Karl Ristikivis Roman "Die Nacht der Seelen" beginnt ganz sachlich. Der allein lebende Erzähler hält es am Silvesterabend zu Hause nicht aus und macht einen Spaziergang. Die fröhlichen Menschen auf den Straßen erscheinen ihm fremd. Schon nach wenigen Abschnitten wird die Stimmung aber düster, der Mann wird von Ängsten und Fantasien geplagt. Ohne konkreten Anlass spürt er, nicht hierher zu gehören:
"Ich fühlte mich wie ein Verbrecher auf der Flucht, der jeden Moment befürchtet, gefasst zu werden. Die Verachtung und der Hass, die mir entgegenschlugen wie ein eisiger Wind im Gesicht, bekamen eine persönliche Färbung. Sie wirkten sogar gerechtfertigt. Ich konnte mich moralisch in keiner Weise verteidigen. Schließlich hatte ich kein Recht, mich hier zu bewegen. Der Raum, den ich mit meinem profanen Körper ausfüllte, war eigentlich für andere bestimmt. Ich war ein Fremder, ein ungebetener Gast."
Die Fremdheit des Exilanten ist ein Kernthema dieses Romans. Anders als etwa bei Konrad Merz’ "Ein Mensch fällt aus Deutschland", dem ersten deutschen Roman, der 1936 das Exil selbst zum Thema machte, geht es hier nicht um die Kälte der Mehrheitsgesellschaft und eine hartherzige Bürokratie. Das Gefühl der Fremdheit ist selbst erzeugt.
Verirrt in einem fremden Haus
Der Erzähler flieht aufs Geratewohl in ein Haus, in dem sich dann merkwürdige Dinge ereignen. Er muss sich mühsam einen Weg im Dunkeln suchen, geht durch Türen, durch die er nicht zurückgehen kann und landet plötzlich in Sälen voller Menschen. Mal wird dort ein Konzert gegeben, mal diniert oder Small-Talk betrieben. Die Beklemmung des Mannes nimmt zu, als er immer wieder freundlich angesprochen wird von Menschen, die ihn erwartet zu haben scheinen. Er kann sie nicht zuordnen, hat nur manchmal das vage Gefühl, ihnen früher einmal begegnet zu sein.
Dieselben Menschen trifft er später am Abend wieder, nur haben diese dann ihre Identität gewechselt. So unbestimmt und häufig wechselnd Namen und Rollen sind, so treffend karikatural zeichnet der herumirrende Erzähler diese Gestalten:
"Die Dame, die mir gegenüber saß, war eine üppige Frau in der letzten Blüte ihres Lebens, die aufgrund ihrer krausen weißen Perücke aussah wie ein Schaf. Auf ihrer fettigen Haut hatte der Puder schuppenartige Flecken gebildet. Als sie vorschlug, einander vorzustellen, beteiligte sich ihr dick geschminkter roter Mund zurückhaltend an einer Grimasse, die einem Lächeln ähnelte."
Ristikivi erzeugt durch die Abfolge verwirrender Begegnungen und absurder Dialoge eine surreale Atmosphäre. Mit dem Erzähler, der namenlos bleibt, wandert der Leser zwischen den Zeiten, zwischen Leben und Tod, zwischen Traum und Wirklichkeit umher.
Ein Verbrechen unbekannter Art
Im Haus soll es einen Toten geben, den aber niemand zu Gesicht bekommt. Ist dieser Tote möglicherweise der Kranke, dem der Erzähler einen eher unfreiwilligen Besuch abstattet, nur eben zeitversetzt in den Moment kurz vor seinem Tod?
Die unheimliche Geschichte scheint eine dramatische Wendung zu nehmen, als im ganzen Haus das Licht erlischt und die Polizei daraufhin ein Verbrechen aufzuklären versucht. Die komisch anmutende polizeiliche Befragung der Gäste gibt keinerlei Auskunft darüber, um welches Verbrechen es eigentlich geht.
