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Karan Mahajan: "In Gesellschaft kleiner Bomben"
Von Terror und tiefen Wunden

Sprachgewaltig, aufwühlend und spannend. Der Roman "In Gesellschaft kleiner Bomben" überzeugt mit starken Figuren und erhellenden Blicken in eine gespaltene indische Gesellschaft. Es geht um den Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan – und die Menschen, deren Leben er zerstört.

Von Jörg E. Mayer |
    Mitglieder des Youth Forum for Kashmir brennen im August 2017 die indische Nationalflagge ab. Anlass ist der 70. Jahrestag der Unabhängigkeit Pakistans von Indien.
    Mitglieder des Youth Forum for Kashmir brennen im August 2017 die indische Nationalflagge ab. Anlass ist der 70. Jahrestag der Unabhängigkeit Pakistans von Indien. (imago/Pacific Press Agency)
    Indien 1996. Seit Jahren kämpfen muslimische Terroristen um die Unabhängigkeit Kaschmirs und verüben im ganzen Land Bombenanschläge. Im Mai kommt es zu einem erneuten Anschlag, dieses Mal auf einem belebten Marktplatz in Delhi. Unter den Todesopfern sind auch die elf und dreizehn Jahre alten Brüder Tushar und Nakul. Sie stammen aus einer Hindu-Mittelschichtsfamilie und waren an diesem Vormittag mit ihrem muslimischen Freund Mansoor unterwegs. Als die Bombe detoniert, schleudert die Druckwelle Mansoor meterweit über den Marktplatz. Halb taub von der Explosion und mit einer klaffenden Wunde an der Hand rennt er panisch über den brennenden Platz, vorbei an Verwundeten und Leichen, bis ihn die Straßen von Delhi verschlucken.
    "Die aufkommende Dämmerung tauchte den Himmel in ein luftverschmutztes Rosa. Vögel kreisten rastlos über ihm, als warteten sie darauf, dass die Rushhour vorüber war, um hinabstoßen und sich auf ihre Beute stürzen zu können. Mansoor passierte eine Schule zu seiner Linken, ging zwischen Straßenhändlern hindurch, die Erdnüsse in schwarzen Kesseln am Straßenrand rösteten, wich Kuhfladen aus und fragte sich mit einem halben Lächeln, ob seine Eltern von der Geistesgegenwart beeindruckt wären, seiner Fähigkeit, sich nach dem Schock, den er durch die Explosion erlitten hatte, durch die Stadt zu schlagen. Sein Lächeln verschwand, als ihm Tushar und Nakul einfielen. Was war mit ihnen geschehen? Waren sie – tot? Und warum war er weggerannt?"
    Die Auswirkungen der Explosion sind gewaltig
    Karan Mahajans Roman beginnt mit einem tödlichen Knall. Es ist zwar nur eine kleine Bombe, doch die Auswirkungen der Explosion sind gewaltig. Von nun an bestimmen sie den Verlauf der Handlung. Geschickt arbeitet der Autor mit Rückblenden, wechselt dabei die Erzählperspektiven und taucht ein in das Innenleben seiner jeweiligen Figuren, ohne dabei zu werten. Im Zentrum des Geschehens stehen nicht nur die Angehörigen der getöteten Khurana-Brüder und der überlebende Mansoor und seine Familie, sondern auch die Terroristen Shockie und Malik. Der 26-jährige Shockie gehört zu den führenden Bombenbauern der Kaschmir Islamischen Befreiungsfront. Sein Freund Malik, der Theoretiker der beiden, liest Tolstoi, Puschkin und sogar Ghandi. Nach tagelanger Vorbereitung liegen sämtliche Teile der Bombe vor ihnen.
    "Dieser Teil der Operation war der gefährlichste – noch furchtbarer, als in Delhi Amok zu laufen und wahrscheinlich die Polizei im Rücken zu haben. Bombenbauer werden, wie die meisten Menschen, nicht durch andere, sondern durch sich selbst zerstört. Shockie kannte unzählige Geschichten über Bombenbauer, die Augen, Gliedmaßen, Hände, Schwänze bei vorzeitigen Explosionen verloren hatten; er kannte Agenten, die es fertigbrachten, ihre Gesichter so zu verkokeln und anzubrennen, dass sich ihnen noch monatelang die Haut in kleinen Streifen bis über den Hals abpellte."
    Der Schriftsteller Karan Mahajan beim Jaipur Literature Fest in Jaipur, Indien, im Januar 2017
    Der Schriftsteller Karan Mahajan beim Jaipur Literature Fest in Jaipur, Indien, im Januar 2017 (imago/Hindustan Times)
    Vikas Khurana hält stundenlang Ausschau nach seinen Kindern
    Karan Mahajan seziert die Ängste und Beweggründe der Terroristen ebenso scharfsinnig und mitfühlend wie das Leid der Opfer des Anschlags und deren Angehörigen. Dabei verzichtet er auf ein plakatives Gegenüber von Opfern und Tätern, von Gut und Böse. Stattdessen legt er bei all seinen Figuren die Wunden frei und macht sie dadurch umso glaubwürdiger.
