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Karosh Taha: "Im Bauch der Königin"
Lauter Zwischenwelten

„Im Bauch der Königin“ von Karosh Taha ist ein Wenderoman: Von beiden Seiten zu lesen, eröffnet die Essener Autorin verschiedene Möglichkeiten für ihre Figuren – junge Menschen aus Einwandererfamilien, die noch nicht wissen, wer sie sind, und vielleicht nie wissen werden, wohin sie gehören.

Von Antje Deistler |
Die Autorin Karosh Taha udn irh Roman „Im Bauch der Königin“
In Karosh Tahas zweitem Roman geht es wieder um junge Menschen aus Einwandererfamilien in einer Ruhrgebietsstadt (Buchcover Dumont Buchverlag / Autorenportrait © Havin Al-Sindy )
Wo anfangen mit der Besprechung eines Buches, das zwei Anfänge hat, zwei Enden, überhaupt zwei Versionen einer Geschichte? Und dann ist es noch nicht einmal ein und dieselbe Geschichte, die Karosh Taha da aus der Sicht von zwei verschiedenen Charakteren erzählt – um etwa der Wahrheit näher oder einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, wie das in einem Kriminalroman der Fall wäre.
Aber um Wahrheitsfindung geht es nicht in Karosh Tahas Wenderoman "Im Bauch der Königin". Das zweite Buch der deutsch-kurdischen Schriftstellerin enthält zwei Paralleluniversen, zwei Welten, die jeweils um ein Zentrum kreisen. Vielleicht fängt man am besten genau da an, bei den Gemeinsamkeiten: Beide Welten liegen irgendwo im Ruhrgebiet, in einem ganz normal trostlosen deutschen Viertel, in dem auch viele Einwandererfamilien leben. Die Sonne, um die Tahas Universen kreisen, heißt Shahira.
"Shahira ist keine Nachbarin, sie ist keine Frau, sie ist kein Mensch – sie ist eine Idee, und jeder im Viertel sieht Shahira, in jedem Kopf spielt sich eine Geschichte ab, wenn Shahira vorbeiläuft: Shahira hört nicht mehr auf, in unseren Köpfen zu laufen, und ihre Schuhe sind abgenutzt, so viel muss sie laufen, irgendwo am Straßenrand muss sie ihre Schuhe ausziehen, und sie läuft barfüßig weiter, und wenn ihr die Sohlen schmerzen, setzt sie sich in unseren Köpfen hin, und es eilen fünf Männer herbei, die ihr die Füße und Beine massieren."
Projektionsfläche und Fixstern
So sieht Amal Shahira. Shahira, die berühmt-berüchtigte alleinerziehende Mutter von Younes. Eine geschiedene Frau, die kurze Röcke trägt, Haut zeigt und mit verschiedenen Männern Beziehungen eingeht. Manche im Viertel nennen sie eine Hure, die Männer glotzen, die Frauen fürchten und verachten sie, und wenn es in ihren Ehen Probleme gibt, kennen sie die Schuldige. Aber egal, was sie über Shahira denken, ob sie ihre Selbstbestimmtheit verachten oder bewundern - alle stehen in ihrem Bann, alle zieht sie in ihr Gravitationsfeld – wahrscheinlich, ohne es überhaupt zu ahnen. Wir wissen es nicht, denn Shahira selbst kommt kaum zu Wort. Wir lernen sie nur durch andere kennen, sie ist eine Projektionsfläche, eine Leerstelle, aber auch der Fixstern in dieser Welt.
Amal gehört eine von zwei auch im Ton sehr unterschiedlichen Erzählstimmen. Ihre Eltern stammen aus Kurdistan, aus der Stadt Zaxo im Irak. Dort hat auch die Autorin Karosh Taha ihre ersten zehn Lebensjahre verbracht, bevor die Familie nach Deutschland zog. Das Mädchen ist einerseits ebenso aufsässig wie Shahira, andererseits der Gegenentwurf zu dieser femme fatale: Zum Kummer ihrer Mutter schneidet sich Amal die Haare kurz und schlägt auch mal um sich. Ihren besten Freund Younes, Shahiras Sohn, hat sie als Kind verprügelt. So lernten die beiden sich kennen. Jetzt machen sie zusammen Abitur, zwei Außenseiter unter all den anderen Kurden, Türken, Tschechen, Libanesen, Polen und Almans – die Deutschen heißen in dieser Welt nur Almans. Amal erzählt atemlos und dicht. Sie ist eine unwahrscheinliche Sheherazade – auf dieses orientalische Klischee nimmt Karosh Taha ausdrücklich Bezug.
"Das kurdische Wort shahrasa klingt wie Shahrasad, der die Worte auch nie ausgingen. Shahrasa bezeichnet jemand Kluges, nicht jemand, der gut rechnen kann, sondern jemanden, der weiß, wie man mit Menschen umgeht: jemand, der weiß, wie man beim Ausländeramt so redet, dass die Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird, jemand, der einen blutrünstigen König mit Geschichten stillen kann. Shahrasa – das h in der Mitte wird ausgeatmet. Das s summt in den Ohren, summt das Gegenüber wach."
Sich überschneidende Paralleluniversen
Sprung in das andere der beiden sich zum Teil überschneidenden Paralleluniversen von "Im Bauch der Königin": Dort erzählt Raffiq, hier gibt es kleine Verschiebungen mit großer Wirkung. In Amals Version ist Raffiq einer, gegen den Younes und sie sich wehren müssen. In Raffiqs Welt ist der traurige Younes sein bester Freund, nicht der von Amal, und Amal ist Raffiqs Freundin, ein anschmiegsames, strebsames Mädchen mit Plänen für die Zeit nach dem Abi.
