Tomáš Sedláček lehrt an der Karls-Universität in Prag und ist Chefvolkswirt der Tschechoslowakischen Handelsbank, der größten Bank des Landes. In seinem neuen Buch "Revolution oder Evolution – Das Ende des Kapitalismus?" bricht er eine Lanze für den Kapitalismus. Aber er fordert Reformen - und zwar von Grund auf. Das fängt seiner Meinung nach in der ökonomischen Lehre an.
Andreas Kolbe: Sie sehen Ihr Fach weniger als Wissenschaft, denn als eine Art Religion. Wie kommen Sie zu dieser Einstellung?
Tomáš Sedláček: Wir tun immer so, als wäre die Ökonomie völlig neutral, wissenschaftlich, objektiv – wie eine mathematische Wissenschaft. Nehmen Sie zum Beispiel ein Ökonomie-Lehrbuch – es sieht genauso aus wie ein Physik-Buch. Das andere ist: Die Ökonomie ist voller Moral: Wir erzählen den Studenten, dass es völlig normal ist, ein Egoist zu sein, dass es sogar absolut natürlich ist. Wir unterstellen den Menschen, dass sie nur ihren Nutzen maximieren wollen – und dass das okay ist. Wir sagen den Leuten auch, dass es eine unsichtbare Hand des Marktes gibt und dass sie sich deshalb nicht um die moralischen Folgen ihres Handelns kümmern müssen. Ich sage: Es gibt keine unsichtbare Hand des Marktes. Du hast eine linke und eine rechte Hand – und du kannst damit Gutes oder Schlechtes tun. Und du musst natürlich die Konsequenzen deines Handelns berücksichtigen und tragen, vor allem wenn Dritte davon betroffen sind. Die Ökonomie wird an Universitäten also in ähnlicher Art und Weise vermittelt, wie religiöse Weisheiten. Darauf will ich hinaus: Die Ökonomie ist – wenn Sie so wollen – die globalste Religion unserer Zeit. Jede Kultur hat ihre eigenen Bräuche, ihre eigenen Werte oder Tänze. Aber es gibt nur eine Wirtschaft, an die alle glauben. Das ist unser kleinster gemeinsamer Nenner.
Kolbe: Die ganze Welt glaubt also an ein Wirtschaftssystem, von dem Sie denken, dass es falsch ist?
Sedláček: Manchmal sagen meine Kollegen: Tomáš, Du bist naiv und romantisch. Und dann sage ich: ja, stimmt, beides! Aber mal ehrlich: Wer ist hier naiv? Dann doch ihr! Ihr glaubt, dass Menschen rationell handeln. Und ihr reduziert sie dann allein auf das Streben nach Profit. Das ist doch naiv. Oder auch der Glauben daran, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen wird, Jahr für Jahr. Woher habt ihr das? Stand das in den Himmel geschrieben oder in der Bibel? Was habt ihr geraucht oder geträumt? Es gibt nichts in der Geschichte der Ökonomie, dass belegt, dass die Wirtschaft immer weiter wächst. Und trotzdem bauen wir unsere Gesellschaft - unsere Sozialsysteme, die Renten, einfach alles! - auf diese Annahme hin, dass die Wirtschaft jedes Jahr wächst. Das ist, als würde man ein Schiff bauen unter der Annahme, dass immer schönes Wetter ist. Das wird kein gutes Schiff. Nicht, dass ich etwas gegen schönes Wetter hätte. Aber es wäre naiv und dumm - ja geradezu fahrlässig. So ist es auch mit der Ökonomie. Die hat viel mehr mit Mythologie zu tun, mit Religion, Philosophie und Theologie - als mit einer exakten Wissenschaft.
"Keinem ist der Homo Oeconomicus je begegnet. Aber jeder von uns ist einer."
Kolbe: Eine der Grundannahmen der Ökonomie ist der sogenannte homo oeconomicus, - sie sagten es - der rationell handelnde Mensch. An den Sie nicht glauben, weil Sie ihm nie begegnet sind? Oder doch?
