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Kanzleramtschef Braun
"Wir müssen einen Gesundheitsnotstand verhindern"

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hat die von Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verteidigt. Ohne diese drastischen Einschränkungen würden in absehbarer Zeit Krankenhäuser und Intensivstationen überlastet sein und nicht mehr genügend Medikamente zur Verfügung stehen.

Helge Braun im Gespräch mit Jasper Bahrenberg |
23.09.2020, Berlin: Helge Braun (CDU), Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben, bei einer Pressekonferenz
Die neuen Maßnahmen der Bundesregierung seien aus Gesundheitsschutz-Gründen aber auch aus wirtschaftlichen Gründen erforderlich, so Kanzleramtsminister Helge Braun (dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka)
Mit strengen Kontaktbeschränkungen und der Einschränkung fast aller Freizeitaktivitäten wollen Bund und Länder die zweite Corona-Infektionswelle in Deutschland brechen. Vor dem Hintergrund dramatisch steigender Infektionszahlen einigten sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten am Mittwoch auf die einschneidensten Schritte seit dem Frühjahr.
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Im Gespräch mit dem Dlf verteidigte Kanzleramtschef Helge Braun, die von der Bundesregierung und den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten beschlossenen Maßnahmen als notwendig und verhältnismäßig. Trotz bestehender Hygienemaßnahmen verdoppelten sich die Corona-Neuinfektionen fast alle sieben Tage, 75 Prozent der Kontakte von Infizierten seinen nicht mehr nachverfolgbar. Deshalb müsse jetzt auf die Bremse getreten werden, ansonsten würde die Rückkehr zu einer kontrollierbaren Situation viel länger dauern.

Jasper Barenberg: Herr Braun, warum sind so unerwartet harte Einschnitte für Sie so zwingend nötig, ein solch brutales Bremsmanöver?
Helge Braun: Wir haben ja in den letzten Wochen erlebt, dass sich die Zahl der Infektionen quasi alle sieben Tage verdoppelt hat. Und wenn man das jetzt bis Weihnachten fortschreiben würde, wenn wir jetzt nicht deutlich auf die Bremse treten, dann ist das für die Leute, glaube ich, schwer vorstellbar, weil wir jetzt sechs Monate ganz gut durch die Krise gekommen sind. Aber das würde bedeuten, dass wir irgendwann nicht mehr genügend Medikamente haben, die Intensivstationen überlastet werden, unsere Krankenhäuser das nicht mehr schaffen.
So einen Gesundheitsnotstand müssen wir verhindern und das geht nur dadurch, weil wir in 75 Prozent der Ansteckungen gar nicht mehr wissen, wo sie eigentlich stattfinden, wenn wir generell unsere Kontakte deutlich reduzieren.
Braun: Unsicherheit bei den gesundheitlichen Folgeschäden
Barenberg: Warum widersprechen dann so renommierte Virologen wie Hendrik Streeck von der Universität Bonn oder Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg zusammen noch mit einigen Ärzteverbänden und sagen im Prinzip, ein solch pauschaler Lockdown ist weder zielführend, noch ist er verhältnismäßig?
Braun: Der schwedische Weg, der auch von diesen Virologen vertreten wird, bedeutet ja, wir versuchen, einfach nur die ältere Bevölkerung von der Infektion fernzuhalten, und bei den Jüngeren sind die Verläufe milder. Das übersieht aus meiner Sicht zum einen, dass wir noch sehr unsicher sind, ob es nicht auch bei den milden Verläufen Jüngerer langfristige Folgeschäden geben kann, und deshalb muss man da vorsichtig sein.
Das Zweite ist: Wir unternehmen schon ganz viel, um zum Beispiel in Altenheimen, in Krankenhäusern ältere und kränkere Personen gut zu schützen. Da sind Hygiene-Konzepte, da ist ganz viel Aktivität. Trotzdem sehen wir, wenn jetzt die Infektionszahlen ansteigen, dass auch die Einträge in solche Bereiche, dass auch ältere Menschen wieder stärker betroffen sind, weil einen so hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Das kann man momentan ja in Belgien, in Frankreich, anderswo auch sehen, dass da diese Sorge, Überlastung des Gesundheitssystems, durchaus eintritt.
Deshalb bin ich sehr sicher, dass das, was wir jetzt tun, notwendig ist und auch verhältnismäßig, um vor Krankheit zu schützen, aber auch dann, wenn so eine Situation der völligen Überforderung eintritt, massive Wirtschaftseinbrüche zu verhindern.
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"Frühes Handeln ermöglicht milderes Handeln"
Barenberg: Diese beiden Virologen und damit auch diese Ärzteverbände argumentieren ja auch, dass Mitmachen besser wäre, dass Eigenverantwortung zu stärken besser wäre als Verbote, weil da am Ende doch die Effekte verpuffen werden. Die Hygiene-Regeln und eine Corona-App würden vollkommen ausreichen, um die Pandemie gut zu überstehen. – Sie halten das für geradezu gefährlich?