"Ich schleiche mich an Amal heran und umarme sie von hinten, sie ist ganz warm vom Tanzen und vom Feuer. Sie kichert, ist gut gelaunt, bald bist du in Chicago, sage ich ihr, und sie umarmt mich. Amal und ich passen so gut zueinander, dass man einen Schlüssel braucht, um uns aus unserer Umklammerung aufzuschließen. Am See hat niemand solch einen Schlüssel, und Amal erlaubt mir, sie überall anzufassen, und als es dunkel wird, suchen wir uns ein Plätzchen abseits der angetrunkenen und lachenden Meute, wir legen uns irgendwo auf die Wiese, und meine Hände sind unsichtbar, und ich darf sie berühren. ,Es ist fast traurig, dass wir uns trennen, wir passen so gut zueinander', sagt sie."
Hier geht es nicht nur um eine alternative Sichtweise auf ein und dieselbe Geschichte. Raffiq hat nicht einfach ein anderes Bild von Amal, sie ist in seiner Erzählung tatsächlich jemand anders als in ihrer eigenen. Die beiden Welten verhalten sich zueinander wie das "Upside Down" zur normalen Welt in der Serie "Stranger Things" – so hat Karosh Taha es in einem Interview beschrieben. Ganz anders, aber auch ähnlich, und, ja, auch ein bisschen unheimlich. Amal, Raffiq und Younes existieren in gegensätzlichen Beziehungsgeflechten. Aber die drei – und alle ihre Inkarnationen - sitzen zusammen in einer Zwischenwelt, in der Übergangsphase nach der Schule.
Auch ein Jugendroman
"Im Bauch der Königin" ist auch ein Jugendroman, obwohl der Verlag ihm dieses Etikett nicht angeklebt hat. Die Jugendlichen müssen herausfinden, wer sie sind und wohin sie gehören. Younes hadert damit, der "Hurensohn" zu sein und scheinbar keinen Vater zu haben. Auch die Väter von Amal und Raffiq sind abwesend. In der einen Version leidet Raffiqs Vater darunter, dass er in Deutschland nur Kisten stapeln darf, weil seine Qualifikation als Architekt hier nicht anerkannt wird. In der anderen ist es Amals Vater, der eigentlich Architekt ist und der schließlich Frau und Kinder verlässt, um in Kurdistan wieder in seinem Beruf zu arbeiten und Wohlstand und Anerkennung zu erreichen. Ist das auch eine Option für Amal, Raffiq und Younes? Zurückzugehen zu den Vätern oder ins Land der Väter?
",Ich hasse ihn', sagt Younes. Zum ersten Mal höre ich ihn diesen Satz sagen. ,Ich wünschte, es hätte ihn nicht gegeben.' Younes spricht diesen Satz aus und ist erleichtert. Er setzt seinen Vater von seinem Rücken ab und wir gehen weiter. Es gibt seinen Vater nicht, nicht jetzt, nicht damals, nicht in Younes' Gesicht. Shahira hat Younes erschaffen. Sie musste nur alle glauben lassen, sie hätte einen Mann gebraucht, aber er wuchs in ihrem Bauch auf, weil sie sich so sehr einen Sohn wünschte, und sie nannte ihn Younes."
"Deutsche Sheherazade"
Karosh Taha greift in ihrem zweiten Roman ähnliche Motive auf wie schon in ihrem Debüt "Beschreibung einer Krabbenwanderung", das 2018 für viel Aufsehen sorgte und Preise gewann: Frauen und ihren Kampf um sexuelle Selbstbestimmung. Die Zerrissenheit der Kinder von Einwandererfamilien. Wie sich diese Familien in der Nachbarschaft von den Balkonen der Hochhäuser herab gegenseitig beobachten und belauern wie in einer Art gestapeltem Dorf. Und ein weiteres Thema von Taha ist die Kränkung gebildeter und gut ausgebildeter Menschen, die in ihrer neuen Heimat ihre Berufe nicht ausüben können oder dürfen, weil sich die deutsche Sprache gegen sie verschworen hat – während ihre Kinder sich darin längst mehr zuhause fühlen als in der Sprache der Eltern. Lauter Zwischenwelten.
"Younes grinst Raffiq an, grinst über diesen tollen Scherz, über das Zucken und über Gott, der ihn vor aller Augen wachsen ließ, und verabschiedet sich von Raffiq mit einem tollen Grinsen und schreitet zu mir, befreit die Hände von den Handschuhen, wirft sie auf die Bank und sagt nur: Wollen wir? Eine der schönsten Fragen auf Deutsch: Wollen wir?"
Karosh Taha, 1987 in Kurdistan geboren, aufgewachsen im Ruhrgebiet, schreibt auf Deutsch und verwahrt sich dagegen, wenn ihr Erzählstil "orientalisch" genannt wird. Sicher wird es nicht mehr lange dauern, bis sie als "deutsche Sheherazade" bezeichnet wird. Wahrscheinlich wird sie das nicht mögen. Aber nach diesem hypnotischen, vieldeutigen, ebenso märchenhaft wie knallhart erzählten zweiten Roman hätte so ein Titel durchaus seine Berechtigung.
Karosh Taha: "Im Bauch der Königin"
DuMont Buchverlag, Köln. 250 Seiten, 22 Euro.