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Karneval
Abseits des Frohsinns

Mit Brettern verbarrikadierte Schaufenster, Rettungssanitäter im Dauereinsatz und alle anderen müssen Pfützen von Erbrochenem umkurven - auch das ist typisch Karneval. In dem Fotoband und der Ausstellung "Elfuhrelf" haben neun Fotografen nicht nur den karnevalistischen Frohsinn abgebildet.

Von Peter Backof | 03.03.2014
    Müll liegt am 11.02.2013 nach dem Rosenmontagszug durch Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) auf dem Boden.
    Nach dem Rosenmontagsumzug ist die Stadtreinigung am Zug. (picture alliance / dpa - Caroline Seidel)
    "Krankenhäuser sind ja im Karneval ganz wichtig. Weiberfastnacht um sieben Uhr morgens werden schon die ersten Schüler eingeliefert. Alle Flure sind voll mit Liegen, daneben liegen halt so Pappschalen, für die ganzen Leute, die sich übergeben müssen."
    Man riecht förmlich den gebohnerten PVC-Boden, eine einsame Luftschlange kräuselt sich armselig über einem Desinfektionsmittelspender. Ute Berend hat für den Fotoband "Elfuhrelf" über mehrere Jahre die Atmosphäre in Krankenhäusern eingefangen. Dort ist jetzt gerade Ausnahmezustand: Eingelieferte, die sich vor Ort nicht entscheiden können, ob sie sich übergeben sollen - oder doch noch mal mit irgendjemandem knutschen? Diesen Anblick erspart uns die Fotografin, wir sehen das alles nur ausschnitthaft angedeutet, wenn auch selbsterklärend: das improvisierte Matratzenlager. Und die Kotzschalen. Die Möglichkeit, ungehemmt und schamlos menscheln zu können, ist wahrscheinlich der Grund, warum jedes Jahr ein Vielfaches der Einwohnerzahl nach Köln strömt. Dirk Gebhardt, ein anderer der neun Fotografen des Bildbands:
    "Wenn man in so einer Kneipe ist, um drei Uhr morgens, wo man eigentlich nicht mehr durchkommt, man ständig von der einen Ecke zur anderen geschubst wird und versucht, irgendwie da noch mal ein Bier zu trinken, da muss man Leidensfähigkeit mitbringen. Aber das wird überdeckt durch den wahnsinnigen Frohsinn, der entsteht, durch Körperreibung, Selbstdarstellung und Alkohol."
    85 Fotos querbeet
    Karnevalskritisch? Kann man das Projekt nicht nennen. Wir sehen 85 Fotos querbeet. Nicht inszeniert, so wie es ist, immer aus ungewöhnlicher Perspektive: Der triste Vorort, weitab vom großen Getümmel, wo ein improvisiert kostümiertes Rentnerpaar gerade das Haus verlässt, um auf die Piste zu gehen; dann der voyeuristische Blick unter einen Garderock, wobei unklar bleibt, ob wir Frauen- oder Männerbeine sehen. Oder übereinander gestapelte Bierkästen, auf die rustikale Bohlen geschnürt sind: die Aussichtsplattform in Kneipen, zum Schunkeln, zum Sehen und Gesehenwerden. Unkaputtbar robust, worin sich, auch ohne dass hier Menschen abgebildet wären, sehr deutlich die körperliche Dimension spiegelt, die sich zur Stunde in jeder Kneipe entlädt.
    "Wir haben auch gar nichts gegen Karneval sagen wollen. Wir wollten nur mal was anderes sagen über Karneval."
    Dirk Gebhardt selber überrascht mit seinem Beitrag: Wo hat er dieses in der Realität nicht zu übersehende, so typisch Kölner Konfettibunte versteckt? Seine Fotos sind grobpixelig, unscharf durch die Bewegung, und Schwarzweiß. Gespenstische Motive bei Nacht: ein Nosferatu-Schatten zeichnet sich auf einer Zeltplane ab, eine Frau liegt komatös am Boden, im Lichtkegel einer Taschenlampe, wie die historische Fotografie eines Verbrechens wirkt das. Die Frau entpuppt sich auf den zweiten Blick: tatsächlich als Schaufensterpuppe, die im Überschwang in eine verregnete Gosse geschleudert wurde.
    "Ich hab mit Absicht nicht Karneval fotografiert, sondern den alten Mythos der Wintersonnenwende, also auch dieses Spiel mit dem Tod, der Vergänglichkeit, der Vanitas als künstlerisches Motiv."
    Nicht nur Frohsinn
    Die Puppe als Frühlingsopfer? Das Ritual der Winteraustreibung wie man es aus dem süddeutschen Raum kennt? Tatsächlich eine Facette auf dem sogenannten Geisterzug, zumindest was die Ernsthaftigkeit betrifft, mit der er 1991 zum ersten Mal begangen wurde, als der Rosenmontagszug wegen des Irak-Kriegs ausfiel. Zuerst Anti-Kriegs-Demo mit düsteren Sambatrommeln, ist der Geisterzug inzwischen eher Party als Demo. Alles wandelt sich: auch die Traditionen. "Elfuhrelf" – das sind 85 Metamorphosen in 85 Fotos, per Crowdfunding finanziert. 11.111 Euro wollte das Team zusammenbekommen, gut 13.000 sind es dann geworden. Fotos, die eben nicht nur Frohsinn abbilden und die vor allem auch: keine erklärenden Texte brauchen. Das Medium ist die Botschaft:
    "Dieser entscheidende Moment oder Moment décisif, als Fachbegriff, geprägt von Cartier-Bresson in den 30er-Jahren: Fotografie hält Zeit an und macht damit eine Metaebene sichtbar."
    Der große Rosenmontagszug, als Film-Still. Was macht dieses Mädchen da? Bückt sie sich, weil jemand Hilfe braucht oder hebt sie eine Kamelle auf? Die Szene wird ambivalent, wenn die Zeit steht. Das transportiert "Elfuhrelf", mit Unterhaltungswert: Mensch und Stadt im Alternativmodus. Ein existenzielles Wimmelbild. Bemerkenswert: Auf den 85 Fotos sind unter den Hunderten Fotografierten nur fünf Gesichter zu sehen, die lächeln. Etwas anderes zeigt sich: Niemand muss sich für etwas schämen. Oder Fremdschämen. Das ist wohl das Faszinierende am Karneval ganz weit über das Beispiel Köln hinaus.