Barbara Schmidt-Mattern: Herzlich willkommen Annalena Baerbock, 37 Jahre alt, grüne Bundestagsabgeordnete, Klimaexpertin, Kandidatin für den Parteivorsitz der Grünen. Und Sie sind begeisterte Trampolinspringerin, habe ich gelesen und bin darüber gestolpert. Das müssen Sie uns erklären. Warum gerade Trampolin?
Annalena Baerbock: Also, ich mache das schon seit Kindheitstagen, bin auf dem Dorf in Niedersachsen großgeworden. Und beim Kinderturnen sagte die Turnlehrerin zu meiner Mutter: 'Mit Ihrer Tochter, die sollte zum Kunstturnen.' Da das aber zu weit weg war von Hannover, ja, haben wir dann festgestellt, dass es im nächsten Dorf einen Trampolinverein gab und da bin ich dann hingegangen und habe das dann, ja, meine ganze Kindheit und Jugend durch gemacht dann richtig als Leistungssport.
"Meine Eltern haben mich zu Demos mitgenommen"
Schmidt-Mattern: Da haben Sie jetzt schon ein bisschen aus Ihrer Jugend erzählt. Sie sind aufgewachsen in der Nähe von Hannover in einem kleinen Dorf. Das ist in den 80er Jahren eine hochpolitische Gegend gewesen. Wurden Sie da schon irgendwie grün geprägt oder wie kamen Sie eigentlich zu den Grünen?
Baerbock: Also, sicher schon auch familiäres Umfeld. So rückblickend denkt man ja auch immer: 'Mensch, was hat man als Kind gemacht?' Also, irgendwie in der Grundschule habe ich thematisiert, dass wir keinen Fasching feiern durften wegen dem ersten Irakkrieg. Das kommt ja nicht bei so einem Kind alleine in den Kopf. Meine Eltern haben mich auch zu mehreren Demos mitgenommen. Ja, und dann sind wir so …
Schmidt-Mattern: Welche Demos? Gegen Gorleben wahrscheinlich?
Baerbock: Ja, schon als ich zwei war. Abrüstungsdemos also. Ja. Dann vor Ort, was man so erlebt hat. Also, auch in den 90ern gab es bei uns im Dorf eine Flüchtlingsunterkunft, direkt gegenüber von der Bushaltestelle, wo ich immer zur Schule gefahren bin. Da gab es einen Brandanschlag drauf. Das hat mich total umgetrieben. Und, ja, deswegen waren politische Themen irgendwie von Anfang an auch das, was mich selbst interessiert hat.
Schmidt-Mattern: Flüchtlinge, Umweltschutz, das sind ja durchaus Themen, die auch andere Parteien ansprechen und vertreten. Warum haben Sie sich gerade für die Grünen entschieden?
Baerbock: Also, das kommt ja, glaube ich, genau, wie man geprägt wird, was man so gemacht hat. Ich war immer schon grünenaffin, habe mir zum Geburtstag ein Greenpeace-Buch gewünscht. Bin aber dann lange auch jetzt nicht politisch aktiv geworden, weil ich selber während der Schulzeit schon für eine Zeitung auch geschrieben habe, dann im journalistischen Bereich eher mich umgeschaut habe und da gedacht habe: Na ja, dann gleich in eine Partei einzutreten, ist vielleicht nicht so günstig als Journalistin. Und habe dann aber über ein Praktikum, weil ich das Europaparlament mal von innen sehen wollte, bei einer Grünenabgeordneten gearbeitet und bin dann auch, ja, Parteimitglied geworden.
"Wir haben große Zukunftsfragen in ganz Europa"
Schmidt-Mattern: Parteimitglied - und jetzt wollen Sie Parteichefin werden und Cem Özdemir und Simone Peter ablösen bei der Bundesdelegiertenkonferenz, die am nächsten Wochenende in Hannover stattfindet. Die Grünen haben es ziemlich schwer jetzt, seitdem Jamaika geplatzt ist. Sie waren ja übrigens Mitglied oder Teilnehmerin dieser sogenannten "wilden 14", also des Verhandlungsteams der Grünen bei den Jamaika-Gesprächen. Und was ist den Grünen jetzt geblieben? Sie sind von sieben Parteien die kleinste Fraktion im Bundestag. Und da frage ich mich: Warum wollen Sie in so düsteren Zeiten jetzt die Grünen anführen?
