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Karl Kraus´ Verdopplung der Kritik
Die Medienmoderne

Im Zeitalter radikaler Teilhabe an den Medien und in der Ära von Fake News hat die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ethik und Sprache an Brisanz gewonnen. Einer, der sein Leben an die praktische Aufklärung dieses Verhältnisses gesetzt hat, ist Karl Kraus. Eine neue Biografie hilft hier weiter.

Von Thomas Palzer |
Buchcover: Jens Malte Fischer: „Karl Kraus. Der Widersprecher“ und Fackel
Biografie über Karl Kraus, den Herausgeber der satirischen Zeitschrift "Die Fackel" (Buchcover: Zsolnay Verlag, Hintergrund: dpa-Zentralbild / Martin Schutt)
Gerade in Wien hat es mit Hofmannsthal, Wittgenstein, der Wiener Gruppe, Jandl oder Jelinek eine lange Tradition, Wort, Antwort und Verantwortung in einen Zusammenhang zu stellen und der Kritik zu unterziehen. Man nennt diesen Zusammenhang Sprachskepsis oder Sprachkritik.
Den Genannten zur Seite gestellt gehört unbedingt ein Wiener jüdischer Herkunft namens Karl Kraus. Kraus war ein Medienbeobachter, wie es ihn bis dahin nicht gegeben hatte. Und als ein solcher dachte er Ethik und Ästhetik als die zwei Seiten einer Medaille, was bei Wittgenstein, wie der Biograf Jens Malte Fischer festhält, deutliche Spuren der Beeinflussung hinterlassen hat. Nur ein einziges Mal sollen sich Kraus und Wittgenstein in Wien begegnet sein, wo es dann zwischen letzterem und Kraus-Anhängern zu einem groben Streit gekommen sei.
Im Tractatus logico-philosophicus heißt es:
"Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind eins.)"
Kraus übte allerdings keine Kritik an der Sprache, sondern an denen, die sie im Mund führen: an den Sprechenden.
Gut vierzig Jahre mussten vergehen, bis nach dem Tod von Karl Kraus im deutschsprachigen Raum ein Nachfolger erkennbar wird - ab den 1980er Jahren mit dem Schriftsteller und Berserker Rainald Goetz, der bis in den gelegentlichen religiösen Duktus und in die Unerbittlichkeit und Unversöhnlichkeit des Urteils hinein Kraus‘ Methode sich zu eigen macht und Medienbeobachtung zu seinem Generalthema.
"Nun gehet hin und leset"
Goetz' Blog und Roman eines Jahres mit dem Titel Abfall für alle aus dem Jahr 2003 greift Krausens Bezeichnung Abfall auf, den dieser anfänglich für seine erst später so genannten Aphorismen reserviert hatte.
Goetz und Kraus teilen das Schicksal, dass ihre Literatur schlecht altert – allerdings gilt das bei Kraus nur für die "Fackel" und deren angenommene und wohl kaum je stattgehabte fortlaufende Lektüre, weniger für seine Bücher – wie es großteils bei Goetz der Fall ist. Die Tagesereignisse und Tagesberühmtheiten sind vergessen, was die Lektüre vieler Texte enigmatisch macht, da die Seiten, auf denen sie stehen, vergilbt sind.
Wer ist dieser Karl Kraus? In einer böhmischen Kleinstadt 1874 als neuntes von zehn Kindern eines Papierhändlers und seiner Frau geboren, erlebt er nach der Übersiedlung der Familie nach Wien 1877 den Ersten Weltkrieg und das Ende des österreichisch-ungarischen Reiches, um in den 1920er Jahren seine größten Erfolge zu feiern – als Herausgeber und Alleinherrscher der "Fackel", als Redner und Polemiker und als Theaterautor – zumal mit den 'Letzten Tagen der Menschheit', ein von Kraus selbst als unspielbar bezeichnetes Werk, das im Februar 1923 in Teilen erstmals aufgeführt wird an der Neuen Wiener Bühne.
