Irene Geuer: Bald feiern wir es noch einmal, das Frauenwahlrecht in Deutschland. Am 19. Januar 1919 konnten die Frauen das erste Mal wählen und gewählt werden. Damals fand die Wahl zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung statt. Und im Rahmen dieser Feierlichkeiten, die schon im November angefangen haben, da das Wahlrecht 100 Jahre zuvor in Kraft getreten war, da gab es einen Aufhorcher. Bundeskanzlerin Angela Merkel trat ganz feministisch auf. Das kannte man bislang nicht. Und sie hat sich auch selbst nie als Feministin sehen wollen. Aber nun waren Sätze zu hören wie: "Die Quoten waren wichtig, aber das Ziel muss Parität sein!". Und: Zu wenige Frauen auch in der Bundespolitik, mahnte Merkel an und sagte: "Ich glaube, dass der Frauenanteil in unseren Parlamenten eine elementare Frage unserer Demokratie betrifft." Hat sich Angela Merkel, was Emanzipation angeht, gewandelt in ihrer langen Amtszeit? Das habe ich mit Dr. Ines Kappert, der Leiterin des Gunda-Werner-Instituts für Feminismus und Geschlechterdemokratie in Berlin heute Nachmittag besprochen.
Ist Angela Merkel doch noch dem Feminismus näher gerückt?
Ines Kappert: Schön wär’s, ich glaube aber nicht. Ich glaube, Angela Merkel geht es tatsächlich darum, den Machtverlust der Union zu vermeiden. Das, was wir gesehen haben, ist, dass die Union bei Wählerinnen immer schlechter wegkommt. Und das hat auch damit zu tun, dass es die Union den eigenen CDU-Frauen so schwer macht, auf gute Listenplätze zu kommen. Deswegen hat jetzt das vergleichsweise schlechte Wahlergebnis der Union dazu geführt, dass viele CDU-Politikerinnen nicht mehr in das Parlament eingezogen sind, und das ist tatsächlich alarmierend. Natürlich hat Angela Merkel recht, wenn sie sagt, dass ein Anteil von 31 Prozent von Politikerinnen im Bundestag tatsächlich ja ein alarmierendes Zeichen ist, weil man kann dann einfach wirklich überhaupt gar nicht mehr davon sprechen, dass wir in einer repräsentativen Demokratie leben.
"Gleichstellung ist alles andere als realisiert"
Geuer: Aber sie ist ja für ihre Reden im November hoch gelobt worden. Manche haben ja geschrieben, sie ist eine Feministin wider Willen, und Sie sagen, Nein?
Kappert: Na ja, ich denke, wenn … Nein, ich sage nein, und zwar deshalb, weil ich Angela Merkel gerne als Politikerin ernst nehmen möchte. Und dann müssen wir uns angucken, was unter ihrem 18-jährigen Parteivorsitz passiert ist in Sachen Gleichstellungspolitik und was während ihrer 13 Jahre Kanzlerinnenschaft passiert ist in Sachen Gleichstellungspolitik. Angela Merkel hat diese langen Zeiträume nicht dafür genutzt, hat auch ihre Machtfülle nicht dafür genutzt, der Gleichstellung näherzukommen. Das ist keine einfache Behauptung von mir, sondern das können wir auch dem Gleichstellungsbericht entnehmen – der zweite ist 2017 erschienen. Der muss von der Bundesregierung erstellt werden, das heißt, die Bundesregierung ist verpflichtet, alle vier Jahre belastbares, also wissenschaftlich brauchbares Datenmaterial zum Thema Gleichstellung zu sammeln und zu veröffentlichen.
Und da können wir ganz klar sehen, dass Gleichstellung alles andere als realisiert ist. Wir haben die Lohnlücke, das wird auch mehrfach diskutiert, wir haben aber auch nach wie vor eine große Ungleichheit, was die Sorge- und Pflegearbeit angeht. Frauen leisten nach wie vor den absoluten Löwenanteil von unbezahlter Arbeit. Das hat Konsequenzen für die Karriere, das hat Konsequenzen für die Rente, das hat Konsequenzen für den Lebensstandard. Angela Merkel hat in ihrer Regierungszeit ihre Machtfülle eben nicht genutzt, hier Gesetze auf den Weg zu bringen, die tatsächlich diese Form von Ungerechtigkeit minimieren.
Geuer: Kritiker sagen ja auch, sie hat sogar feministische Politik blockiert. Also wenn sie jetzt sagt, die Quoten waren wichtig, ihr waren die Quoten doch eigentlich noch nie wichtig.
