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Kardinal Reinhard Marx
„Freiheit ist kein Selbstläufer“

Kardinal Reinhard Marx sieht die offene Gesellschaft in Gefahr. Als Folge der Coronakrise könnten Ungleichheiten und Spannungen steigen, sagte der Erzbischof von München und Freising im Dlf. Dann könne auch der Populismus wieder erstarken, der im Augenblick eher schwächer sei.

Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit Andreas Main |
Porträt von Erzbischof Reinhard Kardinal Marx
Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (picture alliance / dpa / Friso Gentsch)
Reinhard Marx hat ein neues Buch vorgelegt: über die "Freiheit". Der Essay sollte schon vor ein paar Monaten erscheinen. Doch dann kam die Coronakrise dazwischen und die Veröffentlichung wurde auf Ende Mai verschoben. Jetzt ist bereits die dritte Auflage erschienen - ein Bestseller. Reinhard Marx, geboren 1953 im westfälischen Geseke, ist Erzbischof von München und Freising. Von Papst Franziskus wurde er in jenes neunköpfige Gremium berufen, das über die Reform der Kurie mit berät. Er war bis zum März, also März 2020, auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

Andreas Main: Herr Marx, ich schätze, dass deutlich mehr als zwei Drittel unserer Hörerinnen und Hörer nicht katholisch sind und dass sie beim Stichwort Kardinal nicht als Erstes an Freiheit denken. Welche Argumente fallen Ihnen ein, die diesen Skeptikern Recht geben?
Reinhard Marx: Ja, dass es so ist, war schon ein Anlass, das Buch zu schreiben, weil es mich immer wieder geärgert hat, dass Freiheit und Christentum, erst recht vielleicht Freiheit und katholische Kirche, nicht so leicht zusammengedacht werden. Dem wollte ich einfach auf den Grund gehen. Das ärgert mich seit meiner Jugend- und Studentenzeit.
Denn Freiheit ist ein großes Thema der Bibel: einmal die zentrale Geschichte der Befreiung aus der Sklavenherrschaft in Ägypten - und dann auch die neutestamentlichen Schriften, die davon sprechen, dass wir befreit sind von Sünde, von Angst, dass wir eine Hoffnung haben, dass wir Horizonte vor uns sehen, die uns in die unendliche Weite der Liebe Gottes führen.
Das sind alles Motive und Bilder, die im Grunde genommen ein großes, ja, ich würde fast sagen, ein großes Freiheitspathos haben, aber irgendwie ist es zu einer Trennung gekommen von dem, was wir unter Freiheit verstehen, und dem, was vielleicht die Bibel mit der Freiheit meint und was in der Kirchengeschichte sich dann auch konkret in den Auseinandersetzungen gezeigt hat.
"Unseliges Aufeinanderprallen von Liberalismus und Kirche"
Main: Sie sprechen diese Entfremdung an - und auch die Kirchengeschichte. Liberale Parteien und katholische Kirche, die haben immer miteinander gefremdelt, und wer einmal in die Kirchengeschichte eintaucht, der kennt den sogenannten Syllabus errorum, ein päpstliches Dekret, gut 150 Jahre alt, in dem alle Irrtümer der Zeit aufgelistet sind, darunter auch der Liberalismus. Würden Sie sagen, der damalige Papst hat sich geirrt?
Marx: Nein, das hat eine Vorgeschichte und man kann die Äußerungen sowohl des Liberalismus der damaligen Zeit wie auch die Äußerungen der Kirche nur in einem Kontext verstehen. Es war ein Aufeinanderprallen, was unselig war, aus unserer Sicht heute.
150 Jahre Erstes Vatikanisches Konzil: Ein unfehlbarer Papst kämpft gegen die Moderne
Vor 150 Jahren eröffnete Papst Pius IX. das Erste Vatikanum. Seine Auswirkungen prägen die Kirche bis heute. Denn der Papst verdammte Glaubens- und Meinungsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat – und verkündete das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit.
Es ist wichtig, die ganze Geschichte anzuschauen, denn die Geschichte der Kirche ist auch eine Geschichte der Freiheit. Die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung ist ein Kernthema des christlichen, sogenannten christlichen Abendlandes. Die Freiheit der Kirche von der Politik, dass die Politik nicht einfach regieren kann in die Religion hinein, das ist etwas, was von Anfang an ein Punkt ist, aber es ist nicht konsequent weitergedacht worden, dass es nicht nur um die Freiheit der Kirche geht, sondern auch um die Freiheit aller Menschen.