Baerbock: Weil das richtig stürmische Zeiten sind. Dieses Land sieht eine Menge von Themen. Wir haben große Zukunftsfragen in ganz Europa, die angegangen werden müssen. Das ist mir total wichtig. Ich bin leidenschaftliche Europäerin. Dass wir nicht zurück ins nationale Kämmerlein fallen, sondern unsere Politik in allen Bereichen, sei es Kinderarmut, sei es Agrarpolitik, europäisch gestalten.
Schmidt-Mattern: Dennoch treibt Sie nicht die Sorge um, dass dieser grüne Ansporn, dass der wieder verloren gehen könnte, einfach, weil Sie gar nicht das Medium, auch keine Regierungsämter, keine Ministerämter haben, um die grüne Botschaft ans Volk zu tragen?
Baerbock: Aber deswegen muss man ja umso mehr kämpfen. Also, natürlich, wir haben als Grüne in den Sondierungen alles gegeben. Dass das dann nicht geklappt hat, das hat einen natürlich persönlich wirklich frustriert, weil man macht ja Politik, um dieses Land zu verändern. Klar, Sie haben es angesprochen, wir sind die kleinste Oppositionsfraktion, aber aus meiner Sicht kommt es jetzt nicht darauf an, in welcher Quantität man auf den Stühlen des Bundestages sitzt, sondern mit welcher Qualität man wirklich für seine politischen Themen streitet. Und dazu will ich massiv mit beitragen.
Schmidt-Mattern: Ich möchte gerne noch mal kurz zurück, bevor wir auf die Themen kommen, zu Ihrer Kandidatur für den Bundesparteivorsitz. Ich vermute mal, dass Sie an Ihrer Bewerbungsrede schon feilen und ich habe mich gefragt: Wie kann ich mir das vorstellen? Mein alter Lateinlehrer, der brauchte immer mehrere gute Gläser Rotwein, um die Lateinklausur aufzusetzen. Wie wollen Sie die Delegierten erobern bei der BDK nächste Woche?
Baerbock: Ich brauche keine Gläser Rotwein. Ich brauche immer die Nachtstunden irgendwie. Ich kann nachts am besten arbeiten, trägt aber nicht so dazu bei, dass man ausgeschlafen ist am nächsten Morgen. Ich bin - Sie haben es schon angesprochen - leidenschaftliche Klimapolitikerin. Das habe ich in den letzten Jahren massiv hier bei uns im Bundestag mit vorangetrieben. Europäerin vom Herzen her. So bin ich auch dann bei den Grünen aktiv geworden, habe ja sehr lange in unserer Bundesarbeitsgemeinschaft, das sind so parteiinterne Think Tanks, gearbeitet. Und dann treibt mich die Frage "Kinderarmut" persönlich sehr stark um. Ich habe selber zwei kleine Kinder. Und, wenn man mitbekommt, zum Beispiel in der Grundschule, dass manche Kinder einfach nicht am Schulessen teilnehmen, an manchen Orten sind das ein Drittel der Kinder, dann muss man einfach sagen: Hier stimmt was nicht in unserem Land. Und ich will gerne den Finger in diese Wunde legen, leidenschaftlich kämpfen. Ich bin überzeugt, wir müssen radikal in der Sache sein und dann aber von der Haltung her staatstragend. Also, es kommt auch darauf an, dass wir unsere politischen Ziele erreichen und nicht, dass wir sagen, wir haben uns jetzt Weg A aber überlegt, deswegen geht Weg B nicht, obwohl der zum gleichen Ziel führt. Und das ist meine Motivation, dass wir diesen programmatischen Prozess so führen, dass es Debatten sind, die auch gesellschaftlich unter die Haut gehen und wieder Menschen auch mitreißen: 'Mensch, bei den Grünen, ich will bei denen mal mitdiskutieren, weil da ist es wirklich spannend.'
"Wir sind als Grüne fest verortet im linken Lager"
Schmidt-Mattern: Sie haben ja zwei Mitbewerber. Robert Habeck aus Schleswig-Holstein, den Umweltminister und Anja Piel, Fraktionschefin bislang in Niedersachsen, dort im Landtag. Was ist denn im Vergleich zu den beiden das Alleinstellungsmerkmal von Annalena Baerbock?
