Dies ist kein Roman. Dies ist eine Textkrake, ein Monsterwerk, das die fünf dickleibigen Vorgänger noch übertrifft – sowohl an Seiten als auch an Abschweifungen. Einiges hätte weggekonnt. Im Hauptteil des Buches, einem Essay über so ziemlich alles – Gott, Hitler, Holocaust, Identität, Migration und Knausgård – verliert sich der Autor manchmal in den entlegenen Trockengebieten seiner Ideenwelt.
Wieso müssen wir alle Sackgassen seiner Interpretation des Langgedichts „Engführung“ von Paul Celan mitvollziehen, wenn er nach etwa 50 Seiten im Wesentlichen schlicht zu dem Ergebnis kommt, es handle sich um ein Gedicht, das den Tod, den Horror, das Nichts umkreise, ohne dies zu benennen. Auch die zahlreichen und ausführlichen Zitate aus Hitlers „Mein Kampf“ liest man unter Schmerzen. Weniger hätten auch gereicht.
Schuldgefühle sind ein wichtiges Thema in der Autobiografie
Das soll aber insgesamt kein Einwand gegen das raumgreifende Schwanken der Gedanken von Karl Ove Knausgård sein. Es gibt seinem Text einen ganz eigenen Ton und Rhythmus: vom Großen geht es zum Kleinen, nach der Behauptung kommt der Zweifel daran und der Autor selbst sieht sich mal als Riese im Literaturbetrieb, mal als nichtswürdigen korrupten Lügner. Einerseits lässt er uns wissen, dass er Franzen und Coetzee bereits hinter sich gelassen habe. Und andererseits schreibt er, dass er bei Lesungen lange auf der Abendgage eines Newcomers bestand. Höhere Angebote lehnte er ab.
„Ich lehnte ab, nicht, weil ich das Geld nicht wollte, sondern weil ich etwas wollte, das mehr wert war, nämlich Integrität. Nicht, weil ich ein Mensch mit Integrität war, sondern weil ich ein im doppelten Sinne korrupter Mensch war.“
„Ich lehnte ab, nicht, weil ich das Geld nicht wollte, sondern weil ich etwas wollte, das mehr wert war, nämlich Integrität. Nicht, weil ich ein Mensch mit Integrität war, sondern weil ich ein im doppelten Sinne korrupter Mensch war.“
Schuldgefühle sind ein wichtiges Thema in Knausgårds Autobiographie und immer wieder die Ursache dafür: die Vernichtung seines Selbstwertgefühls durch den cholerischen und trunksüchtigen Vater. Entsprechend großen Raum nehmen Selbstbezichtigungen ein.
Karl Ove Knausgård hat vor der Veröffentlichung des sechs-bändigen, insgesamt 4.500-Seiten-umfassenden Memoirs, jeden seiner Hauptfiguren ein Manuskript geschickt und sozusagen um Abnahme gebeten. Mit allen einigte der Autor sich, nur einer wollte ihn verklagen, der Bruder des schon damals verstorbenen Vaters. Trotz der Kämpfe, die die Veröffentlichung begleiteten – Knausgård dokumentiert sie in Band sechs ausführlich – waren die Bücher für ihn ein „Befreiungsschlag“:
Karl Ove Knausgård hat vor der Veröffentlichung des sechs-bändigen, insgesamt 4.500-Seiten-umfassenden Memoirs, jeden seiner Hauptfiguren ein Manuskript geschickt und sozusagen um Abnahme gebeten. Mit allen einigte der Autor sich, nur einer wollte ihn verklagen, der Bruder des schon damals verstorbenen Vaters. Trotz der Kämpfe, die die Veröffentlichung begleiteten – Knausgård dokumentiert sie in Band sechs ausführlich – waren die Bücher für ihn ein „Befreiungsschlag“:
„Ich war immer ein Mensch, der nicht zu seinen Meinungen steht, der immer höflich sein wollte, der anderen Menschen gefallen wollte. Mir kam die Idee, schreibend damit Schluss zu machen, und mich auf diese Weise selbst zu behaupten. Und diese Idee brachte eine enorme Energie mit sich. Endlich einmal zu sagen, wie es wirklich ist, was ich wirklich denke und fühle.“
Millionen Leser weltweit nehmen Anteil
Und Millionen Leser weltweit nehmen Anteil. Das Werk ist inzwischen in über 30 Sprachen übersetzt. Der Erfolg hat einen voyeuristischen Aspekt, da macht einer die Tür auf und beschreibt, wie seine beschädigte Herkunftsfamilie ihn beinahe zu Fall brachte und wie er durch dieses Memoir ebenfalls Bruder, Onkel, Ehefrau verletzt – der vierfache Vater Karl Ove Knausgård ist frisch geschieden.
