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Kapitalismus und seine Krisenerscheinungen

Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater verknüpft in seinen Publikationen die ökonomischen Aspekte mit dem Ökologischen. In seinem neuen Buch bietet er eine umfassende Analyse der gegenwärtigen Situation der Finanzmärkte, der Realwirtschaft und der natürlichen Ressourcen.

Von Detlef Grumbach |
    "Die Renditen wachsen wesentlich schneller als das reale Bruttoinlandsprodukt, die finanzielle Akkumulation verläuft dynamischer als die reale Akkumulation."

    So heißt es in Elmar Altvaters neuem Buch:

    "Dies ist aber nur möglich, weil beides wächst: die Geldvermögen ebenso wie die Schulden. Das sind die beiden Seiten des finanzgetriebenen Kapitalismus."

    Über die Ursachen der Finanzkrisen ist viel geschrieben worden. Während in der realen Wirtschaft nützliche Dinge produziert und Renditen im einstelligen Bereich erzielt werden, hat die Finanzwirtschaft in großem Stil die Schulden anderer Leute verbrieft und damit Renditen von bis zu 25 Prozent auf das Eigenkapital erwirtschaftet. Der 1938 geborene und seit den siebziger Jahren am Otto-Suhr-Institut in Berlin lehrende Politologe:

    "Das Problem besteht einfach darin, dass hier aus dem Nichts sozusagen Papiere, Wertpapiere, erzeugt werden, die einen Anspruch an das reale Sozialprodukt generieren und damit Schuldner erzeugen, die diese Papiere zu bedienen haben. Das können sie, solange die Realwirtschaft funktioniert. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann geraten erstmal die Schuldner in eine schwere Krise und wenn die etwas länger anhält, dann auch die Kreditgeber, weil sie dann ihre Wertpapiere als wertlos, toxisch heißt das heute auf neudeutsch, abschreiben müssen."

    "Der große Krach” - so nennt der Marxist und Globalisierungskritiker der ersten Stunde seine umfassende Analyse der gegenwärtigen Situation der Finanzmärkte, der Realwirtschaft und der natürlichen Ressourcen. Wie hängt das zusammen: die Zeitungsmeldungen über das Ende der Finanzkrise, dass Deutschland sogar gestärkt daraus hervorgegangen ist, aber auch über Einsparungen in den Haushalten und neue Ängste vor einer Euro Schwäche, einer Dollarkrise, einem Währungskrieg mit China, vor drohender Rohstoffknappheit, Hunger und Energiearmut? Die enormen Renditen der globalen Finanzwirtschaft, so Elmar Altvater, die Tilgung der Schulden, egal ob die der amerikanischer Häuslebauer, maroder Banken oder ganzer Staaten, müssen irgendwann durch reale Produktion und Dienstleistung aufgebracht werden. Deshalb setzen die Finanzmärkte und die Politik in der Krisenbewältigung ohne jede Alternative auf Wirtschaftswachstum. Aber hier, so belegt er, wird über lange Zeiträume hinweg immer weniger verdient, weil das Wachstum an seine Grenzen stößt, Rohstoffe knapp und teuer werden, Folgekosten einkalkuliert werden müssen, weil Staatshaushalte kaum noch belastbar sind.

    "Man kann sich das ja leicht ausrechnen. Jeder weiß, dass 5 Prozent auf eine Gesamtheit von 100 eben 5 sind und auf eine Gesamtheit von 1000 eben 50. Und das in realen Größen bedeutet, dass eben 10 mal mehr Natur verbraucht wird, wenn schon ein großer Bestand da ist. Und je reicher die Gesellschaften sind, desto größer ist der Naturverbrauch, wenn etwas wachsen soll, und damit letztlich auch die Belastung der Menschen, die für diese Überschüsse verantwortlich sind mit ihrer Arbeit. Nur im Finanzsektor scheint es so, als ob nur Papiere hin und her gereicht werden und daraus fließen dann die entsprechenden Renditen und das ist das große Problem, vor dem wir stehen. Der Finanzsektor übt einen wahnsinnigen Druck auf die Natur und die Gesellschaft, auf die Politik und damit auch auf die Demokratie aus."

