Gewaltiger als Dantes dichterisches Vorhaben in der "Göttlichen Komödie" lässt sich um 1300 der Horizont von Dichtkunst kaum ermessen: Der Dichter erzählt von einer Lebenskrise, aus der er von niemand Geringerem als Vergil geführt wird, der als Bote aus dem Jenseits fungiert. An Vergils Seite bricht er zu einer kurzen, aber gefahrvollen "anderen Reise" auf, einem Gang durch die Regionen von Inferno, Purgatorium und Paradies, die kein Sterblicher je lebend betreten und wieder verlassen hat. Dennoch befindet er sich in den nach antikem Vorbild wohlgeordneten Höllen oder Himmelskreisen nicht losgelöst von Raum und Zeit.
Das Trauma des Exils
Das zeitgenössische Florenz als reiche Handelsstadt und kriegerische, intrigante Bürgerschaft begegnet dem Leser auch hier auf Schritt und Tritt. Dante selbst hatte sich auf Seiten der Verlierer politisch engagiert und wurde verbannt. Das Trauma des Exils kann in seinen Konsequenzen für Dantes persönliche Lebenssituation gar nicht hoch genug veranschlagt werden, wie uns Karlheinz Stierle als brillanter und aufmerksamer Führer durch Dantes Werk darlegt: "Für Dante bricht, wenn man so will, eine ganze Welt zusammen im Augenblick des Exils. Er verliert seine politische Identität, er verliert seine bürgerliche Existenz, er verliert seine Familie und er fragt sich, ob er dieses alles wirklich verschuldet hat. Und dann stellt sich ihm die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und damit auch nach dem sinnhaften Aufbau der ganzen Welt, an der er verzweifelt, so sehr verzweifelt, dass er, wie ich meine, kurz vorm Selbstmord steht, und dass damit eigentlich mit dem Bild des dunklen Waldes als Bild für den Selbstmord die Commedia beginnt."
Schritt für Schritt rechnet Dante beim Gang durch das Inferno mit seinen Florentiner Mitbürgern ab, der Kirche und allem was ihm missfällt, indem er als Autor seinen Gegnern schwere, sprechende Strafen und Qualen zugedenkt. Das Inferno wird zu einem permanenten Durcharbeiten der Vergangenheit, ohne Aussicht auf Befreiung: "Ich gehe soweit zu sagen, dass das Inferno eigentlich eine Hölle der Erinnerung ist, dass jeder der im Inferno Büßenden keine Kommunikation mehr hat zu den anderen, sondern im Grunde unablässig zurückgeworfen ist auf seine eigene irdische Existenz und auf den Augenblick, wo sich sein Schicksal zur ewigen Verdammnis entscheidet."
Anders sieht es im Purgatorium aus, dem Ort, in dem die Seelen auf ihre Läuterung warten und sich für die Aufnahme ins Paradies vorbereiten. Dieser Teil der "Commedia" ist der Ort göttlicher Kunst, ihr erwägt Dante in Versen nahezukommen, wenn nicht gar sie zu übertreffen. Stierle: "Im zehnten Gesang des Purgatorio, wo Dante den göttlichen Künstler bewundert, der in den Mamor des Umgangs und des Eingangs zum Purgatorio große Szenen der Demut geschaffen hatte, hat man fast den Eindruck, Dante ist nicht so sehr ergriffen von den Bildern der Demut, der humilitas, sondern von Gottes unerhörter Kunst, und er fragt sich, ob er nicht selbst als ein Künstler so vermessen sein könnte, den Wettstreit mit diesem Künstlergott aufzunehmen."
Schönheit und Ausdruckskraft der italienischen Volkssprache
Dante schreibt seine Dichtung nicht wie zu dieser Zeit üblich auf Latein, sondern im "Volgare", der italienischen Volkssprache, die er mit seiner Dichtung in ihrer Schönheit und Ausdruckskraft idealtypisch zu fassen und zu gestalten versucht. Hier findet er zu fein abgestimmten Naturbeschreibungen im Wechsel der Tageszeiten und zu in der Tat berückend einfachen, bis heute einleuchtenden Vergleichen.
Stierle: "Also ich glaube, dass diese kleinen Bilder außerordentlich wichtig sind und zwar deshalb, weil sie überhaupt nicht hineingehören in den topischen Bestand an Metaphern, die die europäische Rhetorik seit der griechischen und römischen Rhetorik bestimmen. Dante geht aus von kleinen Beobachtungen des alltäglichen Lebens, die er benutzt, um das ganz Andere darzustellen. Das bedeutet aber auch gleichzeitig, dass der Leser, der sich auf dieses gewaltige Weltgedicht einlässt, beständig aus der Welt seiner eigenen Erfahrung die Bilder abrufen kann, die er dann braucht, um sich Dantes Weltvision vorstellen zu können. Es ist unglaublich, also etwa wenn man das Bild von dem alten Schneider, der bei Vollmond die Augen zusammenzieht, wenn er einen Faden durch ein Nadelöhr führen will – dieses ist das Bild für die Verdammten, die zu Dante aufschauen und ihn nur schwach erkennen im Dunklen, im Halblicht des Inferno – das ist von einer unerhörten physiognomischen Genauigkeit, die ja überhaupt einer der großen Stärken der Dichtung von Dante ist."