Baerbock: Also, ich trete für mich als Person an und nicht gegen jemand anderes. Und ich habe es auch nicht so in der Politik damit immer zu sagen so, der macht das schlecht und deswegen bin ich gut. Und auf der anderen Seite offen zu diskutieren und auch mal zu sagen: 'Hey, du hast vielleicht auch Recht oder ich nehme mal deine Blickweise ein.' Und ich glaube, das müssen wir als Politik insgesamt wieder schaffen, dass die Leute Lust auf Politik, Lust auf Demokratie haben. Und dafür trete ich an.
Schmidt-Mattern: Ihre grünen Parteistrategen, die brüten ja schon über den neuen Strategien für die Zukunft, also eigentlich auch der großen Richtung, wo wollen die Grünen sich hinbewegen und in welche Richtung wollen sie. Das sage ich auch bewusst in Bezug auf die Flügeldebatte, die bei Ihnen ja gerade wieder geführt wird, ob das überhaupt noch sinnvoll ist, dass die Grünen diese beiden Flügel, Realo- auf der einen, Linksflügel auf der anderen Seite, dass die das so pflegen. Und bei diesen Zitaten, die da im Moment aus Ihrer Partei so kommen, ist mir eines aufgefallen, dass zum Beispiel Anton Hofreiter sagt: 'Wir Grüne wollen die führende Partei der linken Mitte werden.' Sie gelten als Vertreterin des Realo-Flügels. Mit Ihnen gäbe es also keinen Linksruck?
Baerbock: Wir sind als Grüne fest verortet im linken Lager. Also, daran habe ich gar keinen Zweifel, sondern wir sind die Partei der linken Mitte. Das sehe ich genauso wie Anton Hofreiter. Und in Zeiten, wo der Bundestag nach rechts rückt, wo frauenfeindliche Sprüche wieder auf der Agenda stehen, genauso wie Rassismus, gilt es für uns Grüne erst recht, die linksliberale, emanzipatorische Fahne hochzuhalten. Und da müssen wir laut und deutlich in der Sprache sein. Ich trete daher für die Gesamtpartei an, wo alle Stimmen gehört werden müssen. Das ist für mich vollkommen klar. Ich war auch Landesvorsitzende. So habe ich das immer gemacht. Und das heißt für mich, natürlich auch die Flügeldebatten zu hören, aber auch die unterschiedlichen regionalen Perspektiven oder auch die Position des globalisierungskritischen Studenten und auf der anderen Seite des Ministerpräsidenten. Das gehört für mich alles zusammen, insbesondere, wenn man es jetzt wieder gesellschaftspolitisch sieht. Nehmen wir zum Beispiel mal die Europapolitik. Das ist eins der zentralen Themen jetzt auf der politischen Agenda.
Schmidt-Mattern: Nun haben ja die GroKo-Sondierer, also die Unionsparteien und die SPD, das Kapitel Europa ganz weit oben in ihr 28-Seiten-Papier geschrieben. Von Martin Schulz gab es auch zwischenzeitlich einmal die Forderung, dass man doch die "Vereinigten Staaten von Europa" brauche. Ist das zum Beispiel eine Vision, "Vereinigte Staaten von Europa", die Sie unterschreiben würden?
Baerbock: Ich persönlich ja. Und diese Diskussion will ich auch weiterführen. Nur, so, wie das Martin Schulz gemacht hat, man kann nicht einfach mal "Vereinigte Staaten von Europa" sagen, weil es gerade so toll klingt. Weil was er genau gesagt hat, ist ja: 'Ja, "Vereinigte Staaten von Europa", das könnte man dann 2025 machen, weil das passt so super, weil dann haben wir ja in dem Jahr das vor 100 Jahren als Sozialdemokraten schon mal gefordert.' Wenn man die Europapolitik an seiner eigenen Parteibinnenlogik ausrichtet, dann macht man das kaputt.
Grenzländer mit Flüchtlingen nicht alleine lassen
Schmidt-Mattern: Dann verstehe ich Sie richtig, Frau Baerbock, dass Sie die europapolitischen Vorstellungen von Union und SPD, wenn denn eine Große Koalition wieder zustande kommt, dass Sie die Europapolitik schon jetzt gar nicht überzeugend finden?
Baerbock: Nein, weil ich bin nicht so eine, die sagt, irgendwie egal, was da kommt, ich finde erst mal alles schlecht, weil es kommt nicht von mir als Grüne. Ja, das meine ich auch so ein bisschen mit der Art und Weise, wie man Politik macht. Ich habe Lust, dieses Land zu verändern und man verändert es am einfachsten, wenn man breite Bündnispartner hat. Deswegen muss man sagen, das, was SPD und Union jetzt da aufgeschrieben haben, das hat einen proeuropäischen Kurs. Das muss jetzt aber auch unterfüttert werden.
