"Königinnen haben Konjunktur." Das ist der erste Satz dieses Buches. Er bezieht sich auf die zahlreichen Queen-Fernseh- und Kinofilme, die in Großbritannien gerade laufen, nicht zuletzt die Netflix-Serie "The Crown" über Victorias Ururenkelin Elizabeth, die amtierende britische Königin. Letztere hat ihre Ururoma sogar beim Thron-Rekord überholt: Elizabeth ist seit 65 Jahren Königin, Victoria hat es auf 63 Jahre gebracht.
Doch seit Jahrzehnten schon herrscht in der Geschichtswissenschaft Skepsis, ob die großen, prominenten Köpfe eines Zeitalters - Stichwort: "alte Männer machen Geschichte" - nicht weniger bedeutsam sind als die Strukturgeschichte.
Die Biographin Karina Urbach hält dagegen: "Man kann über das Viktorianische Zeitalter schreiben und seine Namensgeberin ignorieren. Doch den Faktor Victoria langfristig zu vernachlässigen gleicht dem Versuch, eine Party zu beschreiben, ohne die Gastgeberin zu erwähnen. Victoria war die integrative Klammer einer Gesellschaft, in der soziale Verunsicherung herrschte. In der ersten Hälfte ihrer Regierungszeit wurde sie zu einem moralischen Kompass für die aufsteigende Mittelschicht. In der zweiten Hälfte gelang es ihr, sich als Symbol des Empires zu inszenieren."
Die Briten erinnern sich an diese Zeit als goldene Ära – nicht zuletzt dank der imperialen Erfolge, die Victoria als "Kaiserin von Indien" verkörperte und enthusiastisch verteidigte.
Symbol des Empires
Aber sie war nicht nur Königin der Briten und Kaiserin der Inder, sie war vor allem deutsch, wie Karina Urbach eloquent und kenntnisreich klarmacht: "In Deutschland [...] sieht man Victoria als Sinnbild alles Britischen, in Großbritannien hingegen beurteilt man sie als ausgesprochen deutsch."
Die Enkelin des britischen Königs George III. hatte noch ein weiteres Handicap: Sie kam, so würde man es heute sagen, aus einer dysfunktionalen Familie. Ihr Vater, der cholerische Herzog von Kent, hatte als vierter Sohn des Königs so gut wie keine Aussichten auf die Thronfolge. Er verlegte sich stattdessen auf ein Leben als Frauenheld, was Victoria Zeit ihres Lebens abstoßend fand – und später mit ehelicher Treue und Familienorientiertheit konterkarierte.
Dass Victoria 1837 auf den Thron kam, verdankte sie der Tatsache, dass alle anderen Anwärter das Zeitliche gesegnet hatten. Eine achtzehnjährige, schlecht vernetzte Tochter einer Deutschen auf dem Thron, davon erhofften sich viele, die Königin manipulieren zu können.
Royale Öffentlichkeitsarbeit
Doch das Experiment ging anders aus: Victoria wurde die erste erfolgreiche "Medienmonarchin", auch mit Hilfe ihres deutschen Ehemanns Albert, Prinz aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha: "Er verkörperte sowohl die hohe Arbeitsethik als auch die viktorianische Idee des ‚self-betterment’ – der ständigen Weiterbildung und Verbesserung des eigenen Charakters. Viktorianer zu sein bedeutete, Ambitionen zu haben", schreibt Karina Urbach.
Albert etablierte erstmals royale Öffentlichkeitsarbeit: Er selbst bereiste mit der Queen das Land und schickte seine Söhne stellvertretend ins Empire. Damit exportierten die Royals die Popularität der Krone – eine Reisepolitik, die Prinz Charles und seine Söhne bis heute weiterführen.
Albert war auch der Architekt der zweiten Vermarktungs-Masche, die überdauert hat: Der begeisterte Hobby-Fotograf brachte gezielt die Aufnahmen des königlichen Weihnachtszimmers in Umlauf und inszenierte so das royale Familienglück als Blaupause für die aufsteigende britische Mittelschicht.
Formal machtlos, faktisch durchsetzungsstark
Und das gelang umso besser, als Victoria und Albert – damals selten – tatsächlich aus Liebe geheiratet hatten. Eheliche Treue, Familienzusammenhalt, Bildung, Sparsamkeit – die modernen Briten sogen diese Werte gierig auf. Queen Victoria, die uns heute oft als langlebig, aber auch langweilig erscheint – sie war der Kontrapunkt zum Image des verlotterten Königshauses, häuslich, entpolitisiert – und damit populär.
Karina Urbach holt Albert als Weichensteller dieser Neu-Inszenierung ins Licht zurück. Er war der smarte Berater, dem Victoria politisch nahezu blind vertraute. Und der innig geliebte Partner, nach dessen frühem Tod 1861 Victoria zur ewig trauernden Witwe wurde, in volksnaher, bescheidener Witwenkleidung.
Karina Urbach beschreibt süffisant, wie Victoria mangels guter Kontakte in die aristokratischen Kreise Strippen in der Politik zog. Oft setzte sich die formal machtlose Königin doch durch, indem sie ihre Premierminister kolossal nervte:
"Dieses ‚harassment’, die ständige Belästigung durch die Queen, war eine von allen Politikern gefürchtete Waffe. Victoria konnte – wenn sie es wollte – enorme Schwierigkeiten verursachen."
Eine legendäre Königin
Interessant ist auch das letzte, neue Kapitel des Buches, das sich der Heiratsstrategin Victoria widmet, die zeitlebens damit beschäftigt war, ihre Enkel und Enkelinnen strategisch geschickt in Europa zu verkuppeln.
Karina Urbach traut sich auch an die weicheren Seiten von Victoria heran, an die, die heute in der "Bunten" auftauchen würden:
"Während Prinz Albert kluge Kinder bevorzugte, legte seine Frau vor allem Wert auf attraktiven Nachwuchs. Dies war insofern ein unrealistischer Wunsch, als Victoria selbst die hannoverischen Gesichtszüge ihrer Vorfahren geerbt hatte. [...] Besonders Vickys ältester Sohn, der spätere Kaiser Wilhelm II., galt als ästhetische Zumutung."
Sätze wie dieser zeigen: Karina Urbach schreibt knackig und unterhaltsam. Zudem gelingt ihr der Spagat, auf nur 260 Seiten nicht nur eine überzeugende Darstellung einer legendären Königin unterzubringen, sondern auch ein überaus packendes Zeitporträt.
Karina Urbach: "Queen Victoria. Die unbeugsame Königin",
C.H. Beck Verlag, 284 Seiten, 24,95 Euro.
C.H. Beck Verlag, 284 Seiten, 24,95 Euro.