"Wir sollten uns nicht durch das ganz offensichtlich breite Interesse an Marx, das ja selbst von den Medien gespiegelt wird, dazu verführen lassen, ihn als einen sakrosankten heiligen Autor zu nehmen, sondern den Umgang jetzt mit ihm wieder einschlagen, der eigentlich selbstverständlich ist, der nur in den letzten zwei, drei Jahrzehnten zu kurz gekommen ist: nämlich eines kritischen Überprüfens der Tauglichkeit seines Denkens zum Verständnis unserer gegenwärtigen Situation und zur Erklärung des gesellschaftlichen Wandels."
Axel Honneth, Professor für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt am Main, ist ein bekannter Altmeister seines Fachs und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Viele waren als Redner geladen, die sich wie er schon lange in der Philosophie von Karl Marx auskennen. Und viele waren als Zuhörer gekommen, die schon vor mehr als 40 Jahren in den Hallen der Humboldt Universität Karl Marx studiert hatten - damals, als der Marxismus noch einen deutschen Staat prägte. Aber um Reanimierung im Zeichen der Zeit ging es weder der älteren noch einer stark vertretenen jüngeren Generation Akademiker. Veranstalterin war Rahel Jaeggi, die ihre Professur für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Sozial- und Rechtsphilosophie erst vor zwei Jahren an der Humboldt Universität angetreten hat.
"Marx ist nicht einfach deshalb aktuell, weil wir Finanzkrisen erleben oder ähnlich. Das wäre einfach eine zu vordergründige Aktualität."
Wer also ein altes Rezept gegen neue Probleme erwartete – nach dem Motto: Marx hatte schon immer Recht – wurde enttäuscht. "Re-thinking Marx" titelte der Kongress. Und es wurde sortiert: Auf welche aktuellen Fragen können seine Schriften antworten, auf welche eher nicht?
"Re-thinking heißt ja in dem Sinne, ja, überdenken, neu denken, Dinge neu zusammen setzten, kritisieren und unsere Idee war, dass es ganz verschiedene Aktualitäten in ganz verschiedenen Hinsichten gibt. Es gibt die Aktualität der Frage, was ist eigentlich Freiheit? Und was heißt es, dass Freiheit auch als soziale Freiheit verstanden werden kann? Das berühmte Diktum von Marx: Der andere sei nicht nur die Grenze, sondern die Bedingung meiner Freiheit, ist etwas, was in der Philosophie zurzeit ohnehin, auch im Anschluss an Hegel sehr stark diskutiert wird, und dem Marx eine ganz bestimmte Prägung gegeben hat."
Und natürlich stand Marx' Kritik am Kapitalismus auf dem Programm und lockte am Samstag Vormittag 1500 Zuhörer in das überfüllte Audimax der Humboldt Universität und in den Kinosaal, wo die Veranstaltung per Video übertragen wurde. Die Positionen auf dem Podium spiegelten die Alternativen einer innerakademischen Debatte.
"Es gibt einen Teil, glaube ich, der schon davon überzeugt ist, dass Marx im Wesentlichen die richtigen Erklärungsinstrumentarien besitzt und dass sie uns auch helfen, gegenwärtige Veränderungen zu verstehen. Ein anderer Teil glaubt, dass man die Marxsche Kapitalismusanalyse erheblich erweitern oder differenzieren oder abändern muss, um überhaupt die Entwicklung nicht nur der letzten Jahre, sondern überhaupt die Geschichte des Kapitalismus angemessen zu verstehen. Im Grunde genommen haben wir gelernt, soweit ich das sehe, dass der Kapitalismus in verschiedenen Varianten existiert. Das bedeutet: Die institutionellen Rahmenbedingungen, in denen die kapitalistische Wirtschaft eigentlich zum Tragen und zur Existenz gelangt, muss man viel ernster nehmen, als man es tut, wenn man sich nur auf die Marxschen Fährten setzt und das Kapitalverhältnis als solches studiert."