Was es bedeutet, ein freies Gemeinwesen aufzubauen, das war für die Kirche gar nicht vorstellbar und für viele Zeitgenossen. Man dachte, ein modernes oder auch ein funktionsfähiges Gemeinwesen muss ein geschlossenes Gemeinwesen sein, ein kohärentes Gemeinwesen mit einer Religion, einer Kultur, einer Sprache. Das war selbst in der Aufklärungszeit für viele noch unbestritten - und davor erst recht, sodass die Kirche da nicht ganz alleine stand, aber den Schritt nicht gefunden hat auch in der freien Gesellschaft, die wir ja wollen, eine große Chance und auch ein Element zu sehen, das im Grund auch ein Fundament hat in der biblischen Freiheitsvorstellung.
Da sind im Syllabus Dinge aufeinandergeprallt, wo wir im Nachhinein sagen: Ja, das ist nicht das Ende der Auseinandersetzung. So kann man eigentlich moderne Welt und die Botschaft des Christentums nicht miteinander in Beziehung setzen. Das geht so nicht.
"Augustinus als ein Ausgangspunkt der Freiheitsgeschichte"
Main: Und es gab ja auch nicht nur Ausfälle, wie den Syllabus errorum. Positiv gedreht: Wer vor Ihnen hat Freiheit theologisch auf eine Art gedacht, die Sie beeindruckt?
Skulptur des Heiligen Augustinus am evangelischen Augustinerkloster in Erfurt in Thüringen
Skulptur des Heiligen Augustinus am evangelischen Augustinerkloster in Erfurt in Thüringen (dpa / picture alliance / Rainer Oettel)
Marx: Ja, Thomas von Aquin gehört dazu und Augustinus im Grunde auch, auch mit all den theologischen Begrenzungen. Dass Augustinus etwa den Gedanken der Innerlichkeit hat, wir würden heute sagen, dass das eigentliche Geschehen im Subjekt stattfindet, im einzelnen Menschen stattfindet, dass es um die Begegnung des einzelnen Menschen mit Gott geht und dass da eigentlich niemand hineinregieren kann, ist natürlich ein Ausgangspunkt der Freiheitsgeschichte, die wir dann später Geschichte des Subjekts auch genannt haben. Das würden auch viele Theologen und Philosophen oder auch Philosophen, die nicht unbedingt kirchlich sind, wie Jürgen Habermas, so sehen. Ich lese im Augenblick dieses zweibändige "Auch eine Geschichte der Philosophie" von Jürgen Habermas.
Main: 1.000 Seiten, oder?
Marx: 1.500 sind es.
Main: Oh Gott.
"Bindung und Gemeinschaft ermöglichen Freiheit"
Marx: Aber da zeichnet er den Weg eigentlich sehr gut nach: Die Diskrepanz ist eigentlich entstanden - oder die Spannung, dass Freiheit und Autonomie nicht dasselbe ist. Autonomie im Sinne: Der Mensch ist der alleinige Gesetzgeber seines eigenen Lebens und es gibt keinen anderen Rahmen, der ihm vorgesetzt ist.
Daran hat sich die Kirche natürlich immer stoßen müssen. Aber dass Bindung und Gemeinschaft und Sich-Verlassen auf eine Größe, die wir Gott nennen, nicht das Ende der Freiheit ist, sondern dass der, der uns das Leben gibt, ja erst die Freiheit ermöglicht.
Jürgen Habermas über Religion: Schwarzbrot fürs Hirn
Die Philosophie hat sich aus der Religion herausgelöst. Aber sie hat Kernbegriffe mitgenommen. Deshalb ist Religion nicht tot und nach wie vor gesellschaftlich relevant. So könnte man unser Gespräch mit Jürgen Habermas über sein neues Werk zusammenfassen, das heute erscheint.
Wir sind ja nicht Wesen, die sich selber geschaffen haben, wir haben uns ja nicht selbst gemacht. Wir finden uns ja vor in Raum und Zeit, wir sind ja begrenzt, wir können nicht alles. Wir können nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, also das ist ein Autonomiebegriff, der sicher auch Grenzen haben muss.