Kappert: Das ist eben genau die Ambivalenz. Sie sagt jetzt, dass die fehlenden Frauen im Parlament alarmierend seien, ja, aber das ist ihre Union, das ist ja in ihrer Amtszeit passiert, dass Frauen systematisch aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Es war Angela Merkel, die die Quote verhindert hat, als Frau von der Leyen sie 2013 forderte. Also jetzt bei dem Treffen, ich glaube, das war mit der Jungen Union, scherzte Angela Merkel ein wenig rum und sagte, ja, es war ja damals auch Helmut Kohl, der mich anstupsen musste, dass ich dem Quorum zustimme. Das bedeutet, dass doch mindestens ein Drittel der Listenplätze mit Frauen in der Union besetzt werden. Das ist aber eigentlich nicht lustig.
Sie hat für sich innerhalb einer sehr männlich dominierten, einer sehr patriarchal dominierten Partei Karriere gemacht, eine fantastische Karriere gemacht, aber sie hat eben ihre Macht nicht genutzt, um tatsächlich Frauen und Macht innerhalb der eigenen Partei zu normalisieren, und das ist hoch ambivalent. Das Problematische daran ist auch – ich kann natürlich ihre Politik kritisieren und das tue ich in meinem Fall auch –, aber was eben auch problematisch ist, ist, dass sie die Illusion allein durch ihre Präsenz als Kanzlerin genährt hat, dass wir doch in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben würden.
"Dieses ungeschriebene Gesetz hat Angela Merkel befolgt"
Geuer: Ja, aber ist das nicht auch ein symbolischer Wert? 2005 wird zum ersten Mal eine Frau Bundeskanzlerin – war das nichts?
Kappert: Doch natürlich, das war wichtig, ja. Wir erinnern uns ja auch alle noch daran, an die unsäglichen Diskussionen, ob eine Frau Kanzlerin sein kann oder nicht, ob sie die Kompetenz hat oder nicht oder wie ihre Frisur aussieht. Ich meine, die Älteren unter uns haben das noch einigermaßen präsent, mit was für einem Unsinn sich diese Politikerin auseinandersetzen musste und auch wie viel Standvermögen ihr abverlangt wurde, weil sie eben die politische Karriere gemacht hat, die sie gemacht hat. Insofern nein, es ist nicht nichts, aber wenn Frauen in männerbündisch organisierten Organisationen aufsteigen wollen – und die CDU oder die Union zählt ja leider dazu –, dann ist eine Sache ganz, ganz wichtig: Sie dürfen keine Gleichstellungspolitik machen, sie dürfen sich nicht feministisch äußern, sie dürfen nicht die Frauenfrage zum politischen Anliegen machen.
Und genau dieses ungeschriebene Gesetz hat Angela Merkel befolgt. Sie hat sich immer wieder – wie gesagt, das hatten wir schon – gegen die Quote ausgesprochen, sie hat sich auch gegen die Abschaffung des Ehegattensplittings ausgesprochen, sie hat es versäumt, dafür zu werben, dass wir zu einer anderen Vorstellung auch von Männlichkeit kommen, nämlich einer sorgenden Männlichkeit. Es war Frau von der Leyen, die überhaupt mal den sorgenden Vater nach vorne geschoben hat. Merkel hat sich da immer sehr, sehr, sehr bedeckt gehalten, und jetzt am Ende ihrer Karriere sagt sie, na ja, nur Männer sind vielleicht auch nicht die Lösung. Das ist zu wenig.
Geuer: Ich muss doch noch mal auf diese symbolische Ebene kommen. Ich hab mit meiner Tochter am Frühstückstisch gesessen, als der Parteivorsitz, die Neuwahlen vor der Tür standen, und da sagte ein CDU-Mitglied: Na ja, jetzt wird’s auch mal Zeit, dass wieder ein Mann drankommt. Und meine Tochter guckte mich an und verstand das überhaupt nicht. Die sagte, was hat das denn jetzt mit Frau und Mann zu tun. Also hat sich da doch durch diese lange Kanzlerschaft von Frau Merkel etwas verändert in der Gesellschaft, was vielleicht eine Quote gar nicht so gut gekonnt hätte?
