"Die Unbeschwertheit" – so der französische Originaltitel von Karine Tuils Roman – ist in Frankreich spätestens seit den Pariser Terroranschlägen verflogen. Angebrochen ist "Die Zeit der Ruhelosen" – so der Titel der deutschen Übersetzung. Schonungslos, aber ohne moralischen Zeigefinger umkreist Karine Tuil die gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Schieflagen. Drei Männer und eine Frau stehen im Mittelpunkt: ein Berater des Staatspräsidenten mit afrikanischen Wurzeln, der sich mit dem Mobbing im politischen Milieu konfrontiert sieht; ein traumatisierter, von der Schweigepflicht geknebelter Afghanistan-Kämpfer, ein erfolgshungriger, reicher Mobilfunk-Manager – und seine neue Ehefrau, eine impulsive Journalistin, die in Afghanistan recherchiert hat.
"Als erstes habe ich jede Menge Bücher zu meinen Themen gelesen, um mich mit den Inhalten vollzusaugen. Dann habe ich viele Leute kontaktiert: im militärischen Bereich Soldaten, ehemalige Armeeangehörige und Krankenhauspsychiater; im politischen Bereich Berater aus dem Élysée-Palast und Redenschreiber des Staatspräsidenten. Außerdem habe ich über Jahre für eine Wirtschaftszeitschrift literarische Porträts von Großunternehmern verfasst. Denn es gefällt mir immer mehr, wie eine Journalistin zu recherchieren, um einen Roman zu schreiben, der die heutige Realität so getreu wie möglich abbildet."
Wie schon in ihrem vorigen Roman "Die Gierigen" erweist sich Karine Tuil als gewiefte Plot-Bastlerin. Der rasche Wechsel der Perspektiven ist Grundprinzip. Sie folgt ihren vier Protagonisten durch Alltag und Erinnerungen, springt durch die Zeiten, von Ort zu Ort. Das erzeugt Tempo und Rasanz. Gleichzeitig nimmt Karine Tuil mit großer erzählerischer Sicherheit die gegenwärtigen gesellschaftlichen Konfliktpotentiale ins Visier. Immer wieder schließt sie ganz unterschiedliche soziale Milieus kurz. So verliebt sich der Afghanistan-Kämpfer in die Journalistin, die durch Heirat mit dem Wirtschaftsboss in den Geldadel aufgestiegen ist. Oder dem Präsidenten-Berater droht nach seinem steilen Aufstieg der soziale Absturz, weil er gegen eine rassistische Bemerkung aufbegehrt. Der Berater und der Soldat kennen sich aus Clichy-sous-Bois, jenem Ort, wo 2005 die Unruhen in den Pariser Vorstädten ausbrachen. Der eine verhinderte als Streetworker die Eskalation und ließ sich danach vom Präsidenten als Aushängeschild für die neue Offenheit der weißen Klasse missbrauchen; der andere ging zur Armee, um nicht ewig ein Loser zu sein.
"Ich wollte die Banlieue anders erzählen"
"Ich bin in der Banlieue aufgewachsen – nicht in Clichy-sous-Bois, aber in einer anderen Vorstadt mit stark gemischter Bevölkerung. Da kenne ich mich aus. Ich bin aber auch eigens nach Clichy-sous-Bois gefahren und habe Leute getroffen, die dort leben und arbeiten. Ich wollte die Banlieue anders erzählen. Vor allem interessiert mich die Frage des sozialen Determinismus: wie man aus einem benachteiligten, abgegrenzten Milieu herauskommt, zum Beispiel als Schwarzer, so wie mein Élysée-Berater. Vor kurzem gab es dort wieder ziemlich schlimme Unruhen und Polizeigewalt. Das ist ein großes Thema. Eine politische Reflexion findet aber nicht statt. Vielleicht ist es Aufgabe der Literatur, unsere sozialen Brüche offenzulegen."
In "Die Zeit der Ruhelosen" konfrontiert Karine Tuil – ohne ihre Leser zu bevormunden – die unterschiedlichsten politischen Positionen. Auch die Nebenfiguren bekommen so Gewicht: zum Beispiel Issa, der seinen alten Freund, den Präsidenten-Berater, als machtgeil attackiert und sich immer mehr in islamistische Verschwörungstheorien versteigt. In jedem Fall: Die Existenz aller Protagonisten wird auf den Kopf gestellt. Nichts, was ihnen bis dahin sicher schien, hat Bestand: nicht die Liebe, nicht der Status, nicht die eigenen Überzeugungen. Egal ob im politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Milieu: Wer Schwäche zeigt, dem droht der Untergang – auch dem Spitzenmanager François Vély. Aufgrund eines Fotos steht er plötzlich als Frauenfeind, Rassist und moderner Sklavenhalter da.
Antisemitische Attacken in den sozialen Netzwerken
"Mehr als die französischen Medien beunruhigen mich die sozialen Netzwerke: dieser Wahnsinn, der losbricht, sobald es einen Kontrollverlust gibt, sobald eine Information kursiert, die missfällt. Das sieht man derzeit im Präsidentschaftswahlkampf, wo jede Neuigkeit Hass-Kommentare und Angriffe im Internet hervorruft – und das ist auch bei meiner Figur François Vély so. Von einem Tag auf den anderen sieht er sich in den sozialen Netzwerken antisemitischen Attacken ausgesetzt, ohne die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Das ist brutal und überraschend für ihn, weil er sich gar nicht als Jude versteht. Über diese Figur bin ich ein Problem angegangen, das in Frankreich derzeit enorm präsent ist: die Entfesselung antisemitischer Äußerungen – vor allem in den sozialen Netzwerken."
Karine Tuils erste Romane, zum Beispiel "Schaumhochzeit", spielten im jüdischen Milieu von Paris und bestachen durch ihren burlesken Humor. Heute treibt sie die Frage um, was in unseren westlichen Gesellschaften aus dem Ruder läuft. Der Showdown ihrer – gerade in der psychologischen Figurenzeichnung – mitreißenden Mischung aus Gesellschaftsroman, Politthriller und Antikriegsdrama spielt im stark zerstörten Irak: dort, wo die – wie es heißt – "Aasgeier des Krieges" nach neuen Geldquellen suchen. Nur so viel: Auch hier konstruiert Karine Tuil ein abgründiges, bitteres, bestens recherchiertes Szenario, das jederzeit und überall denkbar ist: tabulos, aufwühlend und sprachlich versiert.
Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen"
Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
Ullstein, 512 Seiten, 24,00 Euro
Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
Ullstein, 512 Seiten, 24,00 Euro