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Premierminister fordert Reformen
Selbstbedienung und Vertuschung im kanadischen Sport

Kanada sieht sich gerne als Musterland im internationalen Sport. Das passt so gar nicht zu den Enthüllungen der letzten Wochen über die Selbstbedienungsmentalität und die Vertuschungsbemühungen der Funktionäre. Im Fokus: der Eishockeyverband und damit die Nationalsportart Nummer eins.

Von Jürgen Kalwa |
Ein Eishockeyschläger auf einer auf das Eis projizierte kanadische Flagge.
Der kanadische Eishockeyverband steht aufgrund von Selbstbedienungsmentalität und Vertuschungsbemühungen in der Kritik. (imago images / ZUMA Wire / imago sportfotodienst)
Die wichtigsten Fakten liegen seit mehreren Wochen auf dem Tisch. Seit das Parlament in Ottawa den Vorstand des kanadischen Eishockeyverbandes vorlud und die Fernsehnachrichten gleich nach der Anhörung Ende Juli groß berichteten.
Der Verband hat seit Jahren in aller Stille immer wieder auf Anschuldigungen gegen Spieler und Trainer nur auf eine Art reagiert: Man zahlte Schadenersatz an die Opfer, aber nötigte sie im Gegenzug zur absoluten Verschwiegenheit. So wie im Fall einer jungen Frau, die 2018 von mehreren Juniorennationalspielern sexuell missbraucht wurde und umgerechnet knapp drei Millionen Euro erhielt. Das Geld nahm man aus dem großen Topf, in den jedes aktive Mitglied seine Jahresgebühren einzahlt. Im Mutterland der Sportart mehr als 600.000 Amateurspielern. Die meisten im Juniorenalter.

Für Finanzchef "business as usual"

Für Finanzchef Brian Cairo nicht mehr als “business as usual”, wie er vor dem Parlamentsausschuss sagte. Er habe Verständnis für den Unmut von Eltern, die die Gebühren für Eishockey spielende Kindern bezahlen. Aber das sei eben gängige Praxis.
Die Haltung passt zu dem, was ein anonymer Informant – ein ehemaliges Vorstandsmitglied - vor wenigen Tagen berichtete. Auf höchster Ebene geht man mit Geld ziemlich lax um und steckt sich offensichtlich seit Jahren nicht nur Sachwerte wie Großbildfernseher, Heimkinosysteme, iPads und Reisegepäck zu.
Zitat: ”Man hat eine Kreditkarte und kann jeden Monat Tausende von Dollar für Wein und Essen ausgeben. Wohnt in den besten Hotels, wenn man für den Verband reist, und wird zu Partys in der Präsidentensuite des Hotels eingeladen, in der auch der Vorstandsvorsitzende wohnt.”

Justin Trudeau: "Wir erwarten Reformen"

Auf die Enthüllungen über eine derartige Selbstbedienungsmentalität reagierte Premierminister Justin Trudeau vor wenigen Tagen mit einer klaren Ansage: “Es ist schwer, auch nur in irgendjemanden im kanadischen Eishockeyverband Vertrauen zu haben. Das ist absolut inakzeptabel. Weshalb wir unsere finanzielle Unterstützung eingefroren haben. Wir erwarten Reformen, Transparenz und Rechenschaft. Wenn ich sehe, wie diese Kultur anscheinend die höchsten Stellen dieser Organisation durchdrungen hat, kann ich gut verstehen, warum so viele Eltern, so viele Kanadier, die so stolz sind auf unsere Nationalsportart, absolut angewidert sind.”

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Was da alles schief läuft, beobachtet der Kanadier Rob Koehler, Generaldirektor der weltweit aktiven Sportlerorganisation “Global Athlete”, schon seit einer Weile mit Sorge. Der Missbrauch von Athleten und das Desinteresse der Funktionäre ist nämlich nicht aufs Eishockey beschränkt. Auch in anderen Verbänden regiert man nach Gutsherrenart.
Dem Deutschlandfunk sagte er: "Wir haben über 500 Turner, Hunderte von Bob- und Skeletonfahrer, Boxer und Fußballer. Wir fordern eine unabhängige gerichtliche Untersuchung. In Kanada gab es so etwas, als Ben Johnson 1988 in Seoul positiv getestet wurde. Es führte zu Veränderungen in der ganzen Welt.”

Opfer und Insider werden mundtot gemacht

Aufklärung wird von den Verbänden gezielt unterminiert. Das taktische Mittel um Opfer und Insider mundtot zu machen, die die Verhältnisse kennen: Sie müssen Verschwiegensheiterklärungen unterschreiben, sobald sie irgendwelche Ausgleichszahlungen erhalten.
Eine Maulkorb-Manie, die Koehler ausdrücklich kritisiert: "Wir haben uns einige Verpflichtungen angeschaut, die von Mitarbeitern von Sportverbänden abgegeben wurden, die Missstände erkannt hatten, aber hinausgedrängt wurden. Man setzt sie unter Druck, so etwas zu unterschreiben, wenn sie eine Abfindung erhalten wollen. Es ist sehr besorgniserregend, dass sie ihr Wissen über Missbrauch verschweigen sollen. Das ist völlig falsch. Wir wissen von einem Fall, in dem eine beträchtliche Summe Geld angeboten wurde, damit jemand über eine Vergewaltigung schweigt. Diese Person hat die Erklärung allerdings  nicht unterschrieben.”
So groß der öffentliche Druck inzwischen ist, weil mit dem Eishockeyverband die Sportart Nummer eins ins Zwielicht geraten ist: Grundlegende Konsequenzen hat es bislang noch nicht gegeben.