Schmidt-Mattern: Brauchen wir denn aus Ihrer Sicht jetzt eine klare Quote in Europa zur Verteilung der Flüchtlinge? Muss sich eine neue deutsche Bundesregierung dafür stärker einsetzen in Brüssel?
Baerbock: Ja. Als Grüne haben wir ein Konzept auch vorgelegt. Wir haben ganz klar gesagt, es kann nicht sein, dass diejenigen, die schon am härtesten damit ringen, wirklich Flüchtlinge aufzunehmen - und das sind die Grenzländer -, dass die damit alleingelassen werden. Und ich habe da auch eine ganz persönliche Erfahrung mit, weil ich mich vor Ort sehr, sehr stark auch mit meinem Verein um Flüchtlingsfamilien kümmere. Ein Mann ist da bei mir, der jetzt seit anderthalb Jahren auf seine Familie in Griechenland gewartet hat. Der ist hier anerkannt. Die hätten eigentlich kommen können. Man hat sich immer wieder gefragt: Warum kriegen die jetzt ihr Visum nach Deutschland nicht? Ja, und die kriegen es nicht, weil es intern Ansagen von Deutschland an Griechenland gibt. Wir wollen aber nur eine bestimmte Zahl pro Jahr überhaupt nehmen - und pro Monat vor allen Dingen -, selbst, wenn wir was viel Höheres zugesagt haben. Und das geht halt überhaupt gar nicht. Das ist nicht solidarisch in Europa.
Schmidt-Mattern: All diese europapolitischen Forderungen, die Sie da erheben, auch an eine künftige neue Bundesregierung, die können ja im Moment erst mal nur wahrwerden, wenn der SPD-Parteitag in Bonn grünes Licht gibt für die Aufnahme von Koalitionsgesprächen. Trauen Sie sich eine Prognose zu? Werden die Delegierten den Daumen senken oder heben?
Baerbock: Nein, ich traue mir da überhaupt gar keine Prognose zu. Ich weiß von meiner eigenen Partei, wie turbulent Parteitage sein können. Und ich bin nicht diejenige, die hier zu beurteilen hat, wie SPD-Parteitage ablaufen werden.
Schmidt-Mattern: Möchten Sie denn jetzt in der Haut der Sozialdemokraten gerade stecken?
Baerbock: Natürlich ist das jetzt eine total schwierige Situation. Das war ja bei uns, bei Jamaika, genauso. Wir haben immer uns auch während der Sondierungen gefragt: Also, ist das Glas Wasser jetzt halb voll oder ist es halb leer? Reicht das für den Grünen-Parteitag? Und ich war dann so sauer, weil Christian Lindner dieses Glas umgekippt hat, bevor wir auf unseren Parteitag gehen konnten und dort diskutieren konnten, ist es halb voll oder halb leer. Deswegen, dieses Ringen, das kann ich verstehen. Aber was ich schon heftig finde, ist, dass in zentralen Bereichen, wo wir Grünen wirklich auch bei der Union was rausverhandelt hatten, der Klimaschutz, nämlich den Einstieg in den Kohleausstieg, die Frage Familiennachzug, dass wir das wirklich mit heftigstem Ringen erreicht haben, aber auch im Bereich Pflege, was ja die Zukunftsaufgabe unseres Landes ist, dass da dieses Sondierungspapier so schwach ist, das finde ich schon ziemlich heftig. Und das muss die SPD aber jetzt mit sich selbst klären.
Klimaziele: "In den letzten neun Jahren nichts passiert"
Schmidt-Mattern: Kohleausstieg - ein ganz wichtiges Stichwort, gehört zu Ihrem Fachgebiet. Sie sind klimapolitische Sprecherin der Fraktion im Bundestag, der Grünen. Jetzt ist geplant von den GroKo-Sondierern, dass eine Kommission bis Ende dieses Jahres ein Ausstiegsdatum für die Kohle erarbeiten oder sogar aufschreiben soll. Das ist doch jetzt eigentlich ein guter Kurs.