Braun: Die aktuellen Zahlen zeigen ja, dass wir in einem enormen Wachstum sind, obwohl wir inzwischen alle ja Bescheid wissen, obwohl wir Hygiene-Konzepte haben. Insofern hätte dann dieses exponentielle Wachstum, was wir gerade sehen, gar nicht eintreten dürfen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Helge Braun (beide CDU), Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben, nehmen mit einer Mund-Nasenbedeckung an der Sitzung des Bundeskabinetts im Bundeskanzleramt teil. 
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Helge Braun (beide CDU) bei den Beratungen zu neuen Corona-Maßnahmen am 28.10.2020 (Picture alliance / Kay Nietfeld /dpa)
Es ist aber da und das Problem ist, wenn man es jetzt noch vier, fünf Wochen weiter laufen lassen würde, bis die Folgeerscheinungen, die wir verhindern wollen, schon eingetreten sind. Wenn dann die Leute aus Angst und Sorge sich freiwillig zurückziehen, dann haben wir aber eine Situation, dass eine Rückkehr zu einer kontrollierten Situation nicht nur vier Wochen dauert, wie wir das jetzt annehmen, sondern noch viel, viel länger.
Das heißt, der Schaden in der Wirtschaft und auch der gesundheitliche Schaden wäre dann erheblich größer. Wir müssen jetzt als Politik mit einem klaren Signal vorangehen, weil das frühe Handeln im Endeffekt uns das mildere Handeln ermöglicht.
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"Im freizeitlichen Kontext eher mehr Ansteckungen"
Barenberg: Die Kanzlerin hat es gestern erwähnt und Sie haben es gerade auch getan, dass derzeit in 75 Prozent der Fälle nicht mehr geklärt werden kann, woher das Virus eigentlich kommt, wo sich tatsächlich jemand angesteckt hat. Wie können Sie dann rechtfertigen, dass es bei den Beschlüssen sehr auffällig ist, dass einige Branchen schließen müssen, sehr hart getroffen werden, die Gastronomie beispielsweise, Hotels, und andere eben nicht?
Braun: Das rechtfertigt sich auf zwei Ebenen. Die eine Ebene ist, dass wir schon Anhaltspunkte haben, dass im freizeitlichen Kontext eher mehr Ansteckungen stattfinden, und deshalb ist es richtig, in diesem Bereich die wesentlichen Beschränkungen zu machen. Das Zweite ist: Wir müssen natürlich priorisieren. Schule, Bildung und der Großteil von Handwerk, Mittelstand und Wirtschaft, den wollen wir voll aufrecht erhalten, anders als im März/April. Auch zum Beispiel den kompletten Einzelhandel lassen wir offen. Aber irgendwo müssen wir die Kontakte reduzieren und das ist am verhältnismäßigsten, wenn wir auf die Freizeitaktivitäten verzichten.
Der zweite Punkt, warum es zu rechtfertigen ist, dass wir sagen, in diesem einen Monat, wo wir jetzt einem Teil der Wirtschaft, der Freizeitwirtschaft, der Gastronomie so harte Beschränkungen auferlegen, bekommen Sie aber 75 Prozent des Umsatzes, den sie im letzten November gemacht haben, im letzten Jahr, als es noch kein Corona gab, staatlicherseits erstattet. Das ist sehr, sehr teuer, aber sicher angemessen, um gerade den Betroffenen jetzt durch diesen harten Monat zu helfen.
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Barenberg: Gezielt und nachvollziehbar sollen diese Entscheidungen ja sein. Aber im Grunde genommen sagen Sie ja gleichzeitig, dass Sie im Dunkeln tappen, was die Ursachen angeht, und gerade die Gastronomie, gerade die Kultureinrichtungen haben sich ja viel Mühe gegeben, wie alle anderen auch, und ausgefeilte Hygiene-Konzepte vorgelegt und praktizieren das jetzt. Parlaments-Vizepräsident Wolfgang Kubicki von der FDP hält gerade deswegen, glaube ich, auch einige Beschlüsse für rechtswidrig. Sind Sie sich sicher, dass die neuen Beschlüsse vor Gericht Bestand haben werden?
Braun: Es ist ganz entscheidend und wir werden auch noch mal mit einer sehr klaren auch juristischen Argumentation das untermauern. Wir haben ja seit einiger Zeit diese Hygiene-Konzepte und die werden wir in der Gastronomie und anderswo im Dezember, im Januar, im Februar, in weiteren Wintermonaten auch weiter dringend brauchen.
