Funktionierte der Mensch wie ein Vogel, zum Beispiel wie die Dachsammer, hätte es der Kapitalismus leichter. Denn der Sperlingsvogel, der jeden Herbst von Alaska nach Mexiko zieht, fliegt sieben Tage lang schlaflos gen Süden. Tagsüber fliegen, nachtsüber Nahrung besorgen - so geht das eine ganze Woche lang. Wäre der Mensch also wie ein Sperlingsvogel, könnte er mehr arbeiten. Mehr Arbeit, das hieße auch: mehr Produktivität, mehr Rendite, mehr Konsum. Er wäre weniger in seiner eigenen Welt, und damit: verfügbarer.
Für die Welt der Konzerne, der Militärs, aber auch für die Welt der Militärkonzerne. Nun ist der Mensch aber keine Dachsammer, und daher wird es tagelanges Wachsein auch in Zukunft allenfalls vor allem in den Folterkellern von Staaten und Geheimdiensten geben. Und doch: Die Experten des amerikanischen Verteidigungsministeriums interessieren sich neuerdings sehr für das Gehirn des Vogels, investieren eine Menge Geld in die Sperlingsvogel-Forschung - denn sie wollen wissen, wie das funktioniert. Könnten Soldaten, der Dachsammer gleich, tage- und nächtelang fliegen, kämpfen, bewachen? Jonathan Crary, Kunstkritiker, Essayist und Wahrnehmungsforscher, ist alarmiert. Denn er sieht den Schlaf als individuelles Rückzugsgebiet schon heute bedroht.
"Die Geschichte hat gezeigt, dass militärische Innovationen über kurz oder lang auch Aufnahme in allgemeinere soziale Lebensbereiche finden. Der schlaflose Soldat könnte so der Vorläufer des schlaflosen Arbeiters oder Verbrauchers sein. Anti-Schlafpillen, aggressiv vermarktet von Pharmaunternehmen, könnten zunächst zu einer Lifestyle-Option und schließlich für viele zu einer Notwendigkeit werden."
Crary nennt sein Buch "24/7, Schlaflos im Spätkapitalismus", und 24/7, das steht für eine Sieben-Tage-Woche im 24-Stunden-Rhythmus. Angefangen habe das Streben nach Schlafverzicht im 17. Jahrhundert, und das nicht zufällig: Mit der Aufklärung und der Suche nach modernen und effizienten Produktionsmethoden wurde der Schlaf zunehmend als hinderlich und nutzlos wahrgenommen. Im Laufe der Jahrhunderte die Bedeutung, die er noch in der Renaissance hatte. Vor 100 Jahren schliefen Amerikaner im Durchschnitt noch zehn Stunden. Vor einer Generation waren es noch acht Stunden. Wenn Amerikaner heute im Schnitt nur noch sechseinhalb Stunden schlafen, dann liegt das wohl nicht daran, dass das soziale Leben der Menschen immer intensiver wird. Dass sie mehr Zeit in Vereinen oder auf Partys verbringen. Nein, der Schlaf wird geraubt, und zwar von einer neuen "Aufmerksamkeitsökonomie": endlosem Medien-Konsum, von Online-Glücksspielen, Internetpornografie, Videospielen. Es gibt Menschen, die finden es spannend, nachts mit unbekannten Gleichgesinnten aus Übersee im Internet Schach zu spielen. Andere nutzen die Nacht zum Online-Einkauf. Wer nicht schläft, konsumiert.
"Natürlich kann niemand rund um die Uhr einkaufen, spielen, arbeiten, bloggen, downloaden oder Texte schreiben. Da es aber keinen Zeitpunkt, Ort oder Anlass mehr gibt, wo man nicht shoppen, konsumieren oder Daten abrufen kann, dringt die Unzeit des 24-Stunden-Takts in alle Aspekte des sozialen oder persönlichen Lebens ein. So findet man heute so gut wie keine Gelegenheit, die sich nicht als Bild oder Information abspeichern lässt."