Baerbock: Nein. Das muss ich ganz klar so sagen. Und ich hoffe, ich mache es jetzt nicht zu komplex. Dazu neigt man manchmal als Fachpolitikerin ja. Die zentrale Aufgabe, die jetzt ansteht, ist, das deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 zu erreichen. Das heißt 40 Prozent Reduktion der Emission in Deutschland, im Vergleich zu 1990. Da klafft eine riesengroße Lücke, weil in den letzten neun Jahren hier nichts passiert ist.
Schmidt-Mattern: Das Ziel ist ja auch schon begraben. Das 2020er Ziel, also das, was sich die Bundesregierung selber gesteckt hat - das müssen wir, glaube ich, noch mal kurz erklären - dass man eigentlich bis zum Jahre 2020 40 Prozent weniger CO2-Emissionen in Deutschland haben wollte, verglichen mit dem Jahr 1990, das werden wir eh nicht mehr erreichen.
Baerbock: Nein. Wir müssen alles dafür tun, dass wir dieses Ziel mit aller Kraft noch schaffen können. Das ist sehr, sehr schwierig, weil die Lücke ist riesengroß, weil - wie gesagt - neun Jahre lang hier keine Tonne wirklich gesenkt wurde an CO2. Aber das ist völkerrechtlich verbindlich verankert. Das ist die Umsetzung des Kyoto-Protokolls. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dieses Ziel zu erreichen. Und da kommt man um den Kohleausstieg nicht drum herum. Und deswegen, um auf Ihre Frage zurückzukommen, mit dieser Kommission. Wir müssen jetzt schrittweise Kohleblöcke vom Netz nehmen. Es braucht eine Kommission, das haben wir auch gesagt, zur Begleitung dieses schrittweisen Kohleausstiegs. Wie machen wir das in den Regionen? Was ist mit den Beschäftigten? Was die GroKo jetzt aber machen will, ist einfach das ganze Thema in eine Kommission verschieben, das heißt, kein Gesetz dafür zu schaffen. Und das ist der riesengroße Unterschied zu uns Grünen. Wir haben rausverhandelt zu sagen, wir machen ein Kohleausstiegsgesetz, damit wir überhaupt in den nächsten Jahren diese Blöcke vom Netz nehmen können. Das muss ja rechtssicher sein. Mit dem Aufschub in die Kommission bedeutet das in den nächsten drei Jahren, also bis dieses Ziel überhaupt noch erreicht werden kann, wird es nicht wirklich zur Kohleabschaltung kommen. Und das ist fatal für das Klima, weil die Klimakrise, die macht keine Pause. Die wartet nicht darauf, dass diese Kommission dann endlich fertig getagt hat.
Schmidt-Mattern: Ein beliebtes Argument der Gegner eines schnellen Kohleausstiegs lautet ja immer wieder, dass man sagt, wenn Deutschland allzu schnell aus der Kohle aussteigt, sind wir im Zweifel an Tagen, wo nicht genug Sonne und Wind herrscht, angewiesen auf Stromimporte aus dem Ausland, sprich Atomstrom zum Beispiel aus Frankreich. Wie wollen Sie dieses Argument entkräften?
Baerbock: Natürlich ist es so, dass Versorgungssicherheit und Klimaschutz Hand in Hand gehen müssen. Genauso wie die Frage "soziale Absicherung der Beschäftigten".
Schmidt-Mattern: Aber wie denn, Frau Baerbock?
Baerbock: Das ist ein Dreiklang. Und es ist aber so - und das ist einfach Fakt, da kommt man nicht drum herum - wir haben massiv Stromexporte. Wir exportieren ein Zehntel unseres Stroms ins Ausland, in andere Länder. Die osteuropäischen Staaten haben schon gesagt: 'So geht das nicht weiter, ihr verstopft unsere Netze.' Deswegen haben wir gesagt, diese zehn Prozent Export die können wir an Kohle vom Netz nehmen. Und natürlich gibt es Schwankungen. Das ist vollkommen klar. An Tagen wie diesen, wo es grau ist, da haben wir natürlich viel weniger erneuerbare Energien. Deswegen haben wir Speicher. Deswegen fungiert das Netz als Speicher. Und das ist alles ausgerechnet. Ich habe irgendwie keine wirkliche Lust, mir gerade mit den politischen Akteuren, die das besser wissen, zu sagen, das kann nicht funktionieren. Die Bundesnetzagentur, das Bundeswirtschaftsministerium war mit dabei in den Sondierungsgesprächen, als Experten geladen, haben das durchgerechnet. Das ist machbar. Schrittweiser Kohleausstieg. Und dieses 'von heute auf morgen wird alles abgeschaltet', das ist ja totaler Quatsch. Wir reden hier um den Einstieg in den Kohleausstieg, zehn Prozent von Kohlekapazitäten erst mal rauszunehmen. Und das ist auf jeden Fall möglich. Ansonsten, wie gesagt, exportieren wir weiter unseren Strom in andere Länder. Und das führt dazu, dass die Erneuerbaren einfach auch nicht weiter ausgebaut werden.
