Jörg Münchenberg: In den letzten Tagen, ja Stunden haben sich die Ereignisse in Katalonien förmlich überschlagen. Hoffnungen, dass es doch noch einen Kompromiss zwischen Separatisten und Madrid geben könnte, haben sich spätestens gestern aber in Luft aufgelöst, nachdem Regionalpräsident Puigdemont die Ausrufung von Neuwahlen abgelehnt hatte. Jetzt ist wiederum der spanische Senat am Zug. Es geht um die Absegnung der Zwangsmaßnahmen, was faktisch eine Entmachtung und Absetzung der Regionalregierung bedeutet.
Zugehört hat Matthias W. Birkwald. Er ist Abgeordneter der Linken im Bundestag und gleichzeitig Mitglied der deutsch-spanischen Parlamentariergruppe. Herr Birkwald, ich grüße Sie.
Matthias W. Birkwald: Schönen guten Tag, Herr Münchenberg.
"Mache mir sehr große Sorgen"
Münchenberg: Herr Birkwald, wie gefährlich schätzen Sie die Lage ein, wenn der spanische Senat heute die Zwangsmaßnahmen beschließen wird und gleichzeitig das Regionalparlament dann auch noch die Unabhängigkeit erklären sollte?
Birkwald: Dann schätze ich die Lage als äußerst gefährlich ein. Wenn der Artikel 155, also der Bundeszwang verabschiedet werden würde, dann wären sämtliche rote Linien überschritten. Und wenn dann gleichzeitig auch noch das Regionalparlament in Katalonien die Unabhängigkeit erklärt, dann mache ich mir sehr große Sorgen und befürchte auch gewalttätige Auseinandersetzungen. Deswegen muss das Gebot der Stunde sein: die Rückkehr der Vernunft.
Ich will vorneweg einmal deutlich sagen: Ich bin gegen Separatismus und auch gegen Nationalismus. Das ist keine Lösung. Ich bin auch kein Freund davon, dass es jetzt eine Sezession gibt in Spanien. Aber die spanische Zentralregierung und vor allen Dingen Ministerpräsident Rajoy hat in dieser Auseinandersetzung so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, und deswegen ist es jetzt notwendig, jetzt, sofort und aktuell, dass von dritter Seite eingegriffen wird.
Münchenberg: Aber da zeichnet sich ja keine Lösung ab. Die EU hat schon gesagt, wir sind da nicht zuständig. Die Rechtslage ist eindeutig: Das ist ein innerspanisches Problem. Es gibt ja auch das Urteil des Verfassungsgerichts in Spanien. Auch das hat gesagt, die Abstimmung sei nicht rechtskonform gewesen. Insofern liegt doch auch ein großer Teil der Verantwortung bei den Separatisten.
Birkwald: Was die Rechtsförmigkeit des Referendums angeht, stimmt das sicher. Man weiß überhaupt nicht, wer genau abstimmen durfte und wer nicht. Es gab keine Wähler- und Wählerinnen-Listen. Das ist sicherlich richtig.
Trotzdem muss die EU auch zur Kenntnis nehmen, dass Katalonien ein Land ist, eine Region ist mit der Fläche von Belgien. Da leben 7,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, und das sind mehr als elf EU-Staaten an Einwohnerinnen und Einwohner haben. In Katalonien leben mehr Menschen als in Bulgarien, in Dänemark, in Finnland, in Griechenland und so weiter. Da scheint es mir notwendig zu sein, wenn die Europäische Union nicht in der Folge noch größere Probleme bekommen will, dort einzugreifen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, sofort eine Initiative zu starten, dass Europa, eine europäische Institution (welche, ist mir dann, ehrlich gesagt, auch egal) ein Vermittlungsangebot macht, damit es zu einem echten Dialog kommt. Und der Dialog ist ja zumindest von der einen Seite auch gewünscht.
Deeskalation dringend nötig
Münchenberg: Auf der anderen Seite hat Puigdemont ja gestern Neuwahlen abgelehnt. Das wäre ja möglicherweise eine Form gewesen, aus diesem Konflikt rauszukommen.
Mir geht es noch mal darum: Man hat inzwischen auch den Eindruck, dass dieser Konflikt sich inzwischen so verselbständigt hat, weil es auch immer darum geht, dass jede Seite ihr Gesicht wahren kann, was ja dann einen Kompromiss fast unmöglich macht.