In der Vorrede schreibt Kraus:
"Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene (Jahre des Krieges). Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. Außer ihm, der die Schmach solchen Anteils einer Nachwelt preisgibt, hat kein anderer ein Recht auf diesen Humor. Die Mitwelt, die geduldet hat, dass die Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht zu lachen, hinter die Pflicht, zu weinen."
Schon als Jurastudent beginnt Kraus als Vorleser und Schauspieler in Wien öffentlich aufzutreten. Als Franz Moor in Schillers 'Die Räuber' steht er auf der Bühne, oder er wirkt bei der Aufführung von Wedekinds 'Büchse der Pandora' mit; er spielt Shakespeare, Nestroy, Raimund unter anderem, dreißig oder vierzig Mal tritt er in manchen Jahren vor sein Publikum – zwischen Budapest, Prag, Paris, Berlin, Triest, Innsbruck, Zürich und anderswo. Zwischen 1910 und 1936 liefert er allein in Zürich 700 Vorlesungen ab.
"Dienstag, den 3. Oktober 1916, präzise halb 8 Uhr: Kleiner Konzerthaussaal. Vorlesung Karl Kraus. Zum zweiten Male: 'Die lustigen Weiber von Windsor'. Lustspiel in fünf Akten von Shakespeare. Der gesamte Ertrag wird der k.k.n.-ö. Statthalterei zur Fürsorge für erblindete Soldaten überwiesen. Dienstag, den 14. Oktober: Vorlesung aus eigenen Schriften."
Der Musikwissenschaftler und Germanist Jens Malte Fischer kann auf eine lebenslange Faszination durch die Figur Kraus zurückblicken. Schon seine Dissertation nahm sich den Satiriker und Polemiker zum Thema. Fast fünfzig Jahre später krönt er sie mit einer gleichermaßen monumentalen wie kenntnisreichen Biografie.
Geschlecht und Charakter
Zentral für das Leben von Karl Kraus sind einerseits die Frauen und andererseits die Feinde. Fischer widmet jedem der beiden Phänomene einen monografischen Block seiner aus insgesamt 27 Blöcken auf über tausend Seiten bestehenden Biografie.
Kraus ist ein Polemiker, ein Kämpfer – und er ist jemand, der mit der gleichen Leidenschaft schöne Frauen und die Schönheit der Frauen liebt. Das Naturrecht des Geschlechts findet in ihm einen beredten Fürsprecher – und im Fall der Frau war das in seinen Augen die Sinnlichkeit. Beides, Eros und Feindschaft, verbindet sich beispielhaft an einer Fehde um die Schauspielerin Annie Kalmar, die Kraus um 1900 über die Vermittlung von Peter Altenberg kennen und lieben lernt, die aber bereits ein halbes Jahr später an Tuberkulose stirbt.
Fischer schreibt:
"Zwei Jahre später wird die Geliebte postum noch einmal zu einem auslösenden Faktor einer erbitterten und weitragenden Auseinandersetzung, nämlich der mit Maximilian Harden. Hier sollen nur jene Umstände geschildert werden, die zum endgültigen Bruch zwischen Kraus und Harden führten, nachdem er zuvor schon scharfe Kritik von Kraus an Hardens Benutzung sexueller Privatangelegenheiten in dessen Polemik gegen Wilhelm II. und den Kreis um Philipp zu Eulenberg übte. Harden beging in seiner Antwort, die Kraus in die Fackel aufnahm, vielleicht nur eine Unvorsichtigkeit, die aber bei dem durch die Kalmar-Affäre, wenn wir sie so nennen wollen, geschärften Empfinden von Kraus verheerende Auswirkungen hatte."
Harden, den Kraus einst als Mentor und Gönner der "Fackel" hochverehrt hat, bemüht sich darzustellen, woher die Animositäten von Kraus gegen ihn stammen - und vermutet sie in der Romanze zwischen Kraus und der Kalmar - worauf dieser harsch und bündig antwortet:
"Die Unfähigkeit, vor dem Geist zu bestehen, vergreift sich am Geschlecht."
Was Kraus sehr bald an Harden abstößt, ist, dass dieser seine Enthüllungen mit Indiskretionen aus der Intimsphäre seiner Gegner zu garnieren und zu untermauern sucht. Ein ähnliches Verhalten wird Kraus bei Alfred Kerr feststellen und diesen damit zu seinem Feind erklären.