Das zusammenzuführen, einen modernen Freiheitsbegriff, der auch Verantwortung einschließt, und eben den biblischen Freiheitsbegriff, der das auch so sieht, das war ein Anliegen dieses Buches, wenigstens darüber weiter nachzudenken und nicht diese Diskrepanz stehenzulassen.
"Absolute Freiheit und Autonomie gibt es nicht"
Main: Bindung und Freiheit bedingen sich gegenseitig, das ist ein Kerngedanke Ihres Buches, den Sie jetzt auch eben angesprochen haben. Inwiefern ist Ihnen diese Erkenntnis an einem bestimmten Punkt gekommen, auch schon als junger Mensch? Gab es da einen bestimmten Moment, wo Sie sagen würden, da ist der Knoten geplatzt?
Marx: Ja, vielleicht nicht ein Moment. Das war sicher ein Prozess. Aber als junger Mensch will man natürlich die Grenzen nicht akzeptieren. Im Laufe seines Lebens weiß jeder von uns: Mein Intellekt hat Grenzen, meine Zeit hat Grenzen, Zeit ist knapp. Wir wissen nicht, wann die Stunde des Todes kommt, aber es gibt diese Grenze. Sie wird irgendwann kommen. Wir haben sprachliche Grenzen, wir haben kulturelle Grenzen. Wir sind genetisch bestimmt durch unsere Vorfahren.
Irgendwann im Leben begreift man: Die absolute Freiheit und Autonomie gibt es nicht. Sie ist immer eine eingebundene. Ein Schlüsseltext war für mich schon das Buch Exodus, also die Befreiungsgeschichte, die ja nicht sozusagen zu Ende ist mit der Befreiung, sondern die erst eigentlich zu Ende ist mit dem Bundesschluss, also mit dem Vertrag, den Gott mit seinem Volk schließt - eine beidseitige Einverständniserklärung. Gott sagt: Hier sind die Gebote, hier ist das, wie ihr glücklich werden könnt, wie ihr einen guten Weg gehen könnt - und das Volk Gottes sagt: Ja, wir stimmen dem zu.
Oben: Moses empfängt die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai. Unten: Moses erklärt die Zehn Gebote dem Volk Israel.
Illustration aus der Bibel von Karl dem Kahlen 845-846, Bibliothèque Nationale de France
Moses empfängt die Zehn Gebote und bringt sie dem Volk Israel (imago images / Photo12 / Archives Snark)
Mit anderen Worten: Die Freiheit findet ihre Vollendung erst, wenn ich Ja sage zu einer Bindung. Also, die völlig beliebige Freiheit führt nicht nur in die Anarchie, sondern auch in die Aggression. Also, da würde ich sagen, das war ein Prozess, den ich mitgemacht habe, und den wahrscheinlich viele andere auch mitmachen; aber man muss das dann mal zusammenfassen und deutlich machen: Die Bindung ist kein Hindernis für die Freiheit, sondern Voraussetzung.
"Ein Geist, der in die Freiheit führt"
Ich will es einmal so formulieren: Die Freiheit findet ihre Vollendung darin, dass jemand zu einem anderen sagt, ich liebe dich, aber wir wissen, dass die Liebe natürlich auch eine Bindung ist, aber nicht eine, die die Freiheit zerstört, sondern die sie eigentlich erst ermöglicht.
Main: Herr Kardinal, es gibt so etwas wie Bischofsmottos. Ich zitiere mal schön auf Latein Ihr Bischofsmotto: "Ubi spiritus Domini ibi libertas". Ihre Übersetzung, bitte!
Marx: Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.
Main: Das kommt aus dem 2. Korintherbrief. Was will uns der Autor dieses fast zweitausend Jahre alten Textes sagen?
Marx: Paulus will den Christen deutlich machen: Wenn ihr teilnehmt an dieser unglaublichen Auferstehungserfahrung, dann ist das eine Befreiung. Wo der Geist Gottes wirkt, da wird nicht eingeengt, unterdrückt, schwach gemacht, klein gemacht, nach unten gezogen, sondern da wird der Mensch nach oben gezogen. Da werden die Möglichkeiten des Menschen offenbar, wie sie von Gott her in ihn hineingelegt sind. So jedenfalls will Paulus das sagen und deswegen ist der Geist auch ein Geist, der in die Freiheit führt. Das ist das, was Paulus da unterstreichen will.
