Archiv

Fußball-WM in Katar
Wie viele Gastarbeiter starben in Katar?

Wie viele Gastarbeiter sind für die Fußball-WM in Katar gestorben? Diese Frage wird angesichts der Arbeitsbedingungen im Gastgeberland seit Jahren gestellt. Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Sie reichen von drei bis 15.000 Toten.

Von Maximilian Rieger |
Ein Gastarbeiter bringt an einer Straße vor dem Khalifa-Stadion in der katarischen Hauptstadt Doha einen Bordstein an.
Die Todesfälle bei den Gastarbeitern für die Fußball-WM in Katar stehen im Zentrum der Kritik am Wüstenemirat. Doch es gibt extreme Unterschiede bei der Zahl der toten Arbeiter. Sind es drei, 6500 oder gar 15.000? (dpa / picture alliance / Andreas Gebert )
Rund zwei Millionen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter leben in Katar. Jeden Monat reisen Tausende Menschen, vor allem aus Südostasien, zur Arbeit in den Mittleren Osten. Dort sind die Löhne vergleichsweise hoch und versprechen in einigen Jahren ein besseres Leben in der Heimat. Doch manche von ihnen kehren nie mehr lebendig zurück und die Hinterbliebenen müssen um ihre Entschädigung kämpfen.
Zu Hochzeiten haben in den vergangenen Jahren 800.000 Menschen in Katar im Baugewerbe gearbeitet und Straßen, Hotels und andere Infrastruktur gebaut, die auch für die WM genutzt wird. Bis zu 30.000 Gastarbeiter haben an den WM-Stadien gebaut.
Seit Jahren gibt Diskussionen darüber, wie viele Menschen auf diesen Baustellen gestorben sind. Die Bandbreite der diskutierten Zahlen ist groß. Wir geben einen Überblick darüber, warum das so ist.
Das Organisationskomitee kritisiert eine demnach undifferenzierte und verkürzte Darstellung der Todesfälle. Selbst spricht das Organisationskomitee auf den Stadionbaustellen im WM-Gastgeberland von drei gestorbenen Menschen bei Unfällen während der Arbeitszeit im vergangenen Jahr.
Zudem seien 37 weitere Todesfälle registriert worden. Diese Arbeiter seien jedoch nicht während ihrer Tätigkeit auf den Baustellen gestorben. Das Organisationskomitee stuft diese Fälle deshalb als "Non-Work-Related Deaths" ein, d.h. als Todesfälle, die nicht unmittelbar mit der Arbeit zu tun hätten.

Welche Zahlen sind im Umlauf? 

3 getötete Gastarbeiter
Die Zahl, die die FIFA bzw. FIFA-Präsident Gianni Infantino öffentlich mitteilt. Infantino bezieht sich hierbei auf die Arbeiter, die laut dem katarischen WM-Organisationskomitee bei Arbeitsunfällen auf den WM-Baustellen gestorben sind, also vor allem beim Bau der Stadien. 2016 wird ein Arbeiter am Al Wakrah Stadion von einem LKW überrollt. Im gleichen Stadion stürzt 2018 ein Gerüstbauer in die Tiefe, weil ein Gitter nachgibt. Ein ähnlicher Unfall passiert ein Jahr zuvor im Khalifa International Stadion – der Arena, in der die deutsche Nationalmannschaft ihr erstes Spiel absolvieren wird.
3 + 37 getötete Gastarbeiter
Die Zahl, die das katarische WM-Organisationskomitee benutzt und in seinen jährlichen Reports seit 2014 berichtet hat. Zu den Arbeitsunfällen kommen 37 Menschen, die auf WM-Baustellen gearbeitet haben, deren Tod aber nicht als Arbeitsunfall deklariert wird. Laut Definition der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ist es korrekt, dass sie als "Non-Work-Related Deaths" gewertet werden. Ein genauer Blick zeigt aber, dass einige der Arbeiter sehr wohl während der Arbeit gestorben sind. Ein Beispiel:
Vor einem Jahr fühlt sich ein pakistanischer Baggerfahrer während der Arbeit am Finalstadion in Lusail unwohl. Er steigt aus seinem Fahrzeug aus – und kollabiert. Wiederbelebungsversuche vor Ort scheitern. Als Todesursache benennt das Organisationskomitee: Herzversagen aufgrund von natürlichen Ursachen.
Auch zehn andere Gastarbeiter kollabieren laut den Berichten des WM-Komitees entweder während ihrer Schicht oder kurz nach ihrer Rückkehr in ihr Zimmer.
In 18 weiteren Fällen erleiden die Gastarbeiter im Schlaf tödliche Atem- oder Herzprobleme. In manchen dieser Fälle kann das Organisationskomitee spezifische Erkrankungen als Grund nennen. Häufig wird aber als Todesursache einfach nur „akuter Atemstillstand“ oder „Herzversagen“ angegeben. 14 von diesen Toten waren jünger als 40 Jahre.
6.500 getötete Gastarbeiter
Die Zahl, die die britische Zeitung "The Guardian" im Februar 2021 veröffentlicht hat. Bei der Recherche ging es darum, wie viele Gastarbeiter aus fünf südostasiatischen Ländern zwischen 2010 und 2020 in Katar gestorben sind. Schnell wurde die Zahl fälschlicherweise ganz allgemein zu "WM-Toten". Dabei schrieb der Guardian, dass weder die Jobs noch die Arbeitgeber der Gastarbeiter bekannt sind. Und auch, wenn der Guardian kurz darauf die Überschrift ändert – der Eindruck von 6.500 verstorbenen WM-Arbeitern ist vielen im Kopf hängen geblieben.
15.000 getötete Gastarbeiter
Laut Statistiken aus Katar sind mehr als 15.000 Menschen nicht-katarischer Staatsangehörigkeit seit der WM-Vergabe 2010 bis zum Jahr 2020 gestorben. Auf diese Statistik hat sich zum Beispiel auch Amnesty International in einem Bericht aus dem Jahr 2021 bezogen, weißt dabei aber korrekterweise darauf hin, dass in dieser Zahl alle verstorbenen Ausländer inkludiert sind. Wieviele der Opfer im Zusammenhang mit WM-Projekten stehen, wird nicht veröffentlicht.