"Als Mutter von zwei Kindern sage ich: Mir bricht das Herz"
Schmidt-Mattern: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Annalena Baerbock, grüne Bundestagsabgeordnete und Kandidatin für den Parteivorsitz beim Parteitag der Grünen kommende Woche in Hannover. Frau Baerbock, ein ganz umstrittenes Thema, über das alle Parteien seit Monaten jetzt ringen, ist das Thema Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge. Die Unions- und SPD-Sondierer haben gerade festgelegt, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit diesem eingeschränkten Schutzstatus auf 1.000 Menschen pro Monat begrenzt werden solle. Ist das jetzt der richtige Kurs?
Baerbock: Nein, ist er nicht. Als Mutter von zwei kleinen Kindern sage ich ehrlich, mir bricht das Herz. Wir hatten, als der Familiennachzug ausgesetzt wurde, eine heftigste Debatte im Bundestag und jetzt dieser Tage wieder, auch im Bundestag. Und ich bin echt ratlos, wenn man dann sich anhört, wie da diskutiert wird. Ja, also diese Haltung: 'Ja, meine Güte, die können ja noch ein bisschen warten.' Und jetzt zu wissen, hier leben Menschen seit drei Jahren, sind getrennt von ihren Familien, wir könnten sie auf legalem Wege … das kommt ja hinzu beim Familiennachzug. Da geht man an eine Botschaft. Da holte man sich ein Visum. Da kommt man mit dem Flugzeug. Die Kommune kann sich darauf einstellen, okay, in ein paar Monaten kommt die Familie dazu. Dass man diesen legalen Weg zu macht, obwohl selbst der Deutsche Städtetag sagt, das ist essentiell für die Integration derjenigen hier vor Ort, das kann ich einfach nicht nachvollziehen. Das ist inhuman und es schadet der Integration in diesem Land.
Schmidt-Mattern: Frau Baerbock, Sie hätten die großen Linien der deutschen Regierungspolitik im Bund schon lange mitbestimmen können, wenn Sie schon 2013 in ein schwarz-grünes Bündnis mit der Union und mit Angela Merkel gegangen wären. Das hat Ihre Partei damals nicht so richtig hingekriegt. Da gibt es auch heute noch gegenseitige Schuldzuweisungen, an wem es denn nun gelegen hat. Aus Ihrer Sicht, war das ein Fehler, dass Sie schwarz-grün damals nicht gemacht haben?
Baerbock: Ich war damals nicht dabei. Alles, was ich weiß von meiner Partei, ist, dass die Bundeskanzlerin klar gesagt hat, sie wird sich für die Klimaziele in Brüssel nicht stark machen, sondern will Ausnahmen für die deutsche Automobilindustrie - basta. Und mit dieser Haltung können wir als grüne Partei schwierig sagen, wir machen da mit. Aber es ist müßig darüber zu diskutieren, weil das ist vergossene Milch, das Ganze. Wir sind bei diesen Sondierungen angetreten und haben gesagt, wir sind gesprächsbereit. Wir wollen für ein ökologisches, sozial gerechtes und weltoffenes Land kämpfen. Das haben wir bis zur letzten Minute getan. Ja, und das hat nicht funktioniert, und nun sind andere am Zuge.
Schmidt-Mattern: Eine Option, die ja auch weiterhin sehr intensiv im Gespräch bleibt, ist die Option auf Neuwahlen. Wenn CDU, CSU und SPD es nicht hinbekommen sollten, die Grünen haben einen Umfragesprung erlebt in den letzten Monaten. Das heißt, Sie könnten sich doch gar nichts Schöneres wünschen, als dass das Volk noch einmal an die Urne geht.