Kappert: Also das eine würde ich nicht gegen das andere ausspielen. Das, was sich sicherlich zum Beispiel auch für Ihre Tochter verändert hat, dass Kanzlerin, also Frau und Macht in der Politik als normal daherkommt, auch wenn es gar nicht normal ist. Das erzählt uns wieder die Zahl von gerade mal 31 Prozent von Politikerinnen im Bundestag. Insofern ja, da ist was nach vorne gegangen, deswegen wollte ich auch noch mal daran erinnern, welche Kämpfe Angela Merkel durchzustehen hatte, um überhaupt Kanzlerin werden zu können, und welche unsäglichen Diskussionen damals ihren Aufstieg begleitet haben.
Gleichzeitig, wenn dann die mächtigste Frau, also politisch mächtigste Frau im Staate ihre Macht nicht nutzt, um Geschlechtergerechtigkeit voranzutreiben, dann birgt das eine Gefahr. Es birgt nämlich die Gefahr – und das vielleicht auch für Ihre Tochter –, dass Ihre Tochter annimmt, es sei doch alles geregelt, dass Ihre Tochter davon ausgeht, dass sie die gleichen Chancen und Risiken hat, so wie es auch in unserer Verfassung steht, das heißt, dass sie nicht aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert wird, die Welt aber anders aussieht.
Wie anders erklären Sie sich die Lohnlücke, wie anders erklären Sie sich, dass Frauen nach wie vor eben die unbezahlte Arbeit – Pflegearbeit, Sorgearbeit – zu 90 Prozent übernehmen, also wir einfach uns darauf einstellen müssen, dass wir als Frauen noch mal andere Kämpfe durchzufechten haben, um gleichberechtigt zu sein. Ich sehe darin einfach eine Gefahr, wenn man einfach erst mal denkt, ich hab doch schon die gleichen Rechte, und sich dann entsprechend gar nicht wappnen kann.
"Merkel bedient keine Frauenthemen"
Geuer: Das heißt, es hilft Ihrer feministischen Arbeit überhaupt nicht, dass Merkel jetzt auch Frauenthemen bedient, seitdem wir über das Frauenwahlrecht sprechen?
Kappert: Sie bedient ja keine Frauenthemen, sie spricht ein Problem in der Union an. Wenn sie jetzt wirklich sagen würde, ich bin für Quote, dann würde das natürlich meiner Arbeit helfen und der Arbeit von vielen, die ja für eine Quote, für ein Paritätsgesetz votieren und schon seit Jahrzehnten lobbyieren und sich an der Union die Zähne ausbeißen. Das würde helfen, aber das macht Angela Merkel nicht. Zum Beispiel, um auch noch mal einen Unterschied zu benennen: ihre Nachfolgerin, Annegret …
Geuer: Kramp-Karrenbauer.
Kappert: Danke, dass Sie mir helfen – hat sich ganz klar für eine Quote ausgesprochen. Sie hat auf Anfrage der Frauenunion gesagt, wir dürfen uns nicht länger auf dem Prinzip der Freiwilligkeit ausruhen, ich bin für eine Quote. Hat Angela Merkel das offen unterstützt? Nein.
Geuer: Das heißt, Sie versprechen sich von einer zukünftigen – wenn es denn so kommen sollte – Bundeskanzlerin, die Kramp-Karrenbauer heißt, mehr?
Kappert: Das wird man sehen, ob sie sich an ihre jetzigen Aussagen noch erinnern mag, wenn sie denn Kanzlerin werden sollte. Das ist sicherlich auch meine Verantwortung als jemand, die in der politischen Bildungsarbeit tätig ist, dafür zu sorgen, dass dieses Versprechen nicht vergessen wird, genauso wie das natürlich auch die Verantwortung von Medien ist, Politikerinnen und Politiker immer wieder auf ihre Versprechen sozusagen auch festzunageln.
Ich meine, Frau Kramp-Karrenbauer hat sich ja sehr negativ in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen, insofern wäre ich jetzt einfach ein bisschen vorsichtig, sie als progressive Politikerin oder relativ progressive Politikerin wahrzunehmen. Da muss sie noch ein bisschen mehr bringen. Aber erst mal hat sie gesagt, okay, sie ist, jetzt nicht gesamtgesellschaftlich, aber für die Union für eine Quote. Ich meine, wir müssen ja auch einfach sehen, auch Helmut Kohl war für das Quorum – die Union war ja bislang nicht in der Lage, das Wort Quote auszusprechen, deswegen hat man sich auf den Begriff Quorum geeinigt –, nicht weil Helmut Kohl Feminist war, ich glaube, da sind wir uns alle einig, sondern weil er einfach den Machtverlust der Partei gesehen hat, wenn sie de facto ein Berufsverbot für Frauen verhängt.
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