Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht ein 2015 gestartetes milliardenschweres Anleihe-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Konkret ging es um das Public Sector Purchase Programme (PSPP) und die Frage, ob die EZB mit dem Kauf von Staatsanleihen ihre Kompetenzen überschritten hat.
Mehrere deutsche Kläger hatten dazu Verfassungsbeschwerden eingereicht, darunter der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler. Ihrer Ansicht nach betreibt die EZB mit den Anleihekäufen – eigentlich ein geldpolitisches Instrument – im Fall des PSPP gezielte Wirtschaftspolitik und Staatsfinanzierung und ermuntere die Staaten sogar zum Schuldenmachen. Die Risiken dieser Schulden anderer EU-Länder würden über die deutsche Bundesbank – größter Anteilseigner der EZB - auf den deutschen Steuerzahler abgewälzt.
Rund ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die EU-Kommission nun am 9. Juni 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.
Die Richter in Karlsruhe kamen zum einem zu dem Schluss, dass die EZB mit dem Programm ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe. Der Bundesbank wurde es deshalb untersagt, weiterhin an der Umsetzung des EZB-Aufkaufprogramms mitzuwirken, sofern die EZB nicht nachvollziehbar darlege, dass das Programm verhältnismäßig sei. Bundesregierung und Bundestag sollten darauf hinwirken, dass Europas Währungshüter nachträglich prüfen, ob die Käufe verhältnismäßig sind. Das ist inzwischen erledigt, wie das Bundesverfassungsgericht im April bestätigte.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthielt aber noch eine zweite Komponente: Die Richter befanden auch, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH), der das Anleihekaufprogramm zuvor gebilligt und keine Mandatsüberschreitung festgestellt hatte, das Vorgehen und insbesondere die Verhältnismäßigkeit der geldpolitischen Mittel nicht ausreichend geprüft habe.
"Erstmals in seiner Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können", sagte der damalige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle in der Urteilsbegründung. Damit setzte sich das deutsche Verfassungsgericht über ein EuGH-Urteil hinweg, obwohl Entscheidungen des obersten EU-Gerichts für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind.
Nachdem die geldpolitische Komponente des Urteils ausgeräumt war, hätte die EU-Kommission den Konflikt mit Deutschland nach Meinung vieler Beobachter ruhen lassen können. Stattdessen hat sie sich jetzt, ein Jahr nach dem Karlsruher Urteil, für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland entschieden. Es bleibe bei der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht erklärt habe, die europäischen Richter hätten jenseits ihrer Kompetenzen gehandelt, weshalb ihre Entscheidung keine Rechtskraft in Deutschland entfalten könne, hieß es. Die EU-Kommission sieht darin eine Verletzung grundlegender Prinzipien des EU-Rechts, nämlich dem Vorrang des EU-Rechts vor nationalen Regelungen der EU-Mitgliedsländer.
Dabei gehe es auch um die "Beachtung der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs". Sie sprach von einem ernstzunehmenden Präzedenzfall und äußerte die Befürchtung, dass durch solche Gerichtsentscheidungen die Integrität des EU-Rechts beeinträchtigt werden könnte. Die EU-Kommission hat bereits mehrfach Länder wie Polen kritisiert, weil diese sich weigern, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen.
Die Sorge, dass das deutsche Beispiel in Europa Schule machen könnte, sei nicht aus der Luft gegriffen, meint auch Brüssel-Korrespondent Peter Kapern: Das Karlsruher Urteil sei nur Stunden alt gewesen, da habe man Politiker in Polen und Ungarn jubilieren hören nach dem Motto: Wenn die Deutschen so mit dem EuGH umgehen, warum sollten wir das dann nicht auch tun? Wir halten die Luxemburger Gerichte schon lange für übergriffig.
"Deshalb sind bei der EU alle Alarmlampen angegangen. Man befürchtet, dass Länder sich jetzt permanent auf diesen Präzedenzfall berufen."
Der Politikwissenschaftler Josef Janning sagte im Deutschlandfunk, das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Urteil "eine Büchse der Pandora" geöffnet, indem es sich selbst das Recht gegeben habe zu entscheiden, ob die europäische Ebene und der EuGH ihre Kompetenzen überschritten haben. Es gebe aber keine objektiven Kriterien dafür, wo genau die Grenze der Zuständigkeiten liege. Hätte das Bundesverfassungsgericht dagegen klargestellt, dass es den Vorrang des europäischen Rechts nicht in Zweifel ziehe, dann wäre das Verfahren nicht mehr tauglich für "instrumentalisierte Verfassungsgerichte" etwa in Ungarn oder Polen. "Man darf das nicht als Hebel benutzen, um Europapolitik zu verhindern", warnte Janning.
Der CDU-Europapolitiker Daniel Caspary dagegen sagte im Dlf, das Bundesverfassungsgericht habe den EuGH lediglich dafür kritisiert, nicht ausreichend geprüft zu haben, ob das Anleiheprogramm in seinen Auswirkungen verhältnismäßig gewesen sei. Der Streit zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassunsgericht habe sich gar nicht um die Frage gedreht, ob europäisches Recht über nationalem stehe – das hätten die Richter in Karlsruhe schon vielfach anerkannt. Die Währungspolitik sei eine europäische Aufgabe, aber jede Aktivität der EZB in diesem Bereich habe Auswirkungen auf Politikbereiche, die in nationale Zuständigkeit falle – das habe das Bundesverfassungsgericht sogar akzeptiert. Es habe sich aber gewünscht, die EZB möge sicherstellen, dass die Auswirkungen ihres Anleihekauf-Programms verhältnismäßig sind, und wenn sie das von sich aus nicht mache, hätte der EuGH sicherstellen müssen, dass sie es tut.
Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens bekommt die Bundesregierung nun zwei Monate Zeit, schriftlich auf die Vorwürfe zu reagieren. Wenn die EU-Kommission mit der Antwort nicht einverstanden ist, könnte sie Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Der könnte eine Geldstrafe verhängen.
Offen ist, was Brüssel konkret von Deutschland verlangt. Aus Sicht der Kommission obliegt es der deutschen Seite, "einen angemessenen Weg zu finden, den Verstoß zu beseitigen". Man habe "kein Interesse an einem vertieften Streit" zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht, hieß es in der Kommission. Die Behörde arbeite deshalb in der Frage "eng mit dem Bundeskanzleramt" zusammen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, man werde sich die Bedenken genau anschauen und darauf schriftlich reagieren. Brüssel-Korrespondent Peter Kapern verwies allerdings darauf, dass die Bundesregierung dem Bundesverfassungsgericht nicht vorschreiben könne, wie es entscheide und sich zum europäischen Recht stelle.