Birkwald: Ja! Aber die Gesichtswahrung ist natürlich notwendig. Und wenn es jetzt von Seiten Rajoys das Angebot gäbe, über Unabhängigkeit zu verhandeln - das heißt ja noch nicht, dass er damit einverstanden wäre -, und es im Rahmen dieser Verhandlungen dann zu deutlichen Angeboten der spanischen Zentralregierung käme, hinsichtlich verbesserter autonomer Rechte. Denn das muss man immer wieder sagen: Es gab ja mal ein besseres Autonomiestatut aus dem Jahr 2006, was über das Verfassungsgericht dann gekippt worden ist, und das hatte Rajoy initiiert im Jahr 2010. - Es braucht also deutlich bessere Angebote und ich gehe davon aus, wenn es dann ein legales Referendum gibt, mit einem entsprechenden demokratischen und friedlichen Wahlkampf zuvor, dass eine große Mehrheit der katalanischen Bevölkerung dann nicht für die Unabhängigkeit stimmen würde.
Das wäre ein Weg hin zu einer Lösung und dazu gehört natürlich auch, dass die Zentralregierung nicht jede fortschrittliche Initiative der Regionalregierung konterkariert. Es gab ja Ansätze, Energiearmut zu bekämpfen, Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit wurden vorgeschlagen, große Vermögen sollten besteuert werden. Alle diese Initiativen sind vom Verfassungsgericht, was Rajoy angerufen hatte, dann gekippt worden, und so gibt es im Moment mehr Eskalation als Deeskalation, und Letztere ist dringend nötig.
Erzwungene Neuwahlen keine Lösung
Münchenberg: Auf der anderen Seite hat man auch den Eindruck, dass der Regionalregierung eigentlich ziemlich egal ist, was vor Ort passiert. Immer mehr Unternehmen verlegen ja ihren Sitz in das spanische Mutterland sozusagen. Die wirtschaftlichen Folgen könnten dramatisch sein. Das kann doch eigentlich der zuständigen Regionalregierung nicht egal sein?
Birkwald: Das darf ihr nicht egal sein. Mittlerweile sind es 1500 Unternehmen, die ihren Firmensitz verlegt haben, und es werden täglich mehr. Ich gehe auch davon aus, wenn es zu der Abspaltung käme, dass der bisherige wirtschaftliche Erfolg der Region Katalonien dann perdu wäre. Deswegen sage ich ja deutlich, wir brauchen eine Lösung dazwischen. Weder darf der Artikel 155 angewendet werden, das würde zu Gewalt führen. Das würde zu Loyalitätskonflikten führen. Sie haben mit Ihrem Gesprächspartner eben darüber gesprochen. Das darf nicht sein. Und auf der anderen Seite darf es jetzt auch noch keine Unabhängigkeitserklärung geben.
Wenn wir aus der Nummer, wenn ich das mal so salopp formulieren darf, friedlich rauskommen wollen, dann muss ein Mediator jetzt mit einem Dialog mit beiden Seiten beginnen, und das Ergebnis kann aus meiner Sicht nur sein ein deutlich besseres Autonomiestatut und Respekt, Demokratie und Dialog. Alles andere führt nicht zu einer Lösung, meines Erachtens.
Münchenberg: Das heißt aber jetzt auch, was sich hier abzeichnet, dass Madrid Neuwahlen verordnen wird, das wird letztlich auch keinen Weg aus der Krise weisen?
Birkwald: Aus meiner Sicht nicht, weil in dieser verhärteten Situation werden zwei Seiten davon gewinnen. Alle Positionen in der Mitte, ist meine Erwartung, werden verlieren. Es wird in Katalonien mehr Menschen geben, die auf den Druck aus Madrid reagieren und sich dann auf die Seite derer schlagen, die die Unabhängigkeit wollen. Und auf der anderen Seite wird es Verhärtung geben, und deswegen bin ich auch nicht sicher, dass Neuwahlen, die aufoktroyiert sind, jetzt die Lösung wären.
Einen wichtigen Punkt will ich noch nennen.
Münchenberg: Bitte.
Birkwald: Herr Puigdemont hat immer wieder beispielsweise in seinem Brief vom 16. Oktober gesagt, dass er zu einem ernsthaften Dialog bereit ist und ein ernsthaftes Angebot zu einem Dialog gemacht hat. Die Reaktion von Herrn Rajoy war die Vorladung in den Senat oder in Ausschüsse des Parlaments und kein Gespräch zwischen dem Präsidenten der Autonomieregion und Herrn Rajoy selber. Das wäre aber notwendig, dass man nicht vorgeführt wird, sondern Sie haben es eben gesagt, dass beide Seiten auch ihr Gesicht wahren können, einen Dialog auf Augenhöhe. Deswegen ist es wichtig, dass wir ein legales Referendum bekämen, was auch kontrolliert werden würde, an dessen Ende dann eine bessere Autonomie stünde.
Münchenberg: ... sagt Matthias W. Birkwald von der deutsch-spanischen Parlamentariergruppe. Herr Birkwald, vielen Dank für das Gespräch.
Birkwald: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.