Harden, ein in der Kaiserzeit und zu Beginn der Weimer Republik gefürchteter und einflussreicher Journalist, wird für Kraus zum Symbol für den Untergang der Welt durch schwarze Magie, mit welcher Fügung er den Journalismus und seine Abhängigkeit von der Ware Wort auf den Begriff bringt. 1907 publiziert Kraus das Pamphlet Maximilian Harden. Eine Erledigung:
"‘Dass einer ein Mörder ist, beweist nichts gegen seinen Stil‘: Auf diesen Standpunkt einer absoluten Ästhetik darf sich ein Ethiker wie Herr Harden nicht stellen. Ich gehe in der Schätzung stilistischer Vorzüge weiter und nehme sie zum Maßstab moralischer Werte. Dass einer ein Mörder ist, muss nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist."
Sprachlehre
Am 13. Januar 1910 hält Kraus im Verein für Kunst in Berlin seine erste Vorlesung aus eigenen Schriften – wobei er nicht nur aus eigenen Werken vorliest, sondern auch aus denen der Dichter, die er liebt - etwa Peter Altenberg, Detlev von Liliencron oder Frank Wedekind. In Berlin trägt er aus dem Aphorismenband Sprüche und Widersprüche vor und aus dem Essay Heine und die Folgen, in dem er sich zum Sprachproblem äußert, welches damals mit dem Brief an Lord Chandos von Hofmannsthal und der Sprachkritik von Fritz Mauthner virulent ist.
Bald darauf bemerkt er zu seiner Berliner Lesung in der "Fackel":
"Mein Bekenntnis ‚Ich beherrsche die Sprache nicht, aber die Sprache beherrscht mich vollkommen‘ (das schon in Berlin Verwirrung gestiftet hat) müssen ja die Reporter nicht verstehen, dürfen es für ein Armutszeugnis halten, das es auch tatschlich vom Standpunkt des Fortkommens eines Kommis ist, von dem perfekte Beherrschung sogar mehrerer Sprachen verlangt wird."
Wenn man an die Universitäten in der geistigen Situation der Gegenwart denkt, wo niemandem mehr einleuchtet, dass Denken sich an eine bestimmte Form oder Lineatur der Sprache binden könnte und wo sogar die deutschsprachige Philosophie gegenüber ihrem Thema blind genug geworden ist, um sich der Norm anzupassen und auf ihren Symposien Englisch zu reden, sticht einem die Aktualität von Karl Kraus und dessen wissender Sensibilität in sprachlichen Dingen ins Auge.
Präzise arbeitet Jens Malte Fischer in seiner Biografie Der Widersprecher das geradezu mystische Verhältnis heraus, das Karl Kraus zur Sprache besitzt – und das zwischen den beiden Essays Heine und die Folgen und Nestroy und die Nachwelt oszilliert – zwischen dem geistigen Vater des Feuilletons, für den Kraus Heine hielt, für jemanden, der die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur verwischt, und dem Dramatiker Nestroy, den Kraus als Satiriker verehrt, weil dessen Sprache nicht in Sinn auf der einen und Form auf der anderen Seite zerfällt, sondern wo sich vielmehr, wie Kraus in Untergang der Welt durch schwarze Magie bemerkt ...
"... die Sprache sich Gedanken über die Dinge macht."
Geistige Wesen, um es anders auszudrücken, teilen sich für Kraus in der Sprache mit, nicht durch die Sprache. Für ihn, den Widersprecher, ist das Wort nicht nur in der Einheit von Sinn und Form, sondern auch in der von Inhalt und Klang. In einem seiner Aphorismenbände liefert er dazu die Sentenz:
"Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur. Aber was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst."
Am Theater verachtet Kraus ja gerade die Veräußerlichung der Sprache, ihre Bebilderung auf der Bühne, wo doch die Rede von der Magie der Sprache deutlich machen müsste, dass ihr das imago eingeschrieben ist, sie folglich additiver Bilder entbehren kann.
Im Sprechen spricht sich nach Kraus das geistige Wesen sui generis aus – nicht durch den verbalen Inhalt.
