Silvia Engels: Der abgesetzte Regierungschef von Katalonien Puigdemont hat gestern in Brüssel erklärt, er wolle in Belgien kein politisches Asyl beantragen, gleichwohl will er offenbar die nächste Zeit dort verbringen. Und das könnte nun Belgien in gewisse diplomatische Verwicklungen bringen. Karl-Heinz Lambertz von der Sozialistischen Partei in Belgien war über viele Jahre Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, sie ist im Osten des Landes zu Hause, rund um die Region Eupen. Jetzt ist er Senator des Belgischen Bundesrats und nun am Telefon, guten Morgen, Herr Lambertz!
Karl-Heinz Lambertz: Guten Morgen!
Engels: Drohen denn jetzt diplomatische Spannungen im spanisch-belgischen Verhältnis?
Rechtsordnung respektieren
Lambertz: Da kann es durchaus einige Spannungen geben. Die hat es ja schon gegeben, weil der belgische Premierminister vor Kurzem den Einsatz von Polizei und von stärkeren Mitteln in Katalonien kritisierte. Jetzt haben wir eine neue Situation, die wir aber, denke ich, doch mit sehr viel Gelassenheit sehen müssen. Wir haben jetzt, glaube ich, doch gesehen, dass sich in Katalonien die Lage hin zu einer Vorbereitung der nächsten Wahl hinbewegt, und das ist vor allem, denke ich, sehr wichtig. Was jetzt mit den gerichtlichen Vorgehensweisen alles noch geschieht, werden wir abwarten müssen. Da glaube ich, dass man ganz einfach die bestehenden internationalen Verträge und die Rechtsordnung zu respektieren hat.
Engels: Sie sprechen das Gerichtliche an. In Spanien wird Anklage erhoben, das könnte ja in einigen Schritten auch zu einem internationalen Haftbefehl führen. Sollte Belgien, wenn es aufgefordert wird, Herrn Puigdemont verhaften?
An einen Tisch setzen
Lambertz: Diese Frage könnte sich durchaus stellen. Und dann schließe ich natürlich nicht aus, dass es einige Verwicklungen gibt. Denn wir sind ja hier doch in einer Situation, wo es im Wesentlichen darum geht, ein Problem politisch zu lösen. Der Einsatz der Staatsgewalt, das gerichtliche Verfolgen, das sind alles Nebenkriegsschauplätze aus meiner Sicht. Wichtig wäre, dass es so schnell wie möglich dazu kommt, dass in Katalonien sich mit den Spaniern zusammen an einen Tisch gesetzt wird und dass man über die politische Lösung des Problems wirklich seriös verhandelt.
Engels: Das ist die Ebene in Katalonien selbst. Dann blicken wir noch einmal auf die belgische Regierung, denn auch das ist ja eine Koalitionsregierung. Da sitzt beispielsweise Theo Francken, er ist Staatssekretär für Asyl und Migration, gehört der nationalistisch-flämischen Partei an. Er war es, der ja Asyl für Katalanen in Belgien ins Spiel gebracht hat. Der Ministerpräsident hat sich davon deutlich abgegrenzt, kann auch so etwas jetzt aber eine Regierungskrise in Belgien werden?
Kein Asylantrag
Lambertz: Ja, es könnte zu Spannungen führen. Es ist ja bekannt, dass die flämische Partei N-VA sehr viele Sympathien für die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien hat, und das nicht erst seit gestern. Aber hier müssen wir uns natürlich wiederum auf die Rechtsordnung beziehen. Entscheidend wäre ja im Fall eines Asylantrags, ob die Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Und das ist ja dann eine doch sehr juristische Sache und da bin ich mir persönlich nicht so sicher, ob die Bedingungen, um Asyl zu erteilen, in der jetzigen Situation wirklich vorhanden sind. Herr Puigdemont hat ja auch gestern sehr deutlich gesagt, dass er kein Asyl beantragen wird.
Engels: Dann schauen wir trotzdem einmal weiter auf die Situation in Belgien. Nehmen Sie denn derzeit die Atmosphäre zwischen den Wallonen und den Flamen so wahr, dass im Moment vielleicht auch wieder ein Anlass gesucht wird, über Separatismus nachzudenken, jetzt vielleicht durch Katalonien? Oder ist es eigentlich eine ruhige Situation, wo Herr Puigdemont auch nicht viel bewirken kann?
