Wann Karl-Heinz Ott dem Dichter Friedrich Hölderlin zum ersten Mal begegnet ist, lässt sich so genau nicht mehr sagen. Wahrscheinlich war das noch zu Schulzeiten. Das Gedicht "Hälfte des Lebens" könnte in dem katholischen Internat in Oberschwaben, an das Ott keine guten Erinnerungen hat, auf dem Stundenplan gestanden haben. So richtig aber fand er zu Hölderlin während des Studiums in Tübingen, wo man dem Dichter zwangsläufig über den Weg laufen musste. Karl-Heinz Ott:
"Ich hatte dann irgendwann auch einen Schlüssel zum Hölderlin-Turm, weil ich am Wochenende dort immer Führungen gemacht habe. Und ich hatte auch häufig ein Reclam-Heft mit Hölderlins Gedichten bei mir. Ich bin dann über den Hängen Tübingens rumgelaufen und versuchte, ‚Gang ins Offene‘ auswendig zu lernen. Also, es hat mich dann sehr früh angesprochen, diese Sprache."
Götter als Projektionsfläche
Hölderlin hat Ott nicht mehr losgelassen: Sein erster Roman trug den Titel "Ins Offene"; 1998 wurde er mit dem Hölderlin-Förderpreis ausgezeichnet. Vor ein paar Jahren wollte er in einem Büchlein den Hymnen-Dichter englischen Romantikern wie Wordsworth oder Keats gegenüberstellen. Daraus ist nichts geworden. Oder doch, aber nun ganz anders: "Hölderlins Geister" heißt der Lang-Essay, der zunächst in die Gedankenwelt des 1770 in Lauffen am Neckar geborenen Hölderlin einführt, seine Verehrung der griechischen Antike und Götter beleuchtet, seine Heraufbeschwörung des spätestens seit der Aufklärung ins dunkle Abseits gedrängten Mythischen.
"Ich denke, es war schlichtweg der Glaube: Damals war der Mensch eingebettet in die Natur, in eine pantheistisch beseelte Natur, und das Christentum hat eben Schmerz und Leiden so sehr betont, dass auch Schmerz und Leiden bloß noch in der Welt die zentrale Rolle gespielt haben. Das Christentum steht für Trennungen, das wahre Leben kommt erst im Jenseits, das falsche Leben ist im Diesseits, die Welt ist eigentlich ein Jammertal, die wirklich schöne Welt ist das Paradies, das eben nichts mit der Erde zu tun hat. Das ist auch die Trennung zwischen Seele und Sinnlichkeit, also das Sinnliche kann nicht das Wahre sein, das Seelenleben wird nur beschmutzt durch Sinnlichkeit, also alles, was mit dem Christentum in die Welt kommt, wird dann abgewehrt."
Die Griechenverherrlichung ist – wie auch bei Winckelmann – nur möglich, weil weder das zeitgenössische Griechenland bereist noch das historische jenseits idealisierender Vorstellungen wahrgenommen wird. Die Griechen und ihre Götter sind reine Projektionsfläche – die Wiedergeburt des Mythos aus dem Geist des weltabgewandten Träumers.
"Natürlich, im Grunde ist es eine andere Vision von einer Art Urkommunismus. Oder vielleicht auch von Rousseauismus, bloß dass jetzt Hölderlin nicht in dem Sinn gesagt hätte, wir müssen zurück zu irgendeiner Natur. Aber es sind diese Ursprungsfantasien, dass dort alles gut war und schön war und herrlich war und großartig war. Und die sind natürlich auf eine Art doch sehr kindlich, diese Fantasien."
Ideologisch anschlussfähig und verwertbar
Karl-Heinz Otts Überlegungen zu Hölderlins Geschichtsverständnis, seiner Mythensehnsucht, seiner Überhöhung des Vergangenen ist die Grundlage für die Hölderlin-Rezeption im 20. Jahrhundert. Denn erst da wird der Dichter, der in der zweiten Hälfte seines Lebens geistig verwirrt im Tübinger Turm saß und immer hermetischere Zeilen niederschrieb, wiederentdeckt. Und nicht nur entdeckt, sondern mehr noch für politische, ideologische Zwecke vereinnahmt. Sein hoher, an Pindar geschulter Ton macht ihn anschlussfähig – und zwar an die verschiedensten Strömungen.
Da ist der George-Kreis, der in ihm einen Propheten erkennt. Und natürlich Heideggers Existenzialismus, dem Hölderlins hymnische Anrufung der Heimat geradezu zum Leitmotiv wird: Die "Seynsvergessenheit", die bei Platon ihren Anfang genommen und über das Christentum zur Aufklärung geführt habe, klagt Heidegger an – und bei Hölderlin findet er die Wehmut über das Verlorene dramatisch formuliert. Heimatlos und entwurzelt sei der moderne Mensch; Hölderlin spielt den poetischen Soundtrack dazu. Der Hölderlinsche Sound – denn es geht natürlich um Klang, um Überhöhung durch Musikalität, um Wallungswerte –, ist ideologisch wunderbar verwertbar.
"Man muss auch sagen, wenn man durch Heideggers ganze ethymologisierenden Pseudokompliziertheiten durchgeht, ist es der Ruf, dass nur das Aufgehobensein in einem Boden, der nur zu einem bestimmten Volk gehört, das Wahre ist, und dafür wird Hölderlin benutzt. Und es gibt natürlich bei Hölderlin – wie bei anderen Dichtern auch – genügend Verse, die, wenn man sie aus dem Kontext rauszieht, kann man plötzlich lauter deutschvaterländische Gesänge entdecken."