Baerbock: Also, Politik ist ja kein persönliches Wunschkonzert, sondern es sieht danach aus, wenn das jetzt weiter scheitert, dass Neuwahlen wahrscheinlicher werden. Auf der anderen Seite haben wir ein Grundgesetz, was klar vorschreibt, wie die Regeln bei uns im Land sind. Und das ist auch richtig und gut so, dass sich nicht einzelne Parteien überlegen können, was ist jetzt das Beste für uns und danach richtet sich die ganze Politik auf. Sondern es geht dann erst mal in den Bundestag. Da wird die Frage gestellt: Bekommt derjenige, der als Kanzlerin oder Kanzler antritt, da in drei Wahlgängen eine Mehrheit? Das ist alles vollkommen offen und unklar. Deswegen finde ich das so müßig darüber zu spekulieren: Was könnte denn wenn oder wie? Wir müssen jetzt abwarten, was die SPD auf ihrem Parteitag macht.
"Nationaler Kurs - das geht halt gar nicht für mich als Grüne"
Schmidt-Mattern: Ich halte fest, dass Sie zumindest kein flammendes Plädoyer gegen eine Neuwahl halten, wenn es denn so weit kommen sollte. Lassen Sie uns auf Ihre Arbeit als Grünenfraktion im Bundestag noch einmal schauen. Wir haben gerade eine Plenarwoche hinter uns. Die Zustände haben sich sehr geändert mit sechs Fraktionen im Bundestag. Auch die AfD ist jetzt vertreten. Und gerade wieder gab es den Versuch, den Abgeordneten Albrecht Glaser doch noch zum Bundestags-Vizepräsidenten zu wählen, Albrecht Glaser von der AfD. Dreimal hat das Plenum - auch Ihre Fraktion - dem AfD-Abgeordneten die Stimmmehrheit jetzt verwehrt. Und nun hat der Ältestenrat entschieden, es wird keinen weiteren Wahlgang geben mit Albrecht Glaser als Kandidat. Man muss vielleicht noch hinzufügen, er ist deshalb umstritten bei den anderen Fraktionen, weil er Muslimen in Deutschland das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Religionsfreiheit abspricht, weil - so sagt Glaser - der Islam selbst keine Religionsfreiheit kenne. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Umgang, der AfD wiederum die Chance zu bescheren, dass sie sich voll und ganz in die Opferrolle begeben kann?
Baerbock: Das sind geheime Wahlen, aber ich sage klar und deutlich, da treten Personen an. Und jemand, der sich aus meiner Sicht so äußert, dass er nicht bei dieser Frage auf dem Boden des Grundgesetzes steht, so jemand kann dieses Amt aus der Mehrheitssicht nicht bekleiden. Aber Opferrolle, natürlich sagen die immer: 'Wir sind hier die Opfer.' Gucken Sie sich mal die Ergebnisse von den anderen an. Jahrzehntelang ging es für die Grünen immer ganz, ganz knapp auf. Bei den Linken war es auch so, dass die mal lange Zeit niemanden hatten, weil die Person, die sie aufgestellt hatten, nicht mehrheitsfähig im Deutschen Bundestag war. Und dann haben sie irgendwann eine andere Kandidatin aufgestellt. Deswegen ist es totaler Quatsch, wenn die AfD sagt, sie bekommt hier irgendwie ihre Rechte nicht, sondern sie müssen sich auf dem Boden unseres Grundgesetztes bewegen und auch Kandidaten aufstellen. Und das ist allein die Aufgabe der AfD. Da haben die anderen Parteien nichts mit zu tun.
Schmidt-Mattern: Also, Alexander Gauland von der AfD freut sich jetzt schon über die laufenden Schlagzeilen, hat selber diese Woche gesagt: 'Wenn man Krieg haben will in diesem Bundestag, dann kann man auch Krieg haben.'
Baerbock: Da sieht man, wo diese Partei steht. Ich möchte noch mal ein kleines Beispiel geben. Wir feiern oder haben eine Vorlage gemacht zum Élysée-Vertrag. Das ist der Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich. 55 Jahre ist dieser Vertrag alt, ein riesengroßes Friedenszeichen für diese beiden Länder.
Schmidt-Mattern: Der jährt sich jetzt am Montag.