Ein hochgeschaukelter Konflikt
Lambertz: Mein Eindruck ist eigentlich genau in eine andere Richtung. Ich glaube, dass man gerade in Belgien, wo es Spannungen immer wieder mal gibt, jetzt in den letzten Wochen und Monaten doch erlebt hat, dass viele sagen: So, wie die Dinge in Spanien laufen, wollen wir das nicht. Hier in Belgien haben wir uns daran gewöhnt, bei Spannungen Verhandlungen zu führen und nach Kompromissen zu suchen. Und das wäre etwas, was vielleicht auch in Spanien durchaus interessant wäre und zu einer ganz anderen Entwicklung geführt hätte, wenn man von Anfang an auf diese Karte und nicht auf eine Karte gesetzt hätte, wo es letztlich zum Hochschaukeln des Konfliktes gekommen ist, mit den Folgen, die wir ja jetzt kennen. Aber die Hoffnung bleibt, dass doch jetzt durch diese Wahlen die Sache sich etwas stabilisiert. Für Belgien selbst sehe ich von der Stimmung in der Bevölkerung her eher einen konsolidierenden Aspekt, nach dem Motto: So wollen wir das nicht. Wie sich aber jetzt die N-VA doch verhält und wie sie auch mit den etwas voreiligen Aussagen des Staatssekretärs zum Asyl da klarkommt, das ist eine andere Frage, aber das wäre dann etwas, was mehr innenpolitische Spannungen bringt, aber nicht in die Richtung zeigt, wir wollen jetzt hier ein zweites Katalonien.
Engels: Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens ist ja der kleinste Teil der Bevölkerungsgruppe in Belgien. Wie wird denn dieser Konflikt dort gesehen?
Autonomien innerhalb des Staatsgefüges verbessern
Lambertz: Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist seit eh und je eine Gemeinschaft, die ihren Verbleib im belgischen Staat als Voraussetzung für ihre hochrangige Autonomie sieht. Wir sind nicht der Meinung, dass Katalonien da den richtigen Weg gegangen ist. Das sieht übrigens auch die Mehrheit der europäischen Regionen so. Ich bin ja selbst Vorsitzender des Ausschusses der Regionen in der Europäischen Union. Wir hatten dort am 10. Oktober eine sehr interessante Debatte zum Thema Katalonien. Die 300 Regionen in Europa und auch die 74 Regionen mit Gesetzgebungshoheit träumen in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht davon, morgen alles unabhängige Staaten zu sein. Sie wollen ihre Autonomien verbessern, aber das jeweils innerhalb des Staatsgefüges, in dem sie bestehen.
Engels: Sie haben es angesprochen, Sie selber nehmen eine Funktion auf europäischer Ebene wahr. Kann den in irgendeiner Form eine europäische Institution vielleicht doch vermitteln in diesem Konflikt, der ja in Spanien nach wie vor nicht gelöst ist?
Vermittlung, wenn beide Parteien diese beantragen
Lambertz: Diese Frage ist mir sehr oft gestellt worden und war auch Gegenstand unserer Debatte, die wir da in Anwesenheit von Herrn Tusk geführt hatten übrigens. Vermittlung ist ab dem Augenblick erst ein Thema, wenn beide Parteien diese beantragen. Das ist ja im vorliegenden Fall ausdrücklich nicht der Fall. Aus europäischer Sicht habe ich immer gesagt: Das Thema muss in Spanien gelöst werden. Aber es ist auch so, dass das zusammengewachsene Europa sich nicht hinstellen kann und wegschaut und sagt, das ist eine Angelegenheit, die wir nicht wahrnehmen wollen. Nein, wenn es irgendwo in einer europäischen Region kriselt, dann hat das mittel- oder unmittelbar Auswirkung auf das Gesamte. Und insbesondere für die Positionierung der Regionen in Europa.
Engels: Aber für die Katalanen – und der Teil derjenigen, die Unabhängigkeit anstreben, ist nach wie vor sehr groß – ist das ja unbefriedigend, dass Europa dann doch so wenig bereit ist, ihre Position zu hören. Haben Sie aus belgischer Sicht noch einen Tipp, was da helfen könnte?
Zwei Grundsätze
Lambertz: Der einzige Tipp, den ich immer wieder formulieren könnte und auch will, ist: An den Tisch, verhandeln und nach Kompromissen suchen! So lassen sich solche Probleme lösen. Und ich glaube, dass wir in der Situation, in der wir uns in der Europäischen Union mittlerweile befinden, zwei Grundsätze haben: Erstens, Autonomiefragen sollten durch innerstaatliche Verhandlungen und gegebenenfalls auch durch Veränderungen der Rechtslage herbeigeführt werden; und zweitens, der Einsatz von staatlicher Gewalt in einem Kontext, wo es um die Frage von staatlicher Organisation geht, ist etwas, was nicht zur Lösung, sondern eher zur Eskalation beiträgt und auch vom Verhältnismäßigkeitsprinzip her meines Erachtens doch problematisch ist.
Engels: Karl-Heinz Lambertz war das, er gehört der Sozialistischen Partei in Belgien an und er war jahrelang Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Vielen Dank für die Einordnungen heute früh!
Lambertz: Auf Wiederhören!
Engels: Auf Wiederhören, Herr Lambertz!
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