    Da ist zum Beispiel Vikas Khurana, der seine beiden Söhne bei dem Anschlag verlor. Schon vor der Bombenexplosion litt der mäßig erfolgreiche Filmemacher an mangelndem Selbstwertgefühl und Mut. Statt in die Filmmetropole Bombay zu ziehen, bleibt er in Delhi, umringt von seiner Familie, die seine Entscheidung verurteilt. Doch nun, nach dem tödlichen Anschlag, gerät sein Leben völlig aus den Fugen. Stundenlang hält er Ausschau nach seinen Kindern.
    "Nun sind sie fort, für immer, ganz egal, wie lange ich hier noch wie der treue Hachiko aus ihrem Englischlesebuch stehe. Und doch möchte ich hier für immer stehen bleiben. Ich verspüre den Drang, mich selbst zu bestrafen, indem ich hinaussehe, jeden Zentimeter der geteerten Straße und des glänzenden Rinnsteins und der geäderten, staubbedeckten Blätter nach meinen Jungs absuche, zu jeder Jahreszeit, zu jeder Uhrzeit – bis ich blind oder verrückt werde, bis mein Gehirn rebelliert und Kopfschmerzen durch den Bereich jagt, in den ich die gesamte Stadt durch mein Schauen einzufangen versuche."
    Der Bombenanschlag hinterlässt auch beim zwölfjährigen Mansoor tiefe Spuren. Seine Verletzung an der Hand ist zwar halbwegs verheilt, doch die seelischen Wunden werden zunehmend größer. Als er nach den Sommerferien wieder zur Schule geht, steht er kurzfristig im Mittelpunkt. Eine Attraktion, einer, der die Bombe überlebt hat. Doch dann kippt die Stimmung. Denn Mansoor ist der einzige Muslim an der Schule. Ob er die Bombe gelegt hat, fragt ihn mürrisch ein älterer Schüler. Mansoor will sich nur noch verstecken, aus Angst vor Anfeindungen und aus Angst vor weiteren Attentaten.
    "Mansoors Panikattacken an öffentlichen Orten gingen nicht weg – sie wurden schlimmer. Es war doch unmöglich, sagte er seiner Mutter, dass es keine Sicherheitsvorkehrungen an der Schule gab, um sie vor Terroristen und Übertätern zu schützen, und er hielt ständig Ausschau nach verdächtig gewölbten Rucksäcken. Er schrak furchtbar zusammen, wenn ein Fußball gegen die rasselnden Fenstergitter knallte, Fenstergitter, die eigens dafür gemacht waren, solche Angriffe abzuwehren."
    Eine verhängnisvolle Begegnung führt zur Radikalisierung
    Karan Mahajan rückt den traumatisierten Mansoor ins Zentrum seines Romans. Auf einfühlsame Weise beschreibt er, wie der Jugendliche zunächst in die Isolation schlittert. Nach dem Schulabschluss geht Mansoor in die USA, um Informatik zu studieren. Doch seine alte Handverletzung zwingt ihn zu einer Rückkehr nach Delhi. Hier trifft er auf den muslimischen Friedensaktivisten Ayub, der sich für unschuldig verhaftete Kaschmiri einsetzt. Es ist eine verhängnisvolle Begegnung, die bei Mansoor allmählich zur Radikalisierung führt.
    Karan Mahajans Roman ist sprachgewaltig, aufwühlend und spannend, mit starken Figuren und erhellenden Blicken in eine gespaltene indische Gesellschaft. Und es ist eine Geschichte voller Wendungen. Am Schluss führt er alle Figuren erneut zusammen, und der Kreis der Geschichte schließt sich. Auf überraschende, auf dramatische Weise.
    Der Autor Karan Mahajan wurde 1984 in den USA geboren, wuchs in Neu-Delhi auf und lebt in Austin, Texas. Er steht auf Grantas Liste der Best Young American Novelists 2017. Sein erster Roman, "Family Planning" ("Das Universum der Familie Ahuja"), war für den Dylan Thomas Prize nominiert und erschien in neun Ländern. "In Gesellschaft kleiner Bomben" stand u.a. auf der Shortlist für den National Book Award 2016 und erhielt den Bard Fiction Prize 2017, den Young Lions Fiction Award 2017, den Rosenthal Family Foundation Award der American Academy for Arts and Letters 2017, den Muse India Young Writer Award 2016 und den Anisfield-Wolf Book Award for Fiction 2017.
    Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben
    Culture Books, 376 Seiten, 25 Euro