Die Krise der Finanzwirtschaft traf alle Wirtschaftssysteme weltweit. Welchen Wert könnten Marx Schriften habe, um solche globalen Prozesse besser zu verstehen? In einem von vielen jungen Menschen gut besuchten Workshop erläuterte die Gesellschaftswissenschaftlerin Dr. Christine Löw von der Universität Kassel:
"Marx ist relevant für die Analyse der Gegenwart, eben weil in den meisten Globalisierungstheorien zu wenig auf die Ökonomie eingegangen wird. Und mit seiner Perspektive ist es wirklich deutlich sichtbar, dass es eine Verschiebung gab, dass wir jetzt eine Vorherrschaft von Finanzkapital haben, und es geht vor allem darum, bestimmte Gegenstände wie Wohnung oder auch eben Daten jetzt warenförmig zu machen und dafür ist Finanzkapital notwendig. Diese marxsche Analyse ist weiterhin aktuell."
Aber das ist nur die eine Seite. Karl Marx ist und bleibt der schärfste Diagnostiker des Kapitalismus, aber er schrieb etwa über Produktionsprozesse als Kind seiner Zeit, in der es zum Beispiel nicht denkbar war, dass weltweit billige T-Shirts aus Schwellen- und Entwicklungsländern gekauft werden. Wer produziert die?
"Was problematisch ist aus einer Perspektive, die eben auch – wie Globalität es ja verheißt – die ganze Welt einbezieht, ist, dass Phänomene wie zum Beispiel die Hausarbeit von Frauen – und jetzt zwar nicht die bloße Arbeit als Hausfrau, sondern Arbeit, die Frauen zu Hause machen, aber die durchaus für den Weltmarkt ist, zum Beispiel von Frauen in Indien -, dass die in seiner Analyse gar nicht vorkommt. Und die muss ergänzt werden. Den meisten Wert produzieren wirklich arme ländliche Frauen in der Dritten Welt."
Arm und Reich – der Kampf der Klassen, auch das ist ein Thema, für das Marx steht wie kaum kein anderer. Aber die Rede vom "Klassenkampf" kann auch nicht mehr eins zu eins auf die Gegenwart angewendet werden. Und doch - Axel Honneth:
"Ich denke zunächst mal, man sollte den Begriff des Klassenkampfes nicht in der Form, in der Marx sie entwickelt hat – er hat ja die Vorstellung, das sind zwei Klassen, die sich gegenüberstehen und ständig bekriegen. Die Grundidee aber daran finde ich ja vollkommen richtig. Unsere sozialen Realitäten, Institutionen sind umkämpft. Und alles an sozialer Realität, an gesellschaftlichen Gegebenheiten ist auch das Resultat, ich würde sagen normativ orientierter Kämpfe zwischen sozialen Akteuren. Das ist eine ganz erweiterte Funktion dessen, was er mit Klassenkampf gemeint hat."
"Wir müssen uns auch um die Frage, was eigentlich eine gute Gesellschaft im umfassenderen Sinne ist, kümmern. Wenn man das jetzt auf Marxsche Begriffe zurück rechnet, würde man sagen: Marx hat eben über Ausbeutung und über Entfremdung geredet. Und es gibt ein starkes Interesse, diese Entfremdungsverhältnisse auch wieder in den Blick zu bekommen."
Es geht unseren Gesellschaften, ausgelöst nicht zuletzt durch die Krisenerfahrung, wieder um das gute Leben und die Gerechtigkeit. Marx hat über beides geschrieben, erläutert Rahel Jaeggi – und schon deshalb sollte man nachfragen: Was hat denn er dazu gesagt? Und wie kann man die Perspektive ausweiten?
"Eigentlich will er sagen: Der Kapitalismus führt doch zu Lebensformen, die ihr bei klarem Kopf nicht akzeptieren könnt. Er macht euch zu zweckrational, er formt Charaktere, die am Nutzen orientiert sind, die auch ihre eigenen sozialen Verhältnisse gar nicht mehr angemessen verstehen können, weil sie sie nur als abhängig von einem Gegenstand verstehen können, geprägt, gemacht durch einen Gegenstand, nämlich durch das Kapital, also diese radikale Vorstellung finde ich die interessantere als die Gerechtigkeit, weil da haben natürlich viele andere Denker wahrscheinlich Produktiveres dazu gesagt."