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Aber wir müssen sehen: Wenn man momentan die einzelnen Branchen fragt, sagt jeder, wir haben Hygiene-Konzepte, bei uns steckt sich keiner an. Und trotzdem haben wir heute eine neue Rekordzahl und das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Die Hoffnung, dass die Todeszahlen, dass die schweren Verläufe so niedrig bleiben, obwohl die Zahlen explodieren, das wäre wirklich naiv, und deshalb ist es aus Gesundheitsschutz-Gründen erforderlich und deshalb werden die Gerichte das auch anerkennen. Davon bin ich fest überzeugt. Aber das sage ich auch immer wieder: auch aus wirtschaftlichen Gründen.
Die Länder, die durch hohe Infektionszahlen getroffen werden, wie zum Beispiel die USA, Brasilien oder jetzt leider auch unser Nachbar Frankreich, die haben eine deutlich schlechtere wirtschaftliche Entwicklung als wir. Hohe Zahlen zulassen schadet der Wirtschaft mehr als die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen.
"Im privaten Bereich wird sich an der Art der Kontrolle nichts ändern"
Barenberg: Akzeptanz ist, denke ich, ein wichtiges Stichwort in dieser ganzen Debatte, auch mit Blick auf die Beschlüsse. Im Frühjahr haben alle mitgezogen, das wurde gestern auch öfter gesagt. Jetzt scheint es ja doch Ermüdungserscheinungen zu geben. Ist es ein vorstellbares Szenario für Sie, dass jetzt Ordnungsamt und Polizei großflächig dafür sorgen, dass die Regeln auch befolgt werden? Im privaten Bereich ist das ja nahezu unmöglich.
Braun: Ich gehe davon aus und das zeigen eigentlich alle Zahlen, dass die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen die Maßnahmen umsetzt und damit einen großen Dienst an der Gesellschaft insgesamt leistet. Dafür bin ich auch sehr dankbar und das ist auch der Grund, warum wir bisher besser als andere durch die Krise gekommen sind. Ein kleiner Teil tut es nicht und da müssen natürlich strengere Kontrollen und regelmäßigere Kontrollen dafür sorgen, dass jedem klar ist, diese Regeln sind ernst, sie sind verbindlich und sie müssen eingehalten werden.
Im privaten Bereich wird sich an der Art der Kontrolle nichts ändern. Das heißt: Wir haben sehr deutlich gesagt, Gruppen feiernder Menschen im privaten Bereich als Alternative für die geschlossene Gastronomie, das geht gar nicht, das ist inakzeptabel. Aber wir werden natürlich keine Kontrollen im privaten Raum standardmäßig durchführen. So ist es aber auch heute schon. Wenn irgendwo eine Party ist, die Lärm macht, dann kommt die Polizei durchaus auch schon mal vorbei, und so ähnlich muss man sich das auch in dem Zusammenhang vorstellen.
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Barenberg: Es gibt für die derzeitige schwierige Situation ja dieses Bild von einem LKW, der ungebremst auf abschüssiger Fahrt unterwegs ist und nur die Möglichkeit hat, ab und zu und für einen kurzen Augenblick die Bremse anzuziehen und die Fahrt zu verlangsamen. Nun ist das ein heftiges Bremsmanöver, was jetzt in Kraft treten soll. Ist der Plan, dass das jetzt einmal genutzt wird, oder müssen wir uns auch darauf einstellen, dass das noch mehrfach geschieht? Wir haben heute gerade gelernt, dass viele Beobachter erst für die Zeit in zwei Jahren erwarten, dass dann die Bevölkerung, wenn es einen Impfstoff gibt, dann irgendwann tatsächlich auch geimpft ist.
Braun: Wir haben im Beschluss gestern gesagt, wir stellen uns jetzt auf vier schwierige Wintermonate ein. Wir rechnen aber zum Beispiel schon Anfang nächsten Jahres mit der Zulassung von Impfstoffen. Wir rechnen natürlich damit, dass im nächsten Sommer die Lage sich auch wieder entspannt. Insofern, glaube ich, ist zunächst mal unsere Aufgabe, wirklich diesen Winter zu überstehen, und dazu werden wir diesen Monat November dieser Beschränkungen auch nutzen, um uns wieder gut vorzubereiten, um die Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter zu stärken, um dafür zu sorgen, dass wir möglichst auch viele Medikamente haben zur Behandlung von schweren Verläufen, um diese abzumildern oder gar zu verhindern.
Wir arbeiten parallel auch daran, die Gegenwehr gegen Corona weiter zu verbessern. Wir lernen jede Woche dazu über das Virus. Die Wissenschaft gibt uns neue Erkenntnisse. Insofern hoffe ich sehr, dass wir nach dem November einen stabilen Zustand bekommen, bis dann mit Impfung und Sommer wir schrittweise die Last der Pandemie mildern können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.