"Die Nacht der Seelen" nimmt in Ristikivis Werk eine Sonderstellung ein. Vor dessen Veröffentlichung 1953 hatte der Autor seine Romane im Stil des Realismus geschrieben. Danach wandte er sich vor allem historischen und mythischen Themen zu, ohne dabei an den modernistischen Stil der "Nacht der Seelen" anzuknüpfen. Das Experimentelle an diesem Roman erläutert dessen Autor in einem Brief an eine kritische Leserin, der als Exkurs zwischen die beiden Hauptteile des Romans eingefügt ist.
Man könne, schreibt der Erzähler der Leserin, nicht verlangen, dass
"... in jedem Buch eine Geschichte erzählt wird, die nach gewissen theoretischen Anforderungen mit all den üblichen Verbindungen und Verknüpfungen aufgebaut ist. Sie sagen ja, dass sie überzeugt sind, dass ich dies hinbekommen hätte. Und Sie wundern sich, warum ich es trotzdem nicht getan habe. Die Antwort ist sehr einfach: Ich wollte es nicht."
Ristikivi wollte etwas anderes, nämlich die absolute menschliche Verlorenheit in den Wirren der Welt andeuten. Und die Qual der Auseinandersetzung mit Sinn- und Schuldfragen. Diese stehen im zweiten Teil der Geschichte im Mittelpunkt und werden vor Gericht verhandelt. Sieben Zeugen werden nacheinander zu einer der sieben Todsünden befragt – auch dies in kafkaesker Manier: Die Zeugen haben das Gefühl, als Angeklagte betrachtet zu werden, der Richter führt sich als großer Manipulator auf, Zuschauer kommentieren das Geschehen und diskutieren miteinander, oft ohne wirklichen Zusammenhang.
Der Kafka aus dem Baltikum
Kafkas Werk kannte Ristikivi nach eigenem Bekunden nicht, als er dieses Buch schrieb. Samuel Becketts "Warten auf Godot" wurde erst im Erscheinungsjahr der "Nacht der Seelen" uraufgeführt. Immer wieder drängt sich die Verbindung zu diesen beiden älteren Zeitgenossen auf. Auch der "Zauberberg" erscheint im zweiten Teil immer wieder am Horizont. Nur bricht Ristikivi die philosophisch-religiösen Traktate konsequent durch Ironie und subversiven Humor auf, wenn etwa ein Pastor bei der Erörterung der Todsünde "Zorn" im Gerichtssaal eine argumentative Pirouette dreht:
"Im Krieg gibt es ja unweigerlich zwei Seiten, eine, die den Krieg beginnt, und eine andere, die sich verteidigt. Da eine Seite allein keinen Krieg führen kann, ist der Angreifer vollkommen unschuldig. Schuld ist derjenige, der sich verteidigt, denn nur durch ihn wird der Krieg in die Tat umgesetzt."
Nach diesen kurzweiligen Erörterungen endet die Geschichte, nicht wie die des Zauberberg-Patienten Hans Castorp nach sieben quälenden Jahren, sondern schon kurz nach Mitternacht, mit dem Beginn des Neujahrs. Der Erzähler hat endlich eine Tür zur Außenwelt gefunden – erschöpft nach der verunsichernden Mischung aus Traum, Fantasie und Erinnerung. Er kehrt zurück aus dem zeitlosen Land, das irgendwo zwischen endlichem Leben und der Ewigkeit liegt.
Was für Europa lange verloren war
"Die Nacht der Seelen" ist ein ungewöhnlicher, vielschichtiger Roman, der uns verspätet geschenkt wird. Das informative Nachwort des estnischen Schriftstellers Rein Raud macht neugierig auf Ristikivis Werk und die estnische Literatur insgesamt. Wie der Roman selbst verdeutlicht die Perspektive des jüngeren Autors auf einen Klassiker seines Landes, wie sehr die estnische Literatur Teil der europäischen Kultur ist – und wie einschneidend der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg den Kulturraum Europa zerrissen haben. Wir dürfen gespannt sein auf weitere Nachträge.
Karl Ristikivi: "Die Nacht der Seelen"
Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann
Guggolz Verlag, Berlin. 373 Seiten, 24 Euro.
Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann
Guggolz Verlag, Berlin. 373 Seiten, 24 Euro.