprach kaum Englisch als sie einreiste.
Als wir ankamen, hat sie sich nicht beworben, sondern hat beschlossen, sie besucht eine kostenlose Sprachschule für Einwanderer, um ihr Englisch zu verbessern. Sechs Monate später hatte sie in den Kursen für Einwanderer nicht nur Englisch gelernt, sondern auch, wie man sich in Kanada erfolgreich bewirbt.
Jetzt arbeitet sie für Carl Zeiss, ein deutsches Unternehmen. Das armenische Ehepaar, angekommen im Multi-Kulti-Land Kanada. Kamo profitierte dabei auch davon, dass die kanadische Regierung beim Thema Einwanderung eine Lektion gelernt hat: Die formal beste Ausbildung auf dem Papier eines Einwanderers nämlich sorgt nicht unbedingt dafür, dass er in Kanada automatisch Erfolg hat. Professor Phil Triadafilopoulos, selbst Sohn griechischer Einwanderer, Immigrationsexperte der Uni Toronto, sagt, lange habe es in Kanada ein Missverständnis gegeben:
"Wir haben gesagt: Hey, ihr seid intelligent, ihr kriegt das hier hin'. Aber auch sehr kluge Menschen haben hier eben Schwierigkeiten, alle formalen Voraussetzungen zu erfüllen, um Anwalt, Apotheker oder Arzt zu werden."
Kamo Mailayn hatte Hilfe und Glück. Er nahm Teil an einem vom Staat finanzierten sogenannten Brückenprogramm, beim dem eine Universität hilft, eine Brücke von der Uni in den Job zu bauen. Sie berät, bietet Kurse, Nachschulungen und noch mehr.
"Du hast einen Mentor an der Uni, der berät Dich, hilft Dir, die richtigen Kurse zu belegen, schreibt mit Dir Bewerbungen. Aus meinem Jahrgang gibt's viele Erfolgsgeschichten."
Kamo ist eine von ihnen. Gerade hat er seinen Eltern in Armenien das Foto eines Hochhauses geschickt. Vom Balkon seiner Mietwohnung in Toronto kann er das Haus sehen. Im Sommer will er dort eine Wohnung kaufen. Er, der Armenier, der sich schon fast als Kanadier fühlt:
"I call myself a Canadian Armenian and I call my family Canadian-Armenian family ... "
In der ganz normalen Stadtteilbücherei hier in Don Mills haben sie armenische Kinderbücher für seine Tochter; er kann Stadtverordnete mit armenischer Herkunft wählen. Nächstes Jahr will er Kanadier werden. Nichts anderes wollen doch alle Immigranten, sagt er:
"Sie haben ihre Gemeinden, wollen arbeiten, ihre Kinder großziehen und ein glückliches Leben führen."
Kanada, das Einwanderungsland. Seit 1967 haben sie in Kanada das mittlerweile weltweit bekannte Punktesystem. 100 Punkte. Wer 67 und mehr erreicht, hat die erste und wichtigste Hürde genommen.
"Wenn man das Punktesystem herunterbricht, geht's im Kern um die Fähigkeit der Bewerber, sich zu integrieren, nachzuweisen, dass sie Fähigkeiten eines guten Mittelklassebürgers haben: Sprache, Berufserfahrung. Passen sie in die Gesellschaft? Darum ging es lange Zeit."
Professor Phil Triadafilopoulos, der Einwanderungsexperte, sagt, Kanadier sind nicht per se gute Menschen, nur weil sie Einwanderer ins Land lassen. Einwanderung sei in Kanada im Gegenteil alles andere als Gutmenschentum oder uneigennützig:
"Das System war immer eigennützig. Kanada holt Menschen ins Land, weil wir glauben, sie helfen, eine erfolgreiche Gesellschaft und Wirtschaft zu bilden."
Einwanderung, sie gehört zur DNA eines Landes, das 1962 per Erlass die Qualifikation des Bewerbers, nicht mehr dessen Hautfarbe, Nationalität oder Abstammung in den Vordergrund stellte. Nicht aber aus moralischen, aus wirtschaftlichen Erwägungen. Mario Calla, Direktor von Costi, einem Hilfszentrum für Einwanderer in Toronto, sagt, ohne ständig neue Einwanderer würde die kanadische Bevölkerung ab 2030 kontinuierlich schrumpfen.
"Seit 2012 sind alle neu geschaffenen Jobs mit Immigranten besetzt worden. Mit anderen Worten, im Land geborene Kanadier wären schon jetzt nicht mehr in der Lage, durch Wachstum entstandene Jobs zu besetzen."
