"Eine Maschine arbeitet 24 Stunden non-stop ohne Ermüdung. Der Mensch kann das nicht. Der Mensch kann vielleicht zehn oder zwölf Stunden arbeiten, aber letztendlich muss er einmal schlafen. Und dieser Anpassungsprozess von menschlicher Taktung und Maschinentaktung, das ist ein Prozess, der ist uns heute vollkommen geläufig, man ist ja eingebunden in diese Welt der Taktung. Aber damals vor zweihundert Jahren, war das dem Menschen noch sehr fremd."
Die Industrialisierung überrollt Europa
Eberhard Illner ist Leiter des Historischen Zentrums von Wuppertal. Die Stadt war im 19. Jahrhundert eine wichtige Industriemetropole in der die maschinisierten Webstühle Tag und Nacht ratterten. Von England ausgehend, hatte die Industrialisierungswelle zunächst Frankreich und dann auch die Städte zwischen Rhein und Ruhr regelrecht überrollt. Laufend gab es neue Erfindungen, die das Leben der Menschen radikal veränderten, sie aber auch verunsicherten. Das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Maschine wurde von der damals noch relativ jungen Kunstform der Karikatur in humoristischen und kritischen Zeichnungen festgehalten. Publiziert wurden sie als lose Blätter oder in speziellen Satirezeitschriften.
"Es war ein verbreitetes Medium, ein sehr stark beachtetes Medium. Es war ein subversives Medium. So wie heute, wenn wir z.B. 'Charlie Hebdo' nehmen, dann trifft das den Nerv der Zeit und das macht sie so farbig und für uns in der historischen Rekonstruktion so interessant. Man kann mit Karikaturen zwischen den Zeilen lesen."
…und Erkenntnisse über die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gewinnen, die sich durch die rasante industrielle Entwicklung im Aufbruch, aber auch im Umbruch befand. Die Menschen wurden mit einer neuen Maschinen-Technik konfrontiert, die ihr Leben komplett veränderte.
Annäherung durch Ablehnung
"Die Karikatur ist eigentlich das einzige Kunstgenre, das sich richtig nah an die Maschine heranwagt, die Salonkunst macht es nicht, die Historienmalerei macht es nicht. Da findet wenig Auseinandersetzung in den Bildenden Künsten statt. Nur die Karikatur schafft das. Das ist eine ganz paradoxe Leistung. Annäherung durch Ablehnung. Also dadurch, dass die Maschine verspottet wird, dadurch, dass übertriebene Zukunftsvisionen aufgestellt werden, gibt es auch so eine Eingewöhnung der Bevölkerung mit der Maschine, denn eines ist klar, die Maschine geht nicht mehr weg."
Professor Dr. Matthias Winzen ist Kunsthistoriker. Er lehrt an der Hochschule der Bildenden Künste in Saarbrücken. Außerdem ist er Leiter des Museums für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts in Baden-Baden. Gemeinsam mit dem Wuppertaler Historiker Eberhard Illner initiierte er die Ausstellung "Technische Paradiese – die Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts". Bis Juli gastiert die Ausstellung im Deutschen Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover.
Eine kolorierte Karikatur aus dem Jahr 1809 zeigt eine Straßenszene in London. Rund ein Dutzend abendlicher Flaneure, Männer und Frauen, manche festlich gekleidet, haben sich an den damals neu eingeführten Gaslaternen versammelt und diskutieren eifrig über diese neue technische Errungenschaft. Thomas Rowlandson, Urheber der Zeichnung, hat die Gefühlswelt seiner Zeitgenossen wunderbar wiedergegeben.
"Das Erstaunen, das Erschrecken. Man hat die ganzen unterschiedlichen Emotionen in einem Blatt zusammengefasst, die so eine technische Neuerung tatsächlich auslöst."
Die Karikatur als historische Quelle
Für Dr. Gisela Vetter-Liebenow, Kunsthistorikerin und Direktorin des Karikatur-Museums in der niedersächsischen Landeshauptstadt, sind die Zeichnungen, die von englischen, französischen und deutschen Künstlern des 19. Jahrhunderts stammen, Spiegelbild einer kompletten Epoche. Besonders die Karikaturen, die in Comic-Manier mit Text-Sprechblasen versehen wurden, sind eine gute Quelle für wissenschaftliche Analysen.
"Sie bieten viel Informationen, geben uns dadurch auch die Möglichkeit und sehr unmittelbar, in das Erleben der Zeit hineinzuversetzen. Das ist vielleicht auch insgesamt ein Vorteil dieser Kunst. Es sind die unmittelbaren Eindrücke der Menschen der Zeit, die wir hier lesen. Wir lesen nicht irgendwelche theoretischen Texte, die schwer verständlich sind, sondern wir können uns in die Gedanken dieser Menschen versetzen, weil sie einfach niederschreiben und niederzeichnen, was sie an Gedanken zu diesem Thema haben."
Existenzangst und Geschwindigkeitsrausch
Es war die Angst vor Gasvergiftungen, vor explodierenden Dampfkesseln oder abstürzenden Ballons, die die Menschen im 19. Jahrhundert umtrieb. Es sind aber auch materielle Existenzängste, Sorgen um den Arbeitsplatz, Sorgen, dass man als Mensch durch moderne Maschinen ersetzt und verdrängt werden könnte.