Warum ist es so schwer, verlässliche Zahlen zu erheben?

Jahrelang hat Katar zu den Todesfällen und Todesursachen keine brauchbaren Daten erhoben oder veröffentlicht. Auch die Heimatländer der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter haben häufig wenig Anreiz, etwas an dem bestehenden System zu ändern. Die Geldrücksendungen der Gastarbeiter aus Katar machen z.B. für Nepal einen wichtigen Teil des Bruttoinlandsprodukts aus.
Laut Amnesty International zeigen Unterlagen, dass bei 71 Prozent der toten Gastarbeiter aus Bangladesch zwischen 2016 und 2020 einfach „natürlicher Tod“ als Todesursache eingetragen wurde, obwohl Katar die Ressourcen hätte, genauer zu ergründen, warum die Herzen von Arbeitern, die oft keine 40 Jahre alt sind, stehen bleiben. Das fordert auch Max Tunon, der Büro-Leiter der ILO in Katar:

"Ich glaube, ein Grund, warum sich die Zahl von 6.500 Toten so in den Köpfen festgesetzt hat, ist, weil die Regierung es nicht schafft, eine Zahl anzugeben von Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit gestorben sind." Laut Tunon gibt es in Katar drei Ministerien, die auf unterschiedliche Weise Daten zu den Gastarbeitern sammeln. Erst durch den internationalen Druck gebe es langsam Bestrebungen, mehr Transparenz zu schaffen.

Die ILO hat zum Beispiel 2021 zum ersten Mal einen Bericht veröffentlicht, in dem versucht wurde, die Zahl der Arbeitsunfälle in Katar zu erfassen. Laut dem Report wurden durch Arbeitsunfälle 50 Menschen getötet und 506 verletzt. Auch hier sind Tote durch mögliche Folgen von Überhitzung nicht eingepreist.

Welche Rolle spielt die Hitze?

Die Temperaturen erreichen in Katar häufig mehr als 35 Grad, dazu ist es oft schwül. Eine Studie von einem internationalen Forschungsteam über nepalesische Gastarbeiter in Katar zeigt, dass die Gefahr, an Herzversagen zu sterben, signifikant steigt, wenn die Arbeiter großer Hitze ausgesetzt sind.
Die Studie hat dafür die Todesfälle von 1.300 nepalesischen Gastarbeitern zwischen 2009 und 2017 untersucht. 42 Prozent von ihnen seien an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben, wobei die genaue Ursache dafür unklar blieb. Die meisten von diesen Menschen starben aber während der heißen Sommermonate.
Belastbare Zahlen sind aber rar und auch sonst gibt es wenig andere Studien.
"Wir glauben, dass es mehr Untersuchungen geben sollte – sowohl Gesundheitschecks als auch Inspektionen auf Baustellen", sagt ILO-Büroleiter Max Tunon. "Eine Autopsie kann nämlich manchmal nur begrenzt aussagekräftig sein, ob ein Tod mit der Arbeit zusammenhängt. Aber wenn man zur Arbeitsstelle geht und sieht: Der Arbeitgeber verstößt klar gegen die Hitzeschutz-Gesetze und andere Arbeiter zeigen auch Hitzestress – dann kann man sagen, der Arbeitgeber handelt fahrlässig."
Als ein Teil der Arbeiter-Reformen hat Katar in den vergangenen Jahren auch einen verstärkten Hitzeschutz eingeführt: Zwischen dem 1. Juni und dem 15. September darf zwischen 10 - 15:30 Uhr nicht draußen gearbeitet werden. Wie auch bei anderen Reformen kommt es aber auch dagegen zu Verstößen.

Welche Entschädigung gibt es für die Angehörigen?

Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch hatten die Forderung erhoben, einen Fonds in Höhe von 440 Millionen Dollar für die Arbeitnehmer einzurichten, die während eines Einsatzes auf WM-Baustellen getötet oder verletzt worden.
Doch die Regierung des WM-Gastgebers Katar lehnt die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für verletzte oder verstorbene Wanderarbeiter entschieden ab. 
Es gibt vom Organisationskomitee (OK) auch die Aufforderung an die Unternehmen, eine Lebensversicherung abzuschließen. 23 Unternehmen haben das getan. Ein häufiges Problem für die Angehörigen ist aber: Wenn der Unfall nicht als Arbeitsunfall deklariert wird, ist es schwer, Entschädigung zu bekommen.
„Diese Herzinfarkte werden als „nicht arbeitsbezogen“ kategorisiert oder als natürliche Todesursache. Aber wenn das passiert, gibt es kein Recht auf Entschädigung. Und die meisten Todesfälle wurden als natürlich gelistet", sagt