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Karneval in Montevideo

Der wohl längste Karneval der Welt wird In Uruguay gefeiert: Fast 40 Tage lang bilden die Murgas einen Schwerpunkt des Spektakels. Eine Murga ist eine singende und theaterspielende Truppe, deren Wurzeln ein Jahrhundert zurückreichen – bis nach Spanien und Italien. In der Karnevalszeit präsentieren sich Murgas Abend für Abend in den Stadtteilen Montevideos.

Von Victoria Eglau |
    "Club 25. August" heißt ein Sportverein in Montevideo. Zum Club gehört eine Kneipe mit einem kleinen Hof. Hier befindet sich das Hauptquartier der Demimurga. Ein gutes Dutzend Mitglieder dieser "Murga" – überwiegend junge Männer und nur zwei Frauen - bereiten sich auf den abendlichen Auftritt vor. Sie schminken sich weiße Gesichter und tragen ebenfalls weiße, phantasievolle Kostüme zu einem Lastwagen, der vor dem Club wartet.

    Wenige Minuten später geht es los: zum ersten tablado. So heißen die Stadtteil-Bühnen von Montevideo. Auf insgesamt drei tablados wird die Demimurga heute erwartet. Sänger, Trommler und Helfer drängen sich sitzend oder stehend im Lastwagen, einem typischen Fortbewegungsmittel der Murgas von Montevideo.

    Die Truppe hat sich warm gesungen und ist am Velodrom angekommen, einer Freilichtbühne. Christian, der 30-jährige Direktor der Murga, gründete diese vor zehn Jahren mit. Demimurga sei ein Wortspiel und habe sich den Namen der Schauspielerin Demi Moore ausgeliehen erläutert Christian und erklärt dann das Wesen der uruguayischen Murga.

    "Die Murga ist ein Chor mit verschiedenen Stimmlagen, begleitet von Percussions-Instrumenten wie Pauke und Schellen. Die Murga kritisiert unsere Wirklichkeit, mal mit Humor, mal auf ernstere, tiefgehendere Weise. Eine Murga singt, tanzt, spielt Theater. Hier in Uruguay machen Theaterleute beim Karneval mit und Karnevalisten treten im Theater auf. Die Murga entwickelt sich ständig weiter, aber ihr Ursprung liegt auf der Straße. Auch wenn die Murga neue künstlerische Elemente aufgenommen hat, bleibt sie Volkskunst."

    Der Überlieferung nach entstanden die Murgas als Imitation einer Gruppe von Straßenkünstlern, die 1908 aus dem spanischen Cádiz nach Montevideo kam und eigentlich zu einer Zarzuela, einer Operetten-Kompagnie gehörte. Die Künstler aus der Hafenstadt Cádiz waren wiederum durch den Karneval von Venedig beeinflusst. Auf derart verschlungenen Wegen fanden deshalb auch Figuren der Commedia dell’ Arte, wie Pierrot und Colombina, Eingang in die uruguayische Murga.

    Die Show der Demimurga beginnt. Thema des diesjährigen Programms sind die Wahlen, die im Oktober in Uruguay stattfinden. Die Murga präsentiert sich als transparente Partei, als partido transparente, die zum ersten Mal antritt und die anderen Parteien mit Witz und Biss aufs Korn nimmt. Die Sänger schwingen durchsichtige Fahnen, verteilen Flugblätter im Publikum und lassen in ihrem satirischen Vortrag kaum ein politisches Thema aus. Dazu gehören etwa das Präsidenten-Veto gegen die von Uruguays Parlament beschlossene Legalisierung der Abtreibung, aber auch die Wirtschaftskrise in den USA. In einer Art Sketch stellt die Murga dar, wie ihr kleines Land dem mächtigen Nachbarn im Norden solidarisch unter die Arme greifen will und ihn deshalb gleich annektiert.

    Nach einer Dreiviertelstunde verabschiedet sich die Demimuga vom überwiegend jungen Publikum, das sich offenbar gut amüsiert hat.

    "Eigentlich arbeite und studiere ich, aber im Karneval nehmen die meisten von uns Urlaub. Wir sind ja jeden Abend im Februar unterwegs. Das ist anstrengend, aber irgendwann bist du im Training und findest es toll und machst es gern,"

    erzählt Claudia, eine der beiden Frauen in der Demimurga, während der Fahrt zum nächsten tablado. Murgas sind traditionell eine Männerdomäne. Der erste, der seine Truppe für Frauen öffnete, war José Alanís. Seine Murga "La Soberana" war nicht nur in dieser Hinsicht revolutionär. La Soberana, auf Deutsch die Souveräne, verteidigte in den achtziger Jahren - mitten in Uruguays Militärdiktatur - singend und trommelnd die Interessen des Volkes, bis sie schließlich verboten wurde.

    "”Die Militärs haben mich vor Gericht gestellt und für mehr als drei Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil ich die Texte der Murga geschrieben hatte. Als ich freikam, musste ich ins Exil gehen.""

    Zurück zur Demimurga, die gerade ihren dritten Auftritt an diesem Abend absolviert hat. Es ist kurz vor Mitternacht und die Stimmung im Lastwagen ist entspannt.

    Keine 24 Stunden später findet sich die Murga erneut im "Club 25. August" ein. Im Hof steht eine Nähmaschine, eine ältere Frau bessert die arg strapazierten Kostüme aus. An diesem Abend wird die Truppe am Murga-Wettbewerb im Sommertheater von Montevideo teilnehmen, einem Mega-Ereignis des uruguayischen Karnevals.

    "Für mich ist es das Größte. Seit ich klein war, hab ich davon geträumt, und heute wird mein Traum war. Ich bin ein bisschen nervös,"

    gesteht Murga-Mitglied Mauricio.

    Um neun Uhr abends ist es soweit. Willkommen im Tempel des Momo – schmettert der Moderator der Demimurga entgegen. Momo, so heißt in Uruguay der Gott des Karnevals. Das Sommertheater mit seinen 5000 Plätzen ist ausverkauft, es herrscht eine Atmosphäre wie im Fußballstadion. Ein paar Dutzend Fans begleitet die Demimurga, manche Ensembles rücken sogar mit Hunderten von Unterstützern an.

    Die Jury bewertet die musikalische und theatralische Darbietung, die Texte, das Makeup und die Kostüme der Murgas. Bisher steht nicht fest, ob die Demimurga die Endrunde des Wettbewerbs erreicht hat. Doch die Herzen der Zuschauer hat sie in den erlaubten 45 Minuten zweifellos erobert. Als Sänger und Trommler von der Bühne herabsteigen und ein letztes Mal den Refrain anstimmen, hält es sie nicht mehr auf den Stühlen.