"Freiheitsbewegungen auch vom Geist Gottes angetrieben"
Main: Dann würden diejenigen, die sich so verstehen, dass sie an Gott glauben, sich quasi versündigen, wenn sie sich nicht einsetzen für Freiheit in Gesellschaft, Kirche - oder gar wenn sie antifreiheitlich agieren oder argumentieren?
Marx: Ja, auf den ersten Blick ja. Natürlich ist jedes Gemeinwesen auch ein Gemeinwesen, was sich Regeln gegeben hat. Man kann nicht einfach sagen: So, jeder in dieser Gemeinschaft macht einfach, was er will, was ihm wichtig ist oder ihr wichtig ist. Das kann es nicht sein. Die Freiheitsbewegungen müssen auch berechtigte Freiheitsbewegungen sein. Sie müssen sich einbetten lassen in das, was wir in der katholischen Soziallehre auch das Gemeinwohl nennen.
Aber ich glaube, dass die Freiheitsbewegungen der letzten Jahrhunderte eben doch auch vom Geist Gottes angetrieben wurden, weil es ja Freiheitsbewegungen waren gegen Sklaverei, gegen Unterdrückung, Freiheit auch der Wahl, Freiheit, in einer Gesellschaft zu leben, wo anerkannt wird, dass man sich auch religiös anders entscheiden kann. All die Grundrechte, die Freiheitsrechte, das ist eine Bewegung, die, das ist meine Überzeugung, auch etwas hat vom Wehen des Geistes. Und das anzuerkennen und zu sehen und auch mit Wertschätzung und mit Engagement zu begleiten, das gilt auch für die Gegenwart und die Zukunft, das ist klar.
Main: Wenn verantwortliche Freiheit in Ihrem Sinn für alle Lebensbereiche gilt, auch für den der Kirche, an welchen Punkten kann Ihre Kirche, die katholische, besser werden?
Marx: Ja, wir können immer besser werden. Das Problem ist hier, dass wir auch ein Gemeinwesen sind, ein religiöses Gemeinwesen mit sehr vielen Traditionen und Regeln. Also, das ist ein erster, wichtiger Punkt, dass man sich dieser Tradition vergewissert, dass man gut unterscheidet, was ist das, was uns von Christus her vorgegeben ist, und dass wir aufmerksam miteinander umgehen und nicht jeder seinen Theorien und seinen Vorstellungen folgt - und eben der Weg offen ist für weitere Diskussionen.
Das würde ich mir schon wünschen, dass wir sehr sorgfältig sind, das zu definieren, was sich eigentlich so nicht ändern kann, wo wir eine Vorgabe haben, die uns nicht zur Verfügung steht, wo wir als Menschen nicht sagen können: Das machen wir aber… also, wir können etwa das Neue Testament nicht neu schreiben. Das ist uns vorgegeben. Und wir können unterscheiden, was ist zeitbedingt, was ist in der Geschichte dieses religiösen Gemeinwesens Kirche kulturell bedingt, wo haben wir neue Erkenntnisse. Das wünsche ich mir schon.
Das Foto zeigt Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, auf einer Pressekonferenz.
Reinhard Marx bei der Pressekonferenz zur ersten Versammlung des Synodalen Wegs in Frankfurt (picture-alliance / dpa / Andreas Arnold)
Deswegen ist das Element des Synodalen, des Sprechens, wichtig. Es ist auch wichtig, dass wir von der Welt lernen. Das ist für manche - früher und auch heute - fremd, dass die Kirche auch zu lernen hat - und nicht nur aus sich selber, aus ihren eigenen Texten, aus ihrer eigenen Tradition, sondern dass sie lernen muss auch aus der Geschichte der Menschen, zum Beispiel den Freiheitsbewegungen oder eben auch aus wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Also, sich nicht anzupassen an den Zeitgeist, was immer das sein mag, aber die Zeichen der Zeit zu lesen im Licht des Evangeliums und sich zu fragen, was will Gott uns in dieser Stunde auch jetzt sagen. Jedenfalls Vorsicht damit, Diskussionen einfach zu beenden. Nur die Diskussionen müssen mit Respekt voreinander geführt werden von allen Seiten. Da nützt es nicht, einfach rechthaberisch durch die Landschaft zu marschieren. Der eine oder andere oder die eine und andere meinen, sie haben alles schon richtig verstanden. Das Gemeinwesen ist eine gemeinschaftliche Unternehmung - und da braucht man das Gespräch miteinander.