In den himmlischen Gefilden, zu denen Vergil als in vorchristlicher Zeit lebender Nicht-Christ der Zugang schuldlos verwehrt bleibt, steht Dante sein früh verstorbener Jugendschwarm, die tugendhafte Beatrice zur Seite. So sehr Dante in anderen Schriften die Rolle Evas im Paradies negiert und ihr keinerlei eigenes Handeln zubilligt, desto mehr verehrt er Beatrice. Sie ist im Paradiso allerdings nicht mehr die irdische junge Frau, die er in der "Vita nova" besingt, sondern völlig entrückt. Stierle: "Sie ist wirklich Instanz der Kirche, sie ist Wortführerin Gottes, sie erklärt Dante die Welt, aber immer so, dass Dante immer dann doch noch eine Frage hat, die er sofort als nächste anbringt. Beatrice ist eine schwer fassbare, fast abstrakte Gestalt, bis zum letzten Augenblick des Abschieds in der höchsten Höhe des Paradiso, wo auf einmal für einen Augenblick Beatrice sich wirklich Dante zuwendet und ihn ansieht und nicht etwa durch ihn hindurch oder über ihn hinaussieht."
So bescheiden sich Dante in Beatrices Gegenwart verhält, so selbstbewusst tritt er ansonsten seine unglaubliche Reise an. Stierle erläutert dies einmal anhand des Begriffes des "Altro viaggo", des anderen Weges oder der anderen Reise. Vielschichtig wie kaum ein anderer ist Dantes Weg, der nicht nur eine Passage durch Himmel und Hölle ist, sondern den Weg der Dichtung selbst beschreibt: "Das ist eine sehr wichtige Frage, die nach dem Weg Dantes, der altro viaggo, genau in der Mitte seines Lebens, wo führt er ihn hin? Er führt ihn einerseits in drei Sphären einer unerhörten, so noch nie gemachten Erfahrung, nämlich in Hölle, Pugatorio und Paradies und damit sozusagen in eine Welterfahrung wie sie so noch nie gemacht worden ist und wie sie dem an allem zweifelnden, vor allem an der göttlichen Gerechtigkeit zweifelnden Dante sich eröffnet. Aber jenseits dieses Wegs liegt natürlich ein ganz anderer Weg, nämlich der Weg des Exils, und jenseits dieses Wegs ins Exil liegt sozusagen Dantes Weg zum Werk, der gleichzeitig der Weg des Werkes selbst wird."
Dante sieht sich mit der "Göttlichen Komödie" in der Nachfolge von Adam
Dante sieht sich mit diesem Werk in der Nachfolge von Adam, der die Gesetze des Paradieses übertrat, aber ebenso auch als Nachfolger von Odysseus. Der Dichter schreibt hier eigenmächtig den antiken Mythos fort, indem er Odysseus mit seinem Schiff die Grenzen der antiken Welt über Gibraltar hinaus gen Westen erkunden lässt, in einem beispiellos modernen Aufbruch. Solch kühne Traditionslinien werden im italienischen Original nicht zuletzt durch unübersetzbare Reime gesichert, deren Wohlklang eine unterschwellige Verbindung herstellt: "Der Reim spielt in der mittelalterlichen und nachmittelalterlichen europäischen Dichtung eine ungeheure Rolle. Mit ihm können Bedeutungszusammenhänge transportiert werden, die auf andere Weise gar nicht möglich sind. Also bei Dante wäre das "segno", "ingenio" und "legno", der Zusammenhang zwischen Holz als Metapher für das Schiff, die unerhörte Erfindungskraft des menschlichen Geistes, der immer wieder über die Gesetze hinaus will, mit dem "ingenio" – und das Zeichen als eine Art göttliches Zeichen, das sozusagen dem Menschen beständig Grenzen setzt, die dann der Mensch doch immer wieder überschreiten muss. Das ist in einem Reim zusammengebunden und diesen Reim kann man nicht übersetzen."
Solch genaue, charmant vorgetragene Beobachtungen bilden den philologischen Reiz von Stierles Buch. Schritt für Schritt lässt er die unerhörte Reise des Erzählers für den bewanderten Leser einsichtig werden, in seiner sprachlichen Schönheit, im kunstvollen Aufbau und Verschmelzen von antikem und christlichem Gedankengut. Dantes epochales Werk ist unter der etwas irreführenden Bezeichnung "Göttliche Komödie" überliefert und rezipiert. Dies ist eine frühe verlegerische Entscheidung, die weitreichende Konsequenzen hatte: "Der Titel 'Divina Commedia' ist nicht authentisch. Er ist, wenn man so will, geradezu ein Werbeeinfall des venezianischen Verlegers Giolito von 1555. Das Werk selbst wird von Dante als 'Comedia' oder als 'Commedia' bezeichnet – die Commedia ist ein Werk mit einem guten Ende im Gegensatz zur tragedia, die schlecht endet."
Das gute Ende leuchtet auf den ersten Blick nicht ein, Dante muss ja nach seiner extraterrestrischen Reise ins Exil, und sein Freund Vergil scheint dazu verdammt zu sein, auf ewig im Vorkreis der Hölle zu schmachten. Stierle sieht hier als großes Movens der Dichtung das Prinzip Hoffnung walten: "Beides aber scheint mir, wird überboten durch so etwas wie eine Hoffnung auf das gute Ende, die sozusagen eingeschrieben ist in die Comedia und die aber doch jenseits liegt. Dante hofft darauf, dass er sein Werk – sein eigenes Werk – vollenden kann, er hofft darauf, dass Vergil doch erlöst wird und er hofft auch darauf, dass er eines Tages wieder nach Florenz zurückkehren darf, eine Hoffnung, die sich allerdings nie erfüllt hat.