Kristin Wong Tam, die Stadtverordnete aus Toronto, Tochter chinesischer Einwanderer, sie weiß ebenfalls sehr genau, dass ohne Einwanderer in Toronto schon heute kein Bus und keine U-Bahn mehr fahren würde. Sie selbst ist in Hong Kong geboren, ihr Vater ein einfacher Arbeiter. Und auch die, sagt sie, würden heute immer benötigt:
"Wir brauchen Arbeiter. Wir brauchen Pfleger, Ärzte, wir haben schlicht zu wenige Arbeitskräfte. Punkt."
Mehr als 80 Prozent der Kanadier halten Einwanderung für wichtig
Gerade erst hat die konservative Regierung Harper die jährlich festzulegende Einwanderungsquote von 260.000 auf 285.000 Menschen erhöht. Kein Murren, kein Protest. Weit über 80 Prozent aller Kanadier sagen, Einwanderung ist wichtig und richtig. Pegida? In Kanada undenkbar. Es gibt nicht eine einzige Partei, die gegen Einwanderer Stimmung machen würde:
Aber die Politik, sie bastelt stets und ständig am System herum. Einwanderung, es ist ein andauerndes Experiment mit sich konstant ändernden Regeln. Über das Punktesystem kommt heute noch knapp die Hälfte der Einwanderer ins Land. Darüber hinaus haben alle Provinzen eigene Programme entwickelt. Ausländische Studenten wiederum können über andere Anträge in Kanada bleiben. Sechs von derzeit zehn Einwanderern sind Wirtschaftsimmigranten. Der Rest kommt über den Familiennachzug oder als Flüchtling ins Land. Und seit Januar dieses Jahres gibt es die neueste Variante:
Express Entry. Die neueste Idee. Wer jung und hoch qualifiziert ist und außerdem nachweisen kann, ein konkretes Jobangebot eines kanadischen Arbeitgebers zu haben, zieht an allen Bewerbern vorbei. Der Einwanderungsprozess, der ansonsten gern auch länger als fünf Jahre dauern kann, geht in diesem Fall in knapp sechs Monaten über die Bühne. Express Entry eben:
"Sie müssen immer noch Teile des Punktesystems erfüllen, aber jetzt haben Arbeitgeber mehr Mitsprache. Die Hoffnung ist wohl, dass das unmittelbare Zusammenspiel von Arbeitsmarkt und Einwanderung, der Wirtschaft insgesamt hilft."
Hohe Dichte an promovierten Taxifahrern
Aber nicht nur in Toronto, der Stadt, wo 51 Prozent der Einwohner nicht in Kanada geboren wurden, kennen sie auch die negativen Seiten. Christin Wong-Tam, die vehemente Verfechterin von Einwanderung, erzählt den Witz, über den viele Taxifahrer der Stadt gar nicht lachen können:
"When I need a medical doctor I call a cap ... "
Wenn Du dringend einen Arzt brauchst, ruf Dir ein Taxi. Jeder dritte Taxifahrer der Stadt, angeblich ein eingewanderter Arzt, der in Kanada nicht praktizieren darf, weil sie seine Examen nicht anerkennen.
Dr. Adel Salama kennt den Witz über die Taxifahrer. Der Mann ist Anfang 50, geboren in Ägypten, jetzt ist er seit drei Jahren in Kanada. Und das mit ganzem Herzen:
"Really I love Canada, really ... "
35 Jahre hat Dr. Adel Salama in Kairo gelebt und gearbeitet. Ziemlich Erfolgreich. Er war Dozent an der Uni, Ingenieur für Mechanik, hatte Jobs in Argentinien, zehn Jahre in Saudi-Arabien. Aber er wollte weg. Sein Ziel, sein Traum: Leben und Arbeiten in Kanada. An diesem Abend kommt er spät nach Hause in sein Apartment in der Dunfield Avenue. Schon durch die Wohnungstür dringt ägyptische Musik - hier in einem Mittelklasse-Mietshaus im sechsten Stock, in dem, wie zuvor in der U-Bahn auch, die Welt versammelt scheint:
"Hier im Haus haben wir Argentinier, Franzosen, Spanier, Russen, Iraner, Libyer, Iraker. Alle Nationen."
"Unser Haus ist wie die Welt", sagt Dr. Naglaa Mossad, die Frau von Adel Salama. Auch sie eine Akademikerin, Dozentin für Haushaltswirtschaft. Drei Kinder haben sie - 8, 11 und 17 Jahre alt. Vor drei Jahren sind sie eingewandert. Mit großen Hoffnungen."