"Die freie, offene Gesellschaft ist kein Selbstläufer"
Main: Reinhard Marx, Münchener Erzbischof, bis zum Frühjahr auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Damit unsere Hörer ein bisschen nachfühlen können, wie Sie schreiben, zitiere ich einmal eine Passage, durchaus dramatisch und pathetisch oder soll ich sagen, prophetisch formuliert? Da schreiben Sie wörtlich:
"Wir stehen in unseren Tagen vielleicht an einem Wendepunkt der Freiheitsgeschichte. Es scheint mir nicht entschieden zu sein, ob wir eine Kultur der Freiheit bewahren und weiterentwickeln im Blick auf alle Menschen oder ob wir einen Weg einschlagen, der in autoritäre, vielleicht sogar totalitäre Modelle zurückführt, die die Freiheit ideologisch unterhöhlen. Es gibt eine Furcht vor der Freiheit."
Wie können Sie diese Angst nehmen?
Marx: Gott denkt groß von Menschen. Er schenkt uns Freiheit, er schenkt uns die Möglichkeit, Dinge zu beurteilen, Verantwortung zu übernehmen, ein Gemeinwesen aufzubauen, Familie aufzubauen, Menschen miteinander auf den Weg zu bringen, aber das ist anstrengend, weil es ja auch immer Verzicht ist.
Wir haben in der offenen Gesellschaft, in der wir leben, in Deutschland jedenfalls, in Europa, in anderen Ländern auch, uns daran gewöhnt, dass Freiheit ein Selbstläufer ist, und das ist es nicht. Das ist nicht nur eine Frage jetzt für die Kirche, sondern das ist wirklich eine Frage für die ganze Gesellschaft, dass wir nicht zurückfallen in autoritäre Vorstellungen von Schwarz und Weiß, homogene Gesellschaften, wie wir es zum Teil in populistischen Strömungen wieder erleben.
Ich hätte mir doch nicht vorstellen können vor 20 Jahren, dass solche Populismen und Nationalismen und solche ideologischen Verdrehungen auch bis in die Kirche hinein wieder, ja, ich möchte fast sagen, wieder hoffähig werden oder wieder ihren Platz finden. Das ist noch nicht die Mehrheit, das will ich jetzt nicht sagen, aber man muss am Anfang hinschauen und sehen, dass eben die freie Gesellschaft, der Respekt vor den Menschen, auch vor anderen Meinungen, vor anderen Religionen, vor anderen Kulturen und Lebensweisen nicht von selber läuft. Das ist eine Anstrengung und da habe ich ein bisschen Sorge, dass sich das manche zu leicht vorstellen und deswegen diese Warnung, die vielleicht etwas pathetisch daherkommt, aber sie ist mir sehr, sehr wichtig, dass wir nicht in die Phase kommen zu meinen, das sei ein Selbstläufer. Das ist es eben nicht.
Main: Pathetisch ist ja nicht unbedingt eine Kritik.
Marx: Nein, also mit Vehemenz, würde ich sagen. Ich hätte mir das früher auch nicht vorstellen können, dass ich so sehr auf die Kostbarkeit der Freiheit schaue. Die Furcht vor der Freiheit ist der Ausgangspunkt - und dann sich zurückzuziehen in eine Zitadelle oder in eine klare Ideologie, in Verschwörungstheorien, in bestimmte Vorstellungen, die nicht mehr offen sind, das ist eine Gefährdung, die durchaus aktuell ist.
"Nach Corona-Krise könnten Ungleichheiten steigen"
Main: Ihr Buch war fertig, als die Corona-Epidemie zuschlug. Die konnten Sie nicht mehr einarbeiten, diese Krise, obwohl es da ja auch um das Austarieren von Freiheit und Gesundheitsschutz geht. Wurde in den vergangenen Monaten insgesamt die Balance gehalten? Oder gab es aus Ihrer Sicht Ausrutscher in Richtung zu wenig oder zu viel Freiheit?