"Wie das dann eben bei solchen Klassikern ist, dass sie unter anderem eben Fragestellungen und Perspektiven auf Dinge geworfen haben, an die sich lohnt anzuknüpfen, selbst wenn die Antworten einseitig, defizitär, noch nicht das sind, was wir jetzt wirklich brauchen."
Axel Honneth, Professor für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt am Main, ist ein bekannter Altmeister seines Fachs und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Viele waren als Redner geladen, die sich wie er schon lange in der Philosophie von Karl Marx auskennen. Und viele waren als Zuhörer gekommen, die schon vor mehr als 40 Jahren in den Hallen der Humboldt Universität Karl Marx studiert hatten - damals, als der Marxismus noch einen deutschen Staat prägte. Aber um Reanimierung im Zeichen der Zeit ging es weder der älteren noch einer stark vertretenen jüngeren Generation Akademiker. Veranstalterin war Rahel Jaeggi, die ihre Professur für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Sozial- und Rechtsphilosophie erst vor zwei Jahren an der Humboldt Universität angetreten hat.
"Marx ist nicht einfach deshalb aktuell, weil wir Finanzkrisen erleben oder ähnlich. Das wäre einfach eine zu vordergründige Aktualität."
Wer also ein altes Rezept gegen neue Probleme erwartete – nach dem Motto: Marx hatte schon immer Recht – wurde enttäuscht. "Re-thinking Marx" titelte der Kongress. Und es wurde sortiert: Auf welche aktuellen Fragen können seine Schriften antworten, auf welche eher nicht?
"Re-thinking heißt ja in dem Sinne, ja, überdenken, neu denken, Dinge neu zusammen setzten, kritisieren und unsere Idee war, dass es ganz verschiedene Aktualitäten in ganz verschiedenen Hinsichten gibt. Es gibt die Aktualität der Frage, was ist eigentlich Freiheit? Und was heißt es, dass Freiheit auch als soziale Freiheit verstanden werden kann? Das berühmte Diktum von Marx: Der andere sei nicht nur die Grenze, sondern die Bedingung meiner Freiheit, ist etwas, was in der Philosophie zurzeit ohnehin, auch im Anschluss an Hegel sehr stark diskutiert wird, und dem Marx eine ganz bestimmte Prägung gegeben hat."
Und natürlich stand Marx' Kritik am Kapitalismus auf dem Programm und lockte am Samstag Vormittag 1500 Zuhörer in das überfüllte Audimax der Humboldt Universität und in den Kinosaal, wo die Veranstaltung per Video übertragen wurde. Die Positionen auf dem Podium spiegelten die Alternativen einer innerakademischen Debatte.
"Es gibt einen Teil, glaube ich, der schon davon überzeugt ist, dass Marx im Wesentlichen die richtigen Erklärungsinstrumentarien besitzt und dass sie uns auch helfen, gegenwärtige Veränderungen zu verstehen. Ein anderer Teil glaubt, dass man die Marxsche Kapitalismusanalyse erheblich erweitern oder differenzieren oder abändern muss, um überhaupt die Entwicklung nicht nur der letzten Jahre, sondern überhaupt die Geschichte des Kapitalismus angemessen zu verstehen. Im Grunde genommen haben wir gelernt, soweit ich das sehe, dass der Kapitalismus in verschiedenen Varianten existiert. Das bedeutet: Die institutionellen Rahmenbedingungen, in denen die kapitalistische Wirtschaft eigentlich zum Tragen und zur Existenz gelangt, muss man viel ernster nehmen, als man es tut, wenn man sich nur auf die Marxschen Fährten setzt und das Kapitalverhältnis als solches studiert."
Die Krise der Finanzwirtschaft traf alle Wirtschaftssysteme weltweit. Welchen Wert könnten Marx Schriften habe, um solche globalen Prozesse besser zu verstehen? In einem von vielen jungen Menschen gut besuchten Workshop erläuterte die Gesellschaftswissenschaftlerin Dr. Christine Löw von der Universität Kassel:
"Marx ist relevant für die Analyse der Gegenwart, eben weil in den meisten Globalisierungstheorien zu wenig auf die Ökonomie eingegangen wird. Und mit seiner Perspektive ist es wirklich deutlich sichtbar, dass es eine Verschiebung gab, dass wir jetzt eine Vorherrschaft von Finanzkapital haben, und es geht vor allem darum, bestimmte Gegenstände wie Wohnung oder auch eben Daten jetzt warenförmig zu machen und dafür ist Finanzkapital notwendig. Diese marxsche Analyse ist weiterhin aktuell."