Der entfremdete Mensch
Seinem Ursprung entfremdet wird der Mensch, weil die alte Welt verschwunden ist, die erdgebundenen Götter vertrieben worden sind.
"Und der große Feind ist, heute würde man sage: die Globalisierung – das ist die Bodenlosigkeit, die Entwurzelung. Und da sind wir natürlich dann schon ganz schnell bei rechtsradikalem Denken."
Die Griechen werden bei Heidegger zu den neuen Germanen, und Hölderlin ist der Künder dieser aus der Archaik geborenen und nun wieder anbrechenden Zeit. Die Nazis hatten freilich einen Sinn für diese Töne. In den Tornistern der Wehrmachtssoldaten fanden sich Hölderlin-Verse – zur Erbauung und Mobilisierung.
Interessant ist nun, dass nur zwanzig Jahre später Hölderlin von der Linken umarmt wird. Plötzlich wird er, der die Französische Revolution willkommen hieß und sie sich auch diesseits des Rheins wünschte, zum Jakobiner, zum Rebellen, zum unangepassten Geist. Peter Weiss schreibt ein Stück mit dem Titel "Hölderlin". Darin treten die beiden Studienfreunde Hegel und Schelling auf, aber auch Goethe, Schiller und Fichte, sogar Marx und eine ganze Komparsenschar von Arbeiterinnen und Arbeitern - Hölderlin als Frühmarxist. Den französischen Denkern Bertaux und Foucault gerät Hölderlin zum Sinnbild eines Menschen, den die herrschende Gesellschaftsordnung für verrückt erklärt. Der Wahnsinnige aber sei in der bürgerlichen, kapitalistischen Welt der eigentlich Normale; auch die Antipsychiatriebewegung der 70er Jahre hat Hölderlin zum Säulenheiligen erkoren.
Aufhebung von Widersprüchen
Letztlich ging es Hölderlin – und auf andere Weise seinen Adepten – um die Aufhebung von Widersprüchen, mit denen die Moderne den Menschen konfrontiert.
"Also, dieser ganz große Rausch des Einheitsfühlens, das kann einem natürlich, auf Deutsch gesagt, schon auch auf den Wecker gehen. Denn was würden wir miteinander noch zu tun haben, wenn's nicht auch das Konträre gäbe und wirklich es auch zum Teil beim Konträren bleibt. Aber diese Welt des Romans, der Zerrissenheit, des Konflikts, die stört ihn letztlich. Er sagt, das ist nicht meine Welt, das ist die bürgerliche Welt, und da finde ich keine Heimat."
Auch wenn Hölderlins "Hyperion" die Gattungsbezeichnung Roman trägt – weiter entfernt von den im modernen Roman verhandelten Konflikten kann ein Kunstwerk gar nicht sein; auch formal. Das Profane ist Hölderlin zuwider. Nicht nur der Roman, auch die Philosophie könne nicht zur Überwindung von Gegensätzen beitragen, wie es Hölderlin vorschwebt. Noch in Tübingen gab es eine große Nähe zwischen Hölderlin, Hegel und Schelling. Die Mythologie sollte bei ihnen philosophisch, die Philosophie mythologisch werden. Die Welt musste poetisiert werden. Aber die drei Freunde schlugen unterschiedliche Wege ein. Die Wirklichkeit ließ sich, dachte man ernsthaft über die Welt nach, nicht ausblenden, und ein Zurück vor das Christentum und die Aufklärung konnte es nicht geben.
"Hegel sagt natürlich, das Leben wird immer ein Spiel zwischen Herr- und Knecht-Verhältnis sein. Es wird immer Konflikt sein. Und jeder ist in sich selbst zerrissen. Und zugleich ist man natürlich mit allen anderen irgendwo auch zerrissen, weil: Jeder geht seinen Interessen nach, und die treffen sich nicht immer. Und das ist natürlich die viel spannendere Position, weil damit müssen wir leben. Aber Hölderlin will nicht glauben, dass dies die Wirklichkeit sein soll."
Poetische Antriebskräfte
Ott arbeitet diese unterschiedlichen Arten, auf Realität zu reagieren, wunderbar heraus. Und das auf sehr anschauliche, kenntnisreiche, erzählerische Weise. Er zeigt, wie ein Dichter posthum in die ideologischen Strudel des 20. Jahrhunderts geraten konnte.
"Also, ich bemühe mich, nicht in dem Buch zu sagen, hier, das ist der wahre Hölderlin. Das würde ja vor allem bedeuten, dass ich selbst auch den Wahnsinn mitmache, zu diesen vollkommen konträren, aber ebenso vollkommen absolutistisch argumentierenden Positionen eine neue absolutistische hinzuzufügen. Ich betone eher gegen Ende des Buches, man könnte es auch einfach dabei belassen, dass man es als eine gewaltige Sprachmusik nimmt, ohne dem gleich eine Weltanschauung hinzuzufügen."
Die Kunst interessierte die meisten der Hölderlin-Deuter nicht. Nur insofern, als sie daraus Bausteine für ihr weltanschauliches Programm gewinnen konnten. Vielleicht, schreibt Ott, sollte man Hölderlins "geschichtsmythische Visionen als das nehmen, was sie für ihn selbst sind: poetische Antriebskraft". Man könnte sich einfach an der Hölderlinschen Sprachmusik berauschen. Gerade die späten Hymnen, so Ott, legen das Prophetische ab, weisen "ins Offene". Und das ist doch das Schönste, was sich über Dichtung sagen lässt.
Karl-Heinz Ott: "Hölderlins Geister"
Carl Hanser Verlag, München.
240 Seiten, 22 Euro.
Carl Hanser Verlag, München.
240 Seiten, 22 Euro.