Sedláček: Nein - es gibt da eine wunderbare Definition von Mythos: Er ist etwas, das nie geschehen ist, aber ständig geschieht. So ist das auch mit dem homo oeconomicus: Keiner ist ihm je begegnet. Aber jeder von uns ist einer. Das Problem ist nicht das Modell selbst. In der Physik beispielsweise machen wir ständig Modelle, die nicht realistisch sind. Aber wir wissen, es sind Modelle. Wenn wir zum Beispiel den freien Fall eines Gegenstands berechnen, tun wir so, als gäbe es keinen Luftwiderstand oder wir nehmen an, dass er keine Rolle spielt. Das macht es einfacher. Aber wir dürften das nicht für die Wahrheit halten. In der Ökonomie treffen wir auch Annahmen – zum Beispiel dass Menschen egoistisch handeln oder dass sie genau wissen, was sie wollen. Aber wenn das Annahmen sind, dürfen wir nicht behaupten, dass es die Wahrheit ist. Sonst kommt der Ökonom abends in die Kneipe zu seinen Freunden und behauptet: Der Luftwiderstand existiert überhaupt nicht. Wir können also nicht sagen, dass die Menschen rationell sind oder Egoisten. Wir dürfen nicht die Mythen glauben, die wir selbst geschaffen haben. Sonst werden aus Annahmen Überzeugungen.
"Kein besonders gutes System – aber es ist das beste, das wir haben."
Kolbe: Der Kapitalismus, sagt man, sorgt für große soziale Unterschiede, aber insgesamt bringt er uns doch Wohlstand und technischen Fortschritt. Sind diese Argumente nicht mehr gültig?
Sedláček: Das ist Problem ist doch, dass wir so tun, als wäre der Kapitalismus perfekt. Nein. Das ist er nicht. Die Märkte sind nicht perfekt. Aber wir erwarten von der Ökonomie, dass sie perfekt ist. Das ist lustig. Nehmen Sie das perfekteste System auf der Welt: ein Computerprogramm. Es tut genau das, was wir wollen. Es hat keine Gefühle. Alles ist vorhersehbar, weil es auf mathematischen Algorithmen basiert, von Menschen gemacht. Der Punkt ist doch: Obwohl es das perfekteste System ist, dass wir kennen, stürzt es doch immer wieder ab. Manchmal bleibt der Computer einfach hängen und man muss ihn neustarten. Selbst dann also, wenn unser Gesellschaftssystem so perfekt wäre wie ein Computerprogramm - was natürlich unmöglich ist - selbst dann würden wir Abstürze erleben und Krisen. Wir dürfen also nicht glauben, dass es da so eine Art Gott gibt, der die Wirtschaft perfekt macht. Wir müssen die Wirtschaft genauso nehmen wie die Demokratie: Es ist kein besonders gutes System – aber es ist das beste, dass wir haben.
Kolbe: Sie haben in diesem Gespräch schon ganz viele Fragen auf geworfen. Auch der Titel Ihres Buches "Das Ende des Kapitalismus?" endet mit einem Fragezeichen. Nun haben wir Krise und Alltagssorgen der Menschen. Wo sind die Antworten?
Sedláček: Viele Leute glauben, dass der Grund für Fragen Antworten sind. Manchmal stimmt das auch. Aber die wirklich wichtigen Fragen sind dafür da, gestellt zu werden. Denn es gibt nichts schlimmeres, als ein Mensch, der keine Fragen hat, der nicht zweifelt, der alles weiß. So jemand ist völlig indoktriniert, hat eine Ideologie verinnerlicht als wäre es das einzig Wahre. Und die herrschende ökonomische Lehre hat für mich vor allem etwas von einer Ideologie. Deshalb traktiere ich sie mit Fragen. Deshalb ist das Buch voller Fragen - und selbst diese Fragen zu stellen ist schon ganz schön schwierig.
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