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Karl Ove Knausgard: "Im Herbst"
Begegnung von Sinnlichkeit und Verstand

Berühmt geworden ist Karl Ove Knausgard mit seinem sechsbändigen autobiografischen Romanwerk "Min Kamp". Mit "Im Herbst" hat sich der norwegische Schriftsteller einem anderen Genre gewidmet, nämlich Alltags- und Natur-Impressionen - in denen allerdings auch Schamlippen und Thermosflaschen eine Rolle spielen.

Von Martin Grzimek |
    Buchcover Karl Ove Knrausgard: Im Herbst und Foto des Autor
    Karl Ove Knausgard tritt nun in die Jahreszeiten heraus (Luchterhand Verlag / Deutschlandradio / Cara Wuchold)
    "An regnerischen Herbsttagen, an denen der Himmel dunkelgrau, der Fichtenwald entlang der Straße dunkelgrün und der Asphalt der Straße schwarz war und alle anderen Farben von dem zurückgehaltenen Licht und der Feuchtigkeit abgeschwächt waren, schwamm manchmal Benzin auf der Straße und schimmerte in den fantastischsten und ungewöhnlichsten Farben.
    Purpur, Lila, Königsblau – in Mustern voller Ausbuchtungen und Lagunen, schön wie Galaxien. Sie waren für sich genommen ein Mysterium, diese leicht beweglichen, Luftspiegelungen gleichenden Farbausbuchtungen, und sie waren wie ein Bild von diesem Mysterium."
    So beginnt mit dem lakonischen Titel "Benzin" eine der insgesamt 60 Miniaturen, die der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård im ersten Buch einer Tetralogie zu den vier Jahreszeiten versammelt hat. Die Reihe wird mit dem Band "Im Herbst" eröffnet. Jeweils zwei- bis dreiseitige Impressionen verteilen sich auf die Monate September bis November. Einige der Prosastücke lassen sich gemäß ihren stichwortartigen Überschriften problemlos herbstlichen Themen zuordnen, wie etwa "Äpfel", "Laub", "Stoppelfelder" und "Morgengrauen".
    Doch von diesen motivgeleiteten Beobachtungen gibt es nur eine Handvoll. Alle anderen Reflexionen bilden eine oft überraschende Kette von Betrachtungen zu Alltags- oder Naturphänomenen. "Plastiktüten" werden ebenso besprochen wie "Schamlippen", "Kreuzottern", "Thermosflaschen" oder eben auch "Benzin". Wie dort beim Anblick vielfarbiger öliger Schlieren auf einer Pfütze sehen wir in jedem der Texte gleichsam in ein Kaleidoskop. Eindrücke aus der realen Welt der Gegenstände oder häuslicher Befindlichkeit, Reflexionen zu alltäglichen Erfahrungen, Erinnerungen und Beobachtungen setzten sich zu Impressionen zusammen. Dabei geht es um Dinge, über die wir wegen der Geläufigkeit im täglichen Umgang meist nicht mehr nachdenken.
    Gegenstände wie aus einer Spielzeugkiste
    Wie aus einer Spielzeugkiste greift sich Knausgård einzelne Gegenstände heraus, um sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Sein erster Zugang geschieht meist in der rein ästhetischen Wahrnehmung. Danach beginnt das Fragen. Die Antworten sind ebenso aus eigenen Erinnerungsbildern gespeist wie aus lexikalischem Wissen. So bleibt er etwa bei den Benzinlachen auf einer Pfütze nicht bei den schönfarbigen Schlieren. Er verweist darauf, welch ungeheures Kräftepotenzial in dem flüchtigen Stoff gebunden ist. Denn Benzin treibt riesige Motoren an, Schiffe, Autos, Flugzeuge. Zum anderen aber ist es eine Materie mit einer urzeitlichen Geschichte, da sich das Rohöl lange vor der Existenz der Menschheit aus der Verwandlung lebendiger pflanzlicher Stoffe gebildet hat.
    Das alles könne man verstehen und nachvollziehen, heißt es am Schluss des Textes, nicht aber die "rätselhafte Schönheit der kleinen, wabernden Farbenspiele in den Wasserpfützen." Das Aufspüren von Gegensätzen, die sich in unserer Ding- und Lebenswelt befinden, durchzieht alle Texte dieses Herbst-Bandes, Dichotomien, hervorgetrieben durch das Aufeinandertreffen von Sinnlichkeit und Verstand. Mehr wollen diese Miniaturen nicht. Das Überraschende und Faszinierende an ihnen ist jedoch die fast kindliche Verwunderung über die Vielfalt des Lebens. In dem Text "Augen" weist Knausgård ausdrücklich darauf hin.
    "Ich werde nie begreifen, wie die Augen funktionieren. Ich werde niemals verstehen können, wie der Widerschein der Welt da draußen, mit all ihren Dingen und Bewegungen, durch unsere Augen hereinströmen und in der Finsternis des Gehirns als Bilder aufgespannt werden kann."
    Karl Ove Knausgård: Im Herbst. Prosa. Mit Bildern von Vanessa Baird. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2017. 285 S., 22,00 Euro.