Baerbock: Der jährt sich am Montag. Fraktionsübergreifend wurde da mit den Franzosen zusammen ein neuer Text erarbeitet von den Abgeordneten. Eine Sternstunde - finde ich - für das deutsche Parlament. Die AfD hat nicht nur nicht mitgemacht, sondern die Franzosen - da kommt ein Teil erst zu uns und dann fährt eine Delegation nach Frankreich - von der FDP … AfD, Entschuldigung, möchte niemand mitfahren. Was ist das für eine Haltung? Das ist ein Friedensprojekt, um das es hier geht. Darauf basieren Städtepartnerschaften in ganz Deutschland. Darauf basiert Vereinsarbeit. Und die AfD hat deutlich gesagt, damit möchte sie nichts zu tun haben. Das ist für mich Ausdruck dessen, wo sie stehen. Nationaler Kurs. Und das geht für mich halt einfach gar nicht als Grüne.
"Herr Dobrindt hat uns eine gute Vorlage geliefert"
Schmidt-Mattern: Dann lassen Sie uns abschließend noch einmal den Blick auf Alexander Dobrindt richten, den CSU-Landesgruppenchef hier im Bundestag, der eine Art konservative Revolution fordert. Soweit das nicht ein Widerspruch in sich selbst ist, Frau Baerbock, kann man durchaus sagen, dass sich diese Forderung auch an Ihr grünes Wählermilieu richtet als Kampfansage. Der Prenzlauer Berg, den hat Alexander Dobrindt genannt, da müsse man die konservative Revolution dagegenhalten. Das war ein bisschen gemein gegenüber den Grünen. Da haben Sie sich angesprochen gefühlt?
Baerbock: Ich fand das nicht gemein. Ich fand das eigentlich nur lächerlich, muss ich mal ehrlich sagen. Also, wer diesen Text liest, der denkt, da hat sich mal jemand was zusammengeschustert, alle möglichen Kampfbegriffe, die er so hat, rausgesucht. Manchmal einfach auch überhaupt nicht feinfühlig für das, was er da formuliert. Also, eigene Kollegen von ihm haben ja gesagt, dass da Begrifflichkeiten einfach auch gar nicht gehen. Also, er spielt da auch noch mal so mit rechtem Feuer. Also, ich finde das ein Armutszeugnis, wenn man dieses Land gestalten will, einfach mal solche Positionspapiere rauszuhauen, die materiell überhaupt gar keinen Mehrwert haben, sondern einfach nur ein bisschen rumzündeln sollen. Und ich würde sagen, an dem muss man sich nicht abarbeiten. Es macht aber deutlich, dass gewisse Parteien nicht - oder gewisse Akteure aus diesen Parteien - wirklich für eine liberale emanzipatorische Gesellschaft einstehen. Und deswegen braucht es starke Grüne, die genau diese Werte weiter hochhalten. Und ich kann nur sagen, da hat uns Herr Dobrindt eher eine gute Vorlage geliefert, als dass er uns hier irgendwie anpieksen kann.
Schmidt-Mattern: Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionschefin im Bundestag Ihrer Partei, hat den Ball von Alexander Dobrindt sogleich aufgegriffen und hat entgegengehalten, man bräuchte eher eine ökologische Revolution. Was ich mich bei diesem Schlagabtausch gefragt habe, ist, ob das Ganze vielleicht auch ein Geplänkel im langen, langen Vorlauf auf die Landtagswahl in Bayern ist, die in diesem Jahr stattfindet. Die CSU hat bekanntermaßen Angst, die absolute Mehrheit in Bayern zu verlieren. Könnten Sie sich das vorstellen, schwarz-grüne Gedankenspiele in Bayern mitzubefördern, wenn Sie Parteichefin werden?
Baerbock: Also, wir konzentrieren uns jetzt auf das Heute und Hier. Das ist unser Fokus. Und als Parteichefin will ich für starke Grüne in ganz Deutschland kämpfen. Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Aber das Vorspiel und Geplänkel mit der Bayernwahl - natürlich ist es das. Und das ist aus meiner Sicht so schädlich auch für die demokratische Debatte in diesem Land. Das haben wir auch in den Sondierungen gesehen. Da ging es ja phasenweise überhaupt nicht darum, was diskutieren wir jetzt inhaltlich bei der Frage Armutsbekämpfung, sondern es ging darum: Wer ist eigentlich der Chef der CSU? Das hat ja über eine Woche lang die ganzen Sondierungen auch belastet. Und dass Herr Dobrindt jetzt bei der Frage, wie wollen wir Deutschland gestalten, auf so ein Papier kommt, das zeigt aus meiner Sicht, dass die Zukunft dieses Landes in anderen Händen besser aufgehoben ist.
Schmidt-Mattern: Annalena Baerbock, vielen Dank für dieses Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.