Irgendwann zwischen Ende 1933 und Mitte 1934 schreibt Bertold Brecht im dänischen Exil einen Brief an Karl Kraus mit der Bitte, dass dieser doch seine Sprachlehre, die in einer Ausgabe der "Fackel" im Sommer 1921 versprochen wurde, endlich fortführen möge, da mithilfe der Sprache inzwischen die schrecklichsten Verwüstungen vorgenommen worden wären.
Kraus‘ Verhältnis zur Sprache ist hochgradig erotisch – das belegt Fischer mit einem einschlägigen Aphorismus – und weist zugleich darauf hin, dass es kaum Aphorismen zur Sprache gibt, die nicht zu einer erotischen Metapher sich rundeten.
"Der Sinn nahm die Form, sie sträubte und ergab sich. Der Gedanke entsprang, der die Züge beider trug."
Wer den Furor erklären will, mit dem Kraus jede Ausgabe seiner "Fackel" penibel nach Druckfehlern scannt und mit dem er den Journalismus der Sprachschändung zeiht und die Journalisten der Phrasendrescherei, der wird, so zeigt es der Biograf, bei Konfuzius fündig – denn dessen einschlägiges Zitat wird von Kraus 1931 ebenfalls in der "Fackel" wiedergegeben:
"Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man nicht, dass in den Worten etwas in Unordnung sei. Das ist es, worauf alles ankommt."
Für Kraus, das legt Fischer nahe, besitzt die Sprache das absolute Primat gegenüber allem, was erst durch diese überhaupt Gedanke, was sogar überhaupt gar erst wirklich werden kann. In einem gewissen Sinn lassen sich die Jahrgänge der "Fackel" insgesamt begreifen als ein einziges, so Fischer ...
"... monumentales Schwarzbuch, in dem Kraus die stilistischen und moralischen Sünden der nicht nur sprachlich verkommenen Menschheit notiert und dokumentiert."
Sprache ist für Kraus gerade kein Medium, vielmehr ist sie unmittelbar, insofern sich in ihrem Ausdruck die geistige Physiognomie schon mitteilt. Damit, dass Kraus ihren Ausdruck, um mit einem Begriff Benjamins zu sprechen, als unvertilgbare Signatur der Weltanschauung dessen versteht, der Sprache hat, erweist er sich als jemand, der tief in der Tradition der Romantik steht. Kraus‘ romantischer Begriff von Sprache - und romantisch ist hier keinesfalls abwertend gemeint -, liefert uns den Grund, weshalb sie für ihn heilig sein muss - und ihre Deformation und lässliche Handhabung unverzeihlich. Wer Sprache instrumentell versteht, hat sie nicht verstanden.
Amour fou
Am 8. September 1913 lernt Kraus im Wiener Café Imperial die rund zehn Jahre jüngere, böhmische Adelige Sidonie Nádherný von Borutin kennen – kapriziös, weltgewandt, künstlerisch interessiert -, der Beginn einer lebenslangen, mit allen Höhen und Tiefen gesegneten amour fou. Sidonie ist emanzipiert, will sich dem Willen des Mannes nicht beugen, ist beziehungsunfähig und lebt für damalige Verhältnisse promisk – und sie heiratet während ihrer Bekanntschaft mit Kraus zweimal – allerdings eben nicht Kraus. Als Sidonie das zweite Mal heiratet, trägt sich der Herausgeber der "Fackel" gar mit Selbstmordgedanken, die er – vielleicht mit Kalkül - einem Telegramm an seine große Liebe anvertraut. Die Ehe der Sidonie mit einem italienischen Grafen hält jedoch nicht lange – und nachdem Sidonie und Kraus diese Krise ihrer Freundschaft und wechselhaften Liebe überstanden haben, bleiben sie bis zum Tod von Kraus zusammen – allerdings mit gravierenden Unterbrechungen, wie der Biograf Jens Malte Fischer in seinem Widersprecher festhält:
"Es ist nicht leicht vorstellbar, aber vielleicht waren die ersten Jahre des Ersten Weltkriegs die glücklichsten in der Beziehung zwischen Sidonie Nádherný und Karl Kraus. Er selbst wurde mehrfach gemustert, aber als nicht tauglich eingestuft. Immer wieder waren Kraus und Sidonie, meistens mit Mary Cooney, Diener und Köchin und Bobby, in der Schweiz, wo Sidonie in St. Moritz ein relativ kleines, aber offensichtlich gemütliches Chalet mit dem Namen Manin Sur mietete: so beispielsweise im Januar und Februar 1916, weit weg vom Grausen des Krieges, was offensichtlich Kraus mehr als Bevorzugung des Schicksals empfand als Sidonie."