Marx: Ja, ich glaube schon, dass im Wesentlichen die Balance gehalten wurde. Man hat gemerkt, dass eine freie Gesellschaft durchaus in der Lage ist, das auszubalancieren. Wir haben immer wieder Maßnahmen gehabt. Dann wurden sie öffentlich kritisiert. Dann gab es Debatten darüber. Wir haben ja keine, ja, fast keine Stunde gehabt in den letzten Monaten, ohne dass über Corona und die Folgen und die Maßnahmen diskutiert worden ist; und das ist erst einmal ein sehr schöner Ausdruck von Freiheit, dass nicht einfach hingenommen wird. Es werden dann Umfragen gemacht, es wird wieder zurückgezogen, es sind neue Erkenntnisse da. Dann macht man wieder andere Maßnahmen, aber insgesamt ist ein großes Bemühen da gewesen.
Jetzt geht es ja um die Frage: Was wird folgen? Da bin ich noch nicht ganz sicher. Werden etwa die Ungleichheiten in der Gesellschaft größer werden? Das befürchte ich. Dann kann der Populismus wieder erstarken, der im Augenblick eher schwächer ist, weil die Exekutive, jedenfalls in unserem Land, soweit ich sehe, das ganz gut hinbekommt und deswegen auch im Blickfeld ist.
Philosophie und Corona-Krise: "Gottvertrauen wird unter den Tisch gekehrt"
Die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr kritisiert eine "spirituelle Hilflosigkeit" der Kirchen in der Corona-Krise. Der Versuch einer christlichen Deutung werde nicht unternommen, sagte sie im Dlf. Dabei könnten Kirchen jetzt ihre Stärke ausspielen, Unsicherheiten zu reflektieren und auszuhalten.
Aber danach wird man sehen: Wer trägt denn die Lasten, wer trägt die Folgen? Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeit, was bedeutet das für die Zukunft derer, die vielleicht jetzt schon schlechte Bildungschancen hatten und so weiter? Manches wird nach oben kommen, und die Ungleichheiten und die Spannungen könnten danach steigen.
Main: Welche Indizien haben Sie dafür?
Marx: Ja, Sie können einmal bei der Bildung sehen, dass natürlich die, die jetzt vorher schon etwas schlechter dran waren, durch diesen Bildungsausfall noch mal schlechter dran sind. Dass die, die wenig Vermögen haben, noch einmal schlechter dran sind. Die Zinsen werden für viele Jahre nicht steigen.
Wenn einer, sagen wir mal, 30.000, 40.000 Euro, wir haben ja nicht eine Gesellschaft von Millionären, angespart hat für sein Alter, wo soll er das anlegen? Sicher nicht bei Wirecard. Wenn er es dort angelegt hat, ist es schon weg. Deswegen ist das schon eine Frage - das war ein altes Thema der katholischen Soziallehre: Vermögensbildung für breite Schichten, weil Vermögen auch ein Element der Freiheit ist, dass ich nicht abhängig bin nur von dem, was ich in meiner Arbeit, in meiner Lohnarbeit erbringe, sondern dass da etwas mehr ist, was mir Freiheitsräume schafft. Das sind nur einige Beispiele, an denen deutlich wird, dass das eher problematischer werden wird. Das ist meine Befürchtung.
"Eine Kultur der Freiheit bewahren"
Main: Kardinal Marx, wir haben herausgearbeitet, dass Ihr Freiheitsbegriff nicht einfach der des Laisser-faire ist. Wenn Sie versuchen müssten, Ihre Kerngedanken zur Freiheit so nutzbar zu machen, damit wir durch die Corona-Krise besser durchkommen, auch jetzt mit Blick auf die Zukunft, auch für den Fall, dass es im Herbst wieder schlimmer wird, wie könnte Ihr Nachdenken über Freiheit unser seelisch-geistiges Immunsystem in Pandemie-Zeiten stärken?
Einige Menschen sitzen mit Mundschutz in der Straßenbahn in Hannover.