"Es gibt eine wunderbare Karikatur von Daumier in der Ausstellung, wo die Kutscher, die Lohnkutscher dastehen und lange Nasen machen, weil auf einmal die Eisenbahnen rollen und ihnen die Arbeit abnehmen."
Mit den neuen Lokomotiven, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von England ausgehend, für den Personenverkehr in Betrieb genommen wurden, konnte man große Distanzen in einer bis dahin noch nicht gekannten Geschwindigkeit überwinden.
"25 Stunden-Kilometer, das waren rasende Züge für die Menschen damals. Da war auch die Frage, was macht das mit mir als Mensch, als Körper? Da hatte man die Vorstellung, bleibt da irgendein Teil von mir, meines Körper weg oder kommen meine inneren Organe in Unordnung? Also da gab es die schlimmsten Vorstellungen, was das als Konsequenz haben könnte."
Die Eisenbahn als Monster auf Schienen
Die so genannte "Eisenbahnkrankheit" wurde zum Gesprächsstoff in Gasthäusern und auf den Straßen und wurde sogar in medizinischen Fachkreisen diskutiert. Immerhin gab es Bahn-Reisende, die über entsprechende Symptome klagten. Ganz klar, dass dieses Phänomen auch die Karikaturisten auf den Plan rief, die die Gefühle und Befürchtungen ihrer Zeitgenossen mit spitzer Feder und satirischer Übertreibung zu Papier brachten. In ihren Zeichnungen wurden die Eisenbahnen als Monster auf Schienen dargestellt, als Feuer und Rauch spuckende Dampfrösser. Auch der Begriff "Eiserne Spinne" wurde zur Metapher für die unheimlichen Lokomotiven und das sich immer weiter ausbreitende Schienennetz. Das neue Gefühl von Raum und Zeit, bereitete vielen Menschen große Sorge.
"Damals war ja die Wegstrecke von einer Stadt zur anderen, die Zeit, die man dafür zu Fuß brauchte. Da gab es eine feste Orientierung und auch eine feste Verkoppelung von Zeit und Raum und plötzlich sitzt man still, wird sehr schnell über Schienen geschossen, so wurde das damals gefühlt. Und das waren damals ganz neue irritierende Erlebnisse."
Die Karikatur - eine neue Form der Kritik
Wie heute, waren die Karikaturisten des 19. Jahrhunderts Künstler, Chronisten und Journalisten in einer Person. Sie begründeten damals eine neue Form von Auflehnung und Kritik an politischen und gesellschaftlichen Missständen, wurden zu einem wichtigen Treibmittel der Meinungsvielfalt und trugen zum Demokratisierungsprozess in der Gesellschaft bei.
"Man findet ja auch in den Karikaturen, wenn man sich einen größeren Überblick verschafft, nicht die komplette Verteufelung oder Absage an die Maschine, sondern immer ein tastendes Infrage stellen. Was ist denn überhaupt die Maschine, was wird uns das bringen, ist das die Bedrohung oder ist das der ganz große Triumph? Die größte Wirkung der Karikatur in Bezug auf die Technik ist es, die industrielle Revolution wirklich anschaulich zu machen und in die bürgerlichen Wohnzimmer zu tragen und zur Diskussion stellen. Das ist eine sehr große Wirkung der Karikatur."
Zukunftsvisionen
Einige Karikaturisten kommentierten aber nicht nur die industrielle Realität des 19. Jahrhunderts, sondern gingen einen Schritt weiter und entwickelten Phantasien über das, was die Zukunft bringen und welche weiteren Konsequenzen der technische Fortschritt haben könnte. Mal waren es äußerst heitere Visionen, mal aber auch düstere Vorahnungen der heutigen Wirklichkeit. Als Beispiel nennt der Wuppertaler Historiker Eberhard Illner eine Illustration, die der französische Zeichner Robida 1883 in seinem Buch "Le Vingtième Siècle" mit Visionen über das 20. Jahrhundert" veröffentlichte.
"Robida hat in seinem Buch ein Telephonoskop gezeichnet. Und das ist nichts anderes, als das Fernsehen. Auch die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Er zeichnet eine bürgerliche Familie. Ein Bourgeois, der auf seinem Sofa sitzt und auf einem großen Paravent-Schirm die Erstürmung von Peking mitbekommt, im Opiumkrieg und das sozusagen live. Es ist im Grunde genommen das, was wir heute jeden Abend im Fernsehen mitbekommen. Man sitzt auf dem Sofa und sieht, wie in Syrien Giftgas verspritzt wird".
Für Gisela Vetter-Liebenow, Direktorin des Deutschen Museums für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover, liegt in dieser Aktualität und in den vielen Parallelen zur Gegenwart, der besondere Reiz der Ausstellung.
"Wir enden ja mit einem wunderbaren Zitat aus dem 19. Jahrhundert, aus dem 'Punch': "Wir werden letztlich vom Denken über Maschinen beim Denken durch Maschinen angelangen". Das war im "Punch" 1865 zu lesen und genau darüber sprechen wir ja heute laufend."
Die Ausstellung "Technische Paradiese – Die Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts" ist noch bis zum 9. Juli im Deutschen Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover zu sehen und danach vom 8. Oktober bis zum 10. Dezember im Historischen Zentrum Wuppertal. Zur Ausstellung ist im Athena-Verlag ein umfangreicher Bildband erschienen.