Kraus ist von der Lektüre Otto Weiningers Geschlecht und Charakter begeistert, auch wenn er Weiningers Hass auf die Frauen nicht teilt. Berühmt ein Passus in einem Brief von Kraus an Weininger:
"Ein Frauenverehrer stimmt den Argumenten Ihrer Frauenverachtung mit Begeisterung zu."
Für die Wirkung Weiningers ist Kraus von erheblicher Bedeutung, weil er Adolf Loos, Arnold Schönberg, Alban Berg und Georg Trakl auf dessen Buch aufmerksam macht.
Kraus sieht in der Frau und ihrer Sinnlichkeit den Urquell, an dem sich der Geist des Mannes zu erneuern hat – eine Sicht, die am antiken Mythos von Eros und Logos teilhat und heute unzweifelhaft für Empörung sorgte, wo gerade unter Gender-Kombattierenden alles Körperliche ein weiteres Mal abgewertet und dem Geistigen – hier: dem Voluntarismus des Subjekts - unterworfen wird. Für Kraus selbst aber war die Sinnlichkeit nichts, was abgewertet gehört – ganz im Gegenteil. Dass der Biograf Fischer gegenüber nachgetragenen Einsichten, etwa, wenn es um das Frauenbild von Kraus oder um andere umstrittene Sujets geht, abstinent bleibt, erhöht zweifellos den Erkenntnisgewinn. Denn einem Widersprecher widersprechen – das lässt sich nur mit einer Sachlichkeit, die das auch gegenüber dem Zeitgeist bleibt.
Panorama des Kosmos Karl Kraus
Jens Malte Fischer ist mit seiner Biografie über Karl Kraus ein gleichermaßen opulentes wie detailreiches Werk gelungen, das durch sein panoramatisches Konzept besticht. Es wird einem in der Biografie nicht nur der Mensch Karl Kraus vor Augen geführt, sondern auch der breite Kontext, vor dem dieser überhaupt erst nach und nach Gestalt gewinnt: vor dem Wien und dessen Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts; vor der Lebenswelt; dem Alltag; dem Schreibprozess; der Lektüre; vor seinen Frauen, Feinden, Freunden und Förderern; vor seinem Verhältnis zum Judentum und zum damals dank Theodor Lessing sprichwörtlich gewordenen jüdischen Selbsthass; vor dem zeitgenössischen Theater; vor seinem Ende und vor seinem Nachleben.
Von Bert Brecht gibt es das Bonmot:
"Als die Zeit Hand an sich legte, war es diese Hand."
Tatsächlich ist Kraus, wie Fischer zeigt, ein Kritiker nicht nur der Zeit, die ihn hervorgebracht hat – sondern auch der Epoche, in der diese eingelassen ist, beziehungsweise ein Kritiker dessen, was epoché im griechischen eigentlich heißt: nämlich Aussetzung des Urteils. Kraus hat, wenn man so will, der Selbstaufklärung der Aufklärung zugearbeitet, er war nicht einfach ihr Anwalt. Im Gegenteil: Gerade im Hinblick auf das technoromantische Abenteuer namens Fortschritt hat Kraus sein Urteil nie ausgesetzt - und am Ersten Weltkrieg hat er schon gesehen, dass das instrumentelle Denken, das ihn zu einer Materialschlacht gemacht hat, nicht tauglich sein wird, um späterhin die Welt zu retten.
Jens Malte Fischer: "Karl Kraus. Der Widersprecher" - Biografie
Zsolnay Verlag, Wien. 1104 Seiten, 45 Euro.