Aber dieser Aspekt tritt für den Leser schnell zurück. In den Vordergrund schiebt sich das gute Gefühl, einem belesenen, klugen Autor zu folgen, der die Welt mit wachen Augen sieht und neu zusammensetzt. Die essayistischen Teile der Autobiografie – Alltagsbeobachtungen, Lektüreschilderungen, Darlegung von Gefühlen und Gedanken nach dem Besuch einer Gemäldeausstellung, sind weitaus umfangreicher als die Nacherzählungen des familiären Dramas.
„Ich bin eigentlich ziemlich hermetisch abgeschlossen gegen die Welt. Aber wenn ich schreibe, dann öffnet sich etwas.“ Er könne eigentlich gar nicht denken, ohne zu schreiben, sagt der 49-jährige Norweger.
„Es hat mit Aufmerksamkeit zu tun. Man muss einer Sache die volle Aufmerksamkeit geben, und das schafft man nicht im täglichen Leben. Ich kann zum Beispiel diesem Wasserglas hier nicht meine ganze Aufmerksamkeit widmen, während noch andere Dinge zu tun sind. Aber beim Schreiben ist das möglich: Den ganzen anderen Kram unterbrechen und sich nur darauf konzentrieren. Dem Wasserglas so viel Platz und so viel Zeit zu geben, um alles aus diesem Gegenstand herauszuholen. Schreiben ist ein Weg, sich die Welt zu erschließen und Sinn und Bedeutung zu schaffen. Sinn hat mit Verbindung zu tun. Womit man verbunden ist und was untereinander verbunden ist. In der Literatur stellt man diese Zusammenhänge her und untersucht sie.“
Der Roman „Kämpfen“ enthält auch Knausgårds Gedanken über Brotsorten im Supermarkt, Silberfische unter der Fußleiste und das Saugen mit vollem Beutel. Alltäglichkeiten, Realitäten, die Knausgård für romanrelevant hält. Dazu heißt es in seinem Buch:
„Es hat mit Aufmerksamkeit zu tun. Man muss einer Sache die volle Aufmerksamkeit geben, und das schafft man nicht im täglichen Leben. Ich kann zum Beispiel diesem Wasserglas hier nicht meine ganze Aufmerksamkeit widmen, während noch andere Dinge zu tun sind. Aber beim Schreiben ist das möglich: Den ganzen anderen Kram unterbrechen und sich nur darauf konzentrieren. Dem Wasserglas so viel Platz und so viel Zeit zu geben, um alles aus diesem Gegenstand herauszuholen. Schreiben ist ein Weg, sich die Welt zu erschließen und Sinn und Bedeutung zu schaffen. Sinn hat mit Verbindung zu tun. Womit man verbunden ist und was untereinander verbunden ist. In der Literatur stellt man diese Zusammenhänge her und untersucht sie.“
Der Roman „Kämpfen“ enthält auch Knausgårds Gedanken über Brotsorten im Supermarkt, Silberfische unter der Fußleiste und das Saugen mit vollem Beutel. Alltäglichkeiten, Realitäten, die Knausgård für romanrelevant hält. Dazu heißt es in seinem Buch:
„Dass die unwirkliche Welt mehr und mehr Raum einnimmt und wir bald ausschließlich in ihr leben, erzeugt den großen Hunger nach Realität, der in unserer Kultur um sich greift. … Wir leben in einem Meer aus Dingen und verbringen einen großen Teil unserer wachen Zeit vor Bildschirmen. Was tun wir, wenn daraus eine Sehnsucht nach etwas anderem erwächst? Nach einer wirklicheren Wirklichkeit, nach einem authentischeren Leben?“
Der Autor betrachtet sich schonungslos selbst
Seinen Text versteht er als Offenlegung dieser Sehnsucht nach einem nichtfiktionalen Leben, in dem die Dinge das ihnen gebührende Gewicht zurückerhalten und aus neuer Perspektive frisch betrachtet werden. Er macht uns vor, wie das geht. Und darin ist er wirklich gut. Das Herausragende an Knausgårds Text ist, wie es ihm gelingt, den Leser zu locken, seine Gedanken fortzusetzen. Auf welche Weise erreicht er das? Indem der Autor mit sich in Dialog geht. Er fragt sich etwas, antwortet, zweifelt, probiert Zusammenhänge aus, verwirft sie, knüpft neue Knoten. Und schließlich zeigt er, dass in der Welt alles mit allem verbunden ist. Und er tut dies auf verführerische Weise.
