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Karl Lamers: Es kommt auf uns an in Europa

Europa sei nicht etwas, das man tun oder lasse könne, sagt der frühere außenpolitische Sprecher der Union-Bundestagsfraktion, Karl Lamers. Eine neue Organisationsform von Politik in Europa sei nötig, weil die Idee von Staat und Macht in festen Grenzen längst überholt sein. Dazu gehöre eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.

Karl Lamers im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Unüberhörbar und für Angela Merkel relativ gefährlich inzwischen die Stimmen in Union und FDP, die ihrer Kanzlerin nicht mehr so ohne weiteres folgen wollen auf ihrem Kurs zur Rettung von Euro und Währungsunion. Unüberhörbar zweifellos auch die Kläger in Karlsruhe, die das Parlament entmachtet sehen und am liebsten den Rückwärtsgang einlegen wollen beim großen Projekt der europäischen Einigung. Auf der anderen Seite Politiker wie Wolfgang Schäuble. Voranschreiten oder zurückbleiben, vor dieser Alternative sieht der Finanzminister die Union. Schäuble gilt als leidenschaftlicher Europäer. Das sagt man auch Karl Lamers nach, viele Jahre lang außenpolitischer Sprecher der CDU im Bundestag. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!

    Karl Lamers: Guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Herr Lamers, steht Europa am Scheideweg?

    Lamers: Ja das haben wir zwar schon oft gesagt, aber tatsächlich ist diese Krise, in der die Europäische Union steht, eine besonders ernsthafte. Aber bislang hat die Europäische Union noch alle Krisen gestärkt verlassen und es gibt Anzeichen dafür, dass das auch diesmal wieder der Fall sein wird.

    Barenberg: Wie groß schätzen Sie denn die Gefahr ein?

    Lamers: Jedenfalls unter 50 Prozent. Und sie hängt entscheidend davon ab, wie entschlossen die Politiker handeln, und es kann ja kein Zweifel sein - das sage ich mit Zurückhaltung, aber doch auch ganz mit Bestimmtheit -, dass es entscheidend auf Deutschland ankommt. Paul Volcker, der große amerikanische Finanzwirtschaftler und Präsident der amerikanischen Notenbank, hat gesagt, Deutschland trägt die Hauptverantwortung. Es ist, so hat er wörtlich gesagt, ein heroischer Augenblick, und meine Klage ist, dass das nicht alle richtig begriffen haben.

    Barenberg: Einige in der CDU haben in letzter Zeit sich vehement für weitere Integrationsschritte ausgesprochen. Ich habe Finanzminister Wolfgang Schäuble erwähnt, das gleiche gilt auch für Ursula von der Leyen etwa, oder für den Parteivize Norbert Röttgen, den Bundesumweltminister. Freuen Sie sich über diese Stimmen, die wir jetzt hören?

    Lamers: Ja, da freue ich mich außerordentlich drüber. Wenn ich etwas an meiner eigenen Partei, der CDU, geschätzt habe, dass sie zurecht sagen konnte, wir sind die Europapartei, und das europäische Projekt ist ja wirklich ein Zukunftsprojekt. Das heißt, es ging um die Zukunft, allerdings als Lehren auch aus der Vergangenheit. Also deswegen freue ich mich sehr darüber und ich bin auch sicher, dass die Sorgen und Nöte, die die Kollegen jetzt empfinden, zwar verständlich sind, aber überwunden werden.

    Barenberg: Ist denn das Bewusstsein für die Bedeutung der weiteren europäischen Zusammenarbeit, der weiteren Integration in letzter Zeit arg unter die Räder gekommen in Ihrer Partei?