Besonders für besser ausgebildete Einwanderer birgt der Arbeitsmarkt Probleme
Für die Kinder seien sie nach Kanada gegangen. Das Schulsystem sei hervorragend, die Zukunft für sie so viel besser als zu Hause. Und auch die Sicherheitslage. Kein Vergleich. Drei Jahre sind die beiden Akademiker jetzt im Land. Kanada wollte sie. Einen Job aber haben beide bis heute nicht. Das kanadische Punktesystem sprach für sie, die Realität aber ist eine andere, der Arbeitsmarkt speziell für besser ausgebildete Einwanderer schwierig. Bei McDonalds kannst Du schnell einen Job bekommen. Für Naglaa, die Dozentin, aber ist es, sagt Sie, eine Mission impossible, eine unmögliche Aufgabe.
Familie Salama, ein klassischer Fall, sagt Professor Phil Triadafilopoulos.
"Für lange Zeit hat Kanada die schlausten und bestausgebildeten Einwanderer ins Land geholt. Die Jobaussichten aber sind ausgerechnet für sie nicht besonders gut."
Adel Salama und seine Frau Naglaa leben seit drei Jahren von ihren Ersparnissen. Ihr größtes Problem aber: Nicht das Geld. Wie bei vielen anderen Einwanderer auch, werden die Abschlüsse der beiden Akademiker nur teilweise anerkannt. Der Professor und langjährige Ingenieur muss Prüfungen machen, Kanada beweisen, dass er kann, was er längst konnte. Und dazu kommt bei beiden eine weitere Hürde. Die englische Sprache. Er und seine Frau sprechen eher schlechtes Englisch. Beide haben Sprachkurse besucht. Aber für eine Dozentenstelle, beispielsweise für Naglaa, reicht es nicht. Wenn sie Englisch sprechende Immigranten trifft, werde sie manchmal ein kleines bisschen neidisch, gesteht Naglaa:
"Wenn ich Leute sehe, deren erste Sprache Englisch ist, sage ich: Ihr habt Glück. Ich muss eben noch mehr üben, um einen Job als Dozentin zu bekommen. Das zumindest ist mein Traum. "
Zehn Kilometer Luftlinie entfernt, im Stadtteil Weston im Costi Immigration Center, bemühen sie sich Tag für Tag, Einwanderern den Traum vom perfekten Englisch zu erfüllen:
Claudi aus Südafrika ist die Dozentin der Englischklasse. Im Klassenzimmer, neun Erwachsene Männer und Frauen. Die Welt, hier sitzt sie um einen großen Tisch versammelt. Yusuf aus dem Tschad. Er gehört in die Kategorie der taxifahrenden Ärzte. Er, der langjährige Hals-Nasen-Ohrenarzt, hat im Tschad praktiziert. Im Senegal. Hier in Kanada, in Toronto fährt er Taxi, um seine drei Kinder zu ernähren und macht Praktika im Krankenhaus. Unentgeltlich. Vielleicht klappt es irgendwann doch noch, hofft er. Hier im Costi-Einwandererzentrum helfen sie Yusuf, Oscar, Sarah und anderen Immigranten, die englische Sprache zu lernen. 350 Mitarbeiter gibt es, 63 Sprachen sprechen sie hier. Und von morgens acht bis abends sechs klingelt das Telefon. Sie lernen hier, Bewerbungen zu schreiben, ein Konto zu eröffnen, aber auch Kanada zu verstehen. Das politische System zu Beispiel.
Wir kennen uns ziemlich gut aus, sagt Claudi, die Lehrerin. Alle neun Schüler von ihr übrigens wollen möglichst bald kanadische Staatsbürger werden. Die schnelle Staatsbürgerschaft, noch so ein Punkt, sagt Costi-Direktor Mario Calla, der jedem Einwanderer signalisiere: Du bist hier willkommen.
"85 Prozent der Einwanderer nehmen die Staatsbürgerschaft. Nichts zeigt einem Einwanderer mehr, dass er willkommen ist, als das Recht, schon nach drei Jahren Staatsbürger werden zu können. "
Dr. Adel Salama, der ägyptische Ingenieur auf Jobsuche, auch einer von denen, die auf jeden Fall die Staatsbürgerschaft beantragen werden. Auch wenn er derzeit noch zwischen den ägyptisch-kanadischen Welten pendelt:
"Im Augenblick bin ich etwas durcheinander. Im Moment fühle ich mich als kanadischer Ägypter. Oder als Ägypter, der vielleicht irgendwann Kanadier wird."
Omar, sein elfjähriger Sohn, sitzt neben ihm. Omar spricht fließend Englisch und Arabisch. Er ist der beste in seiner Klasse. An seine alte Heimat Ägypten hat er keine Erinnerung mehr. Er ist das, was die Einwanderungsexperten in Kanada die zweite, die zumeist sehr erfolgreiche Generation von Einwanderern nennen und Omar, der Elfjährige, er weiß sehr genau, welches Land er Heimat nennt:
Canada!