Zum Beispiel, wenn es um das politisch brisante Thema „kulturelle Unterschiede“ geht. Knausgård ist gegen jegliche Nivellierung. In Schweden, seinem Wohnsitz, hätten sie ein Unisexwort für Mann und Frau eingeführt. Neben han und hun gebe es jetzt hen, schreibt Knausgård. Die Nationalhymne würde nicht mehr so oft gespielt und Jesus nicht mehr im Religionsunterricht erwähnt.
„In Schweden ist es ähnlich wie in Deutschland. Die Schweden versuchen, nicht stolz auf ihre Nation, auf ihre Kultur zu sein. In Norwegen ist das anders. Norwegen ist sehr patriotisch. Aber in Schweden ist es fast so, als hätten sie den Nationalstaat dekonstruiert. Nationalismus gilt dort als eine schreckliche Sache. Meiner Meinung nach brauchen wir aber ein Gefühl der Zugehörigkeit. Jeder Mensch braucht das. Jeder Mensch gehört zu seinem Land. Ich weiß, es hört sich banal an, aber es ist eine grundlegende Sache.“
Zum Beispiel, wenn es um das politisch brisante Thema „kulturelle Unterschiede“ geht. Knausgård ist gegen jegliche Nivellierung. In Schweden, seinem Wohnsitz, hätten sie ein Unisexwort für Mann und Frau eingeführt. Neben han und hun gebe es jetzt hen, schreibt Knausgård. Die Nationalhymne würde nicht mehr so oft gespielt und Jesus nicht mehr im Religionsunterricht erwähnt.
„In Schweden ist es ähnlich wie in Deutschland. Die Schweden versuchen, nicht stolz auf ihre Nation, auf ihre Kultur zu sein. In Norwegen ist das anders. Norwegen ist sehr patriotisch. Aber in Schweden ist es fast so, als hätten sie den Nationalstaat dekonstruiert. Nationalismus gilt dort als eine schreckliche Sache. Meiner Meinung nach brauchen wir aber ein Gefühl der Zugehörigkeit. Jeder Mensch braucht das. Jeder Mensch gehört zu seinem Land. Ich weiß, es hört sich banal an, aber es ist eine grundlegende Sache.“
Von hier schlägt er den Bogen zu Hitler, dessen Buch „Mein Kampf“ ihm als Titel reizvoll schien, denn – so sagt er im Interview – die Worte seien schließlich Allgemeingut. Und außerdem glaube er, dass Hitler nicht der singuläre Bösewicht war, als den ihn die Welt sehen möchte. Denn er sei aus der Mitte der europäischen Kultur gekommen. „Die Nazis waren nicht sie. Das waren wir. Und es kann wieder passieren.“
„Kämpfen“, das vielleicht beste Buch aus der Min-Kamp-Serie, ist ein autobiografisch-essayistisches Werk, in dem sich der Autor schonungslos selbst betrachtet. Er ist sich nicht sonderlich sympathisch, und so bleibt auch der Leser ambivalent. Geht es hingegen um präzise Analysen der westlichen Moderne, liefert Knausgård eindeutig brillante Debattenbeiträge. Sie sind das Gegenmittel zur oft unerträglichen Vereinfachung im öffentlichen Diskurs. Karl Ove Knausgård produziert im Roman „Kämpfen“ ein Sperrfeuer an gedanklichen Anregungen.
Karl Ove Knausgård: „Kämpfen“
Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. Luchterhand. 1.280 Seiten, 29,00 Euro
Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. Luchterhand. 1.280 Seiten, 29,00 Euro