    Altvaters großes Verdienst: Er betrachtet die Finanzkrise als
    integralen Bestandteil der umfassenden Krise, in der die Menschheit gegenwärtig steckt. In gewisser Weise schreibt er seine Analysen fort, die er vor fünf Jahren in dem Band über "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen” vorgelegt hat. Eine nicht neue, aber manchmal vergessene Grundthese: In der Produktion werden nicht nur Werte geschaffen, es wird Natur verbraucht, Rohstoffe, Energie, und es wird Abfall produziert, Atommüll, beispielsweise oder CO2. Diese Prozesse sind irreversibel, mit allen ihren Folgen. Wer das nicht berücksichtigt und glaubt, die Finanzkrise mit größerem Wachstum bekämpfen zu können, ist auf dem Holzweg. Altvater blickt aber auch zurück auf die Weltwirtschaftskrise 1929, auf den New Deal, den Zweiten Weltkrieg, die Verschiebungen im Weltwährungssystem und das Abkommen von Bretton Woods: Dort wurden 1944 die Wechselkurse festgeschrieben - eine wesentliche Grundlage für die wieder gewonnene Stabilität. Doch 1973 wurde das Abkommen gekündigt, setzte der Trend zur Liberalisierung der Finanzmärkte und der globalen Spekulation ein. Die Folgen sind bekannt, aber wo liegt die Lösung der Probleme? Die 260 eng bedruckten Seiten sind keine leichte und eine eher beunruhigende Kost. In drei großen Kapiteln schreibt er über den Doppelcharakter allen Wirtschaftens, finanzielle Renditen und den Zusammenhang von Wachstum und Naturverbrauch. Der Autor bewegt sich in klassischen, aber auch ganz aktuellen theoretischen Diskursen, unterfüttert seine Thesen mit empirischen Befunden über die weltwirtschaftliche Entwicklung und weckt vor allem Zweifel an den gegenwärtigen Strategien. Im vierten Kapitel wendet er sich dann den Alternativen zu, diskutiert die Perspektiven eines "grünen New Deals”, eines ökologisch gewendeten Sozialismus.

    "In der 'multiplen Krise' drängt sich die Systemfrage nachgerade auf."

    So heißt es am Schluss des Buchs, doch auch die genannten gesellschaftspolitischen Alternativen sind begrenzt, haben ausgedient als Utopie. Sie sind verhaftet in den Wachstumskonzepten des 20. Jahrhunderts, auch ihr Umgang mit der Natur ist geprägt von individuellem Profitstreben oder staatlichem Dirigismus. Altvater fordert deshalb eine Reihe von Sofortmaßnahmen, die der Finanzwirtschaft das Wasser abgraben, eine konsequente Abkehr von fossilen Energiequellen, eine radikale Umstellung der Wirtschaft auf eine Basis ohne Wachstum.

    "Und dann gibt es eine ganz große Baustelle, und das ist die Wirtschaftsdemokratie: Für wen arbeiten die Menschen? Für sich oder für andere? Und was können sie tun, dass sie für sich arbeiten, und dies dann eben auch in einer genossenschaftlichen, kooperativen und demokratischen Art und Weise zu lösen."

    Die große gesellschaftspolitische Alternative ist das noch nicht. Aber genossenschaftliche Ansätze sind heute schon möglich, es gibt sie und sie gewinnen überall an Kraft. Sie und ein radikal anderer Umgang mit den Ressourcen, so meint Altvater in einer Mischung aus Pragmatismus und vorsichtigem utopischen Denken, könnte man immerhin, so wörtlich, "zum Ausgangspunkt der Erkundung der ‘terra incognita' machen”. Kein Patentrezept also, eher eine notwendige, schwierig zu lösende Aufgabe.

    Elmar Altvater: "Der große Krach: oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur", Westfälisches Dampfboot, 270 Seiten, 19,90 Euro