Aber das ist nur die eine Seite. Karl Marx ist und bleibt der schärfste Diagnostiker des Kapitalismus, aber er schrieb etwa über Produktionsprozesse als Kind seiner Zeit, in der es zum Beispiel nicht denkbar war, dass weltweit billige T-Shirts aus Schwellen- und Entwicklungsländern gekauft werden. Wer produziert die?
"Was problematisch ist aus einer Perspektive, die eben auch – wie Globalität es ja verheißt – die ganze Welt einbezieht, ist, dass Phänomene wie zum Beispiel die Hausarbeit von Frauen – und jetzt zwar nicht die bloße Arbeit als Hausfrau, sondern Arbeit, die Frauen zu Hause machen, aber die durchaus für den Weltmarkt ist, zum Beispiel von Frauen in Indien -, dass die in seiner Analyse gar nicht vorkommt. Und die muss ergänzt werden. Den meisten Wert produzieren wirklich arme ländliche Frauen in der Dritten Welt."
Arm und Reich – der Kampf der Klassen, auch das ist ein Thema, für das Marx steht wie kaum kein anderer. Aber die Rede vom "Klassenkampf" kann auch nicht mehr eins zu eins auf die Gegenwart angewendet werden. Und doch - Axel Honneth:
"Ich denke zunächst mal, man sollte den Begriff des Klassenkampfes nicht in der Form, in der Marx sie entwickelt hat – er hat ja die Vorstellung, das sind zwei Klassen, die sich gegenüberstehen und ständig bekriegen. Die Grundidee aber daran finde ich ja vollkommen richtig. Unsere sozialen Realitäten, Institutionen sind umkämpft. Und alles an sozialer Realität, an gesellschaftlichen Gegebenheiten ist auch das Resultat, ich würde sagen normativ orientierter Kämpfe zwischen sozialen Akteuren. Das ist eine ganz erweiterte Funktion dessen, was er mit Klassenkampf gemeint hat."
"Wir müssen uns auch um die Frage, was eigentlich eine gute Gesellschaft im umfassenderen Sinne ist, kümmern. Wenn man das jetzt auf Marxsche Begriffe zurück rechnet, würde man sagen: Marx hat eben über Ausbeutung und über Entfremdung geredet. Und es gibt ein starkes Interesse, diese Entfremdungsverhältnisse auch wieder in den Blick zu bekommen."
Es geht unseren Gesellschaften, ausgelöst nicht zuletzt durch die Krisenerfahrung, wieder um das gute Leben und die Gerechtigkeit. Marx hat über beides geschrieben, erläutert Rahel Jaeggi – und schon deshalb sollte man nachfragen: Was hat denn er dazu gesagt? Und wie kann man die Perspektive ausweiten?
"Eigentlich will er sagen: Der Kapitalismus führt doch zu Lebensformen, die ihr bei klarem Kopf nicht akzeptieren könnt. Er macht euch zu zweckrational, er formt Charaktere, die am Nutzen orientiert sind, die auch ihre eigenen sozialen Verhältnisse gar nicht mehr angemessen verstehen können, weil sie sie nur als abhängig von einem Gegenstand verstehen können, geprägt, gemacht durch einen Gegenstand, nämlich durch das Kapital, also diese radikale Vorstellung finde ich die interessantere als die Gerechtigkeit, weil da haben natürlich viele andere Denker wahrscheinlich Produktiveres dazu gesagt."
"Wie das dann eben bei solchen Klassikern ist, dass sie unter anderem eben Fragestellungen und Perspektiven auf Dinge geworfen haben, an die sich lohnt anzuknüpfen, selbst wenn die Antworten einseitig, defizitär, noch nicht das sind, was wir jetzt wirklich brauchen."