Nichts ist mehr so richtig ausgeschaltet
Es gibt immer etwas aus unserem Leben, das wir der Welt über Blogs oder Twitter-Mitteilungen mitteilen können. Erfahrungsberichte für die Welt, in auf wenigen Buchstaben. Es gibt Menschen, die stehen nachts auf, um ihre Mails zu checken. Nichts ist mehr so richtig ausgeschaltet - kein Handy, kein Smartphone, gar nichts. Nicht nur die sozialen Kontakte lösen sich im endlosen Gezwitscher auf, auch der Schlaf. Im "neoliberal-globalistischen Denken", schreibt der Autor, sei "Schlafen nur etwas für Verlierer". Wer etwas auf sich hält, schläft wenig und redet darüber. Elon Musk, Chef des Elektroauto-Herstellers Tesla und einer der milliardenschweren Masterminds von High-Tech-California, sagte vor einiger Zeit in einem Interview: Als er noch über 100 Stunden in der Woche gearbeitet habe, da sei das nicht ohne literweise Kaffee und Diet-Coke am Tag gegangen. Aber, zum Glück: Heute seien das ja nur noch an die 80 Stunden. Viele Menschen finden das offenbar sehr cool. Sonst würde er es ja nicht so betonen.
"Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigkeit und Passivität, mit den von ihm verursachten, unkalkulierten Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidieren. Der gewaltige Teil unseres Lebens, in dem wir schlafen, befreit von einer Vielzahl vorgespiegelter Bedürfnisse, besteht als eines der großen menschlichen Ärgernisse für die Gefräßigkeit des heutigen Kapitalismus fort."
Der Mensch, der Kapitalismus und die Produktion von Mehrwert, diesmal durch chronischen Schlafentzug: Crary hat Karl Marx mehr als nur gelesen, und auch Freud kommt ins Spiel, wenn die "visuellen Inhalte" des neuen Medienbetriebs zum "neuen institutionalisierten Über-Ich" werden. Wenn dieses neue "Über-Ich" einen Namen hat, dann heißt es wohl: Google. Schon Ende der 90er-Jahre - Google war gerade ein Jahr alt - sprach man im Silicon Valley vom 21. Jahrhundert als einem Jahrhundert der "Aufmerksamkeitsökonomie". Wer künftig in der Wirtschaft wichtig sein wolle, müsse möglichst viele "eyeballs", also Augäpfel, kontrollieren. Und dies: über möglichst lange Zeiträume. Man kann sagen: Google hat sein Ziel längst erreicht. Und Crary, der Verteidiger des Schlafes, wirkt da wir ein aus der Zeit gefallener Romantiker.
"In meiner Perspektive gehört zum Schlaf auch die Zeit, die ihm vorausgeht - das Wachliegen im Halbdunkel, das unbestimmte Warten auf die Ausschaltung der Bewusstseinsvorgänge."
Und zum Schlaf gehört auch: die Zeit danach. Vor 25 Jahren drehte der amerikanische Regisseur Jim Jarmusch einen wunderbaren Film, der Mystery Train hieß. Zwei japanische Teenager, Jun und Mitsuko, suchen in Memphis die Seele des Rock n Roll, und am Morgen im Hotelbett entwickelt sich folgender Dialog:
Er: "Mitsuko, aufwachen."
Sie: "Schlafen ist meine Lieblingsbeschäftigung."
Wieder Jun: "Du schläfst viel zu viel. Du verbringst die Hälfte deines Lebens in deinen Träumen."
Mitsuko: "Stimmt, aber schlafen ist wunderschön. Und wenn man tot ist, kann man nie mehr schlafen. Also auch nicht träumen."
Sie: "Schlafen ist meine Lieblingsbeschäftigung."
Wieder Jun: "Du schläfst viel zu viel. Du verbringst die Hälfte deines Lebens in deinen Träumen."
Mitsuko: "Stimmt, aber schlafen ist wunderschön. Und wenn man tot ist, kann man nie mehr schlafen. Also auch nicht träumen."
Erst nachdem man Crarys Buch gelesen hat, versteht man, wie subversiv dieses morgendliche Gespräch wirklich ist.
Jonathan Crary: "24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus" (Übersetzung: Thomas Laugstien)
Wagenbach Verlag, 112 Seiten, 14,90 Euro, ISBN: 978-3-803-13653-4.
Wagenbach Verlag, 112 Seiten, 14,90 Euro, ISBN: 978-3-803-13653-4.