Mundschutz in der Straßenbahn: Freiheit und Verantwortung gehören zusammen (dpa / Ole Spata)
Marx: Also, Corona hat uns gezeigt, wie zerbrechlich unser Leben ist, wie kostbar unser Leben ist, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören und dass Freiheit, eine freie Gesellschaft nur existieren kann, wenn die Menschen aufeinander achten und mit Respekt voreinander umgehen. Und die Freiheit, das haben wir gelernt, ist kein Selbstläufer. Sie kann, auf welchen Wegen auch immer, bedroht werden. Dies war nun eine Bedrohung, die wir nicht erwartet haben, eine Pandemie. Aber es gibt ja auch andere Bedrohungen der Freiheit. Aber vielleicht haben wir gelernt, wie kostbar die Freiheit ist und wie sehr wir uns auch anstrengen müssen, eine Kultur der Freiheit zu bewahren.
"Schmerzhaft - aber nicht das Ende des Christentums"
Main: Freiheit impliziert ja auch immer die Bereitschaft, sich zu verändern. Wie wird die Pandemie die katholische Kirche verändern?
Marx: Wir reden ja schon seit Jahren davon: Die Sozialgestalt der Kirche verändert sich, weil eben homogene Gesellschaften sich verändern, weil die Selbstverständlichkeit des Christentums, wie wir die vielleicht in den Kulturen vor 50, vor 100 Jahren hatten, so nicht existieren kann, auch in Zukunft nicht.
Das sind schmerzhafte Prozesse. Das ist aber nicht das Ende des Christentums. Es wird eine neue Epoche kommen. Deswegen wirkt Corona eher wie eine Beschleunigung. Ich sehe Corona oder die Pandemie, in der wir jetzt leben, die wird ja vorübergehen, wann auch immer, aber sie ist eine Art Beschleunigung, wie ein Brennglas, das die Entwicklungen, die da sind, noch einmal verstärkt.
Main: Wenn ich in Anlehnung an den verstorbenen Altbundespräsidenten Roman Herzog jetzt in der Corona-Krise formulieren würde, durch die katholische Kirche muss ein Ruck gehen, würden Sie das unterschreiben und wiederholen?
Marx: Immer, immer muss ein Ruck durch gehen. Jedes Jahr, wenn die Fastenzeit beginnt, möchte ich, dass ein Ruck durch die ganze Truppe geht, dass gefragt wird: So, sind wir eigentlich in der richtigen Spur, haben wir die richtigen Prioritäten gesetzt? Ich glaube, das ist ein permanenter Prozess.
Forderung von Ordensfrauen: "Kein Zurück in die Kirche vor Corona"
Zehn Ordensfrauen fordern öffentlich Reformen. Seit Wochen müssen sie ohne die tägliche Messe auskommen – und stellen fest, dass sie weder Eucharistie noch Priester vermissen. "Bitten nützt nichts, wir müssen schreien, wenn sich etwas ändern soll", sagte Susanne Schneider, eine der Autorinnen, im Dlf.
Was wir in diesen Monaten erleben, ist eine Verstärkung, Beschleunigung, aber die Grundaufgabe der Umkehr hat ja keine Gemeinschaft so stark auf die Fahnen geschrieben wie die Gemeinschaft der Kirche. Die Glaubwürdigkeit der Kirche hängt eben daran, ob sie selber das Evangelium lebt, ob die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, mit der Pfarrei, mit Personen, mit Gemeinschaften, sagen: Das ist eine starke Truppe. Da ist der Geist der Freiheit, da ist Hoffnung, da ist eine Atmosphäre, die anpackt, die nach vorne geht. Insofern wünsche ich mir bei mir selber und bei allen immer wieder einen geistlichen Ruck des Heiligen Geistes.
Main: Abschließend, in welche Richtung müsste dieser Ruck strukturell gehen?
Marx: In eine größere synodale Bereitschaft, in ein neues Miteinander von Priestern und Laien. Wir sind doch sehr stark fixiert weiterhin auf die Priester, auf Hauptamtliche. Also dass die ganze Kirche, alle Getauften und Gefirmten auch Verantwortung übernehmen und dass die Hauptamtlichen das auch respektieren, dass wir eine synodalere Kirche werden, wie der Papst sagt, das glaube ich, ist schon auch ein Element der Freiheitsbewegung in der Kirche.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Reinhard Marx: "Freiheit"
Verlag Kösel, 176 Seiten, 18 Euro.