    Lamers: Also jedenfalls mehr, als ich gehofft hatte. Es ist nicht genügend verstanden, Herr Barenberg, dass Europa nicht etwas ist, was man tun oder lassen kann, sondern was man tun muss, und was man tun muss, das muss man auch wollen. Wieso eigentlich? Wir haben es doch mit einer auf allen Gebieten, vor allen Dingen in der Wirtschaft, in der Finanzwirtschaft noch mal ganz besonders, mit einer transnationalen grenzenlosen Wirklichkeit zu tun, die Wirklichkeit, mit der die Politik arbeiten muss und die sie gestalten muss. Auf der anderen Seite ist der Staat nach wie vor auf der Annahme fester Grenzen beruhend. Das nennt man das Territorialprinzip von Macht. Das ist überholt! Es ist, um es ganz klar zu sagen, eine Illusion auf immer mehr Gebieten. Und deswegen geht es bei Europa darum, eine transnationale Organisationsform, eine neue Organisationsform von Politik zu schaffen in Europa, wo ja diese transnationale Wirklichkeit früher begonnen hat, immer schon sehr viel dichter war, durch die politischen Entscheidungen nach 1945 weiter verdichtet worden ist. Die letzte Entscheidung war die zur Währungsunion. Und jetzt wird immer deutlicher, dass wir auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik brauchen. Das Hilfsinstrument des Stabilitätspakts hat sich auch durch deutsches Verschulden übrigens als unzureichend erwiesen und das Ganze erinnert an den Spruch, im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte. Es muss jetzt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geben, das geht gar nicht anders, und wir haben erste Schritte hin darauf unternommen, auch institutionalisierte, auch in diesem Rettungsfonds, erst recht in dem, der ab 2013 in Kraft treten soll, so dass ich insofern auch zuversichtlich bin. Dass es dabei Widerstände gibt, ist klar. Ich wünschte mir, sie wären in Deutschland, vor allen Dingen in meiner eigenen Partei geringer.

    Barenberg: In diese Richtung weist ja auch die europäische Wirtschaftsregierung, die Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, der französische Präsident, jüngst vorgeschlagen haben. Ist das mehr als ein Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner?

    Lamers: Herr Barenberg, es hängt natürlich von der Ausgestaltung ab, das ist ganz klar. Es wird nicht reichen, wenn sich die Staats- und Regierungschefs zweimal im Jahr treffen, es sei denn, sie schaffen sich ein neues Sekretariat an, ein schlagkräftiges.

    Barenberg: Oder einen Finanzminister!

    Lamers: Und einen Finanzminister, ja genau. Das würde aber bedeuten, wenn das alles nur die Staats- und Regierungschefs sagen, dass die ohnehin zu Lasten der Kommission verschobene Balance in der Europäischen Union weiter verschoben wird, und das entspricht nicht meinen Vorstellungen von der demokratischen Gestaltung Europas.

    Barenberg: Sie haben auch den Eindruck, dass nicht nur der Bundestag, sondern auch das Europaparlament mehr und mehr unter die Räder kommt?

    Lamers: Ja! Jedenfalls drohte das dann, nicht wahr. Das ist ja noch nicht ausgestanden. Nur wir müssen uns an diesen Debatten mit Nachdruck beteiligen und zunächst einmal allerdings diese Notwendigkeit einer Wirtschaftsregierung, einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik ganz begreifen und dann dafür sorgen, dass es entsprechend demokratisch gestaltet wird.

    Barenberg: Warum soll denn noch mehr Europa helfen, wenn viel Europa bislang in die Krise geführt hat?

    Lamers: Herr Barenberg, wir haben doch gesehen, dass die Maßnahmen jetzt zur Euro-Rettung viel zu langsam verlaufen. Das ist ja kein Verfahren, wie das gewesen ist. Und das werfe ich den Betroffenen gar nicht vor! Es gibt keine richtigen Institutionen dafür. Jean Monnet hat einmal gesagt, nichts wird ohne den Menschen, nichts bleibt ohne Institutionen. Nur Institutionen geben der Politik Dauer. Die Politik ist auf der europäischen Ebene noch nicht annähernd so gestaltet, wie sie es sein müsste, um entsprechend effektiv sein zu können, und das Verhältnis zwischen Europa und den Mitgliedsländern ist auch noch nicht ausbuchstabiert. Wenn Europa mehr Kompetenzen bekommen muss, dann wird natürlich die Zuständigkeit der Nationalstaaten verändert. Es geht ja auch heute in Karlsruhe um die Frage, wie dann die Mitwirkungsrechte des Bundestages sind. Das alles muss weiter diskutiert werden, aber unter der eindeutigen Prämisse, dass wir mehr Europa brauchen, um die Probleme unserer Zeit bewältigen zu können. Denken Sie doch auch einmal an unser Außenverhältnis. Deutschland hat einen Anteil von rund ein Prozent an der Weltbevölkerung. Die anderen werden nicht nur immer mehr, sondern auch immer mächtiger. Wir müssen bestimmte Dinge wie etwa die Finanzmarktordnung global regeln. Glauben Sie denn, dass ein Land wie Deutschland oder Frankreich oder Italien eine nennenswerte Rolle dabei spielen könnte, wenn nicht sie durch Europa sprechen? Ich will gar schweigen von den anderen Problemen, Migration und Entwicklung. Oder denken Sie jetzt an die große Herausforderung, auch ungeheuere Chance bei unseren arabischen Nachbarn, der wichtigste Bereich unserer Nachbarschaft, mit dazu beizutragen, dass sie ein Leben in Freiheit, in Würde und in Demokratie, also so wie wir es haben, bewerkstelligen können. Das sind doch Aufgaben, bei denen die Mitgliedsländer der Europäischen Union alle je für sich, auch Deutschland, überfordert sind.

    Barenberg: Und wenn, Herr Lamers, nicht alle mitziehen mögen oder können, dann führt das zurück auf den Gedanken, den Sie schon in einem Papier mit Wolfgang Schäuble 1994 formuliert haben: den Gedanken eines Kerneuropa, also eines Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten.

    Lamers: Ja! Das sind zwei verschiedene Begriffe, die dasselbe sagen. Wenn eine Gruppe von Ländern mit ausreichendem Gewicht vorangeht, dann werden sich die anderen früher oder später anschließen, weil sie sich anschließen müssen, weil der Entscheidungsspielraum, der für ihre Politik noch übrig bleibt, viel zu klein ist. Es war von Anfang an - Wolfgang Schäuble hat das damals gesagt, wir hätten vielleicht besser von einem magnetischen Kern gesprochen. Das war aber gemeint, und die gesamte Entwicklung der Europäischen Union, der Europäischen Gemeinschaft, also des europäischen Einigungsprozesses, hat sich ja so vollzogen. Es waren sechs und dann wurden es immer mehr. Selbst Großbritannien, was ursprünglich überhaupt nicht wollte, musste sich anschließen. Und der Euro heute ist ja auch so etwas wie ein Kern, und es zeigt sich auch immer wieder, was wir damals gesagt haben: Der Kern des Kerns sind Frankreich und Deutschland, ob wir wollen oder nicht. Wissen Sie, ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, wir überheben uns, wir würden abheben und sagen, wir sind die größten, die stärksten. Manchmal hat man das Gefühl, es sind sogar einige so weit, dass sie meinen, wir könnten alles alleine machen. Aber es ist nun mal so: Es kommt auf uns an. Und ist das nicht - Entschuldigung, wenn ich das so sage - verdammt noch mal auch eine großartige Sache, wenn man bedenkt, welche ungeheuer schnelle Chance wir nach 1945 bekamen und wie wir dann aber auch diese Chance benutzt haben, so dass Jacques Delors mir einmal sagte in einer öffentlichen Versammlung im Palais Bourbon, Deutschland ist das Modell für Europa. Ja Donnerwetter noch mal, ist das nicht auch etwas, worauf wir stolz sein können, wo wir mindestens innerlich mal ganz zufrieden sein können und sagen können, mein Gott noch mal, ist das nicht eine großartige Sache, dass es auf uns jetzt in Europa ankommt, auf ein Projekt, das wir ohnehin betreiben müssen, ob wir wollen oder nicht? Und wenn, dann wollen wir es auch so gestalten, dass es so nah wie möglich unseren Vorstellungen entspricht.

    Barenberg: Eine Herzensangelegenheit ist Europa zweifellos. Wir hören es aus den Worten von Karl Lamers, dem früheren außenpolitischen Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion. Vielen Dank, Herr Lamers, für dieses Gespräch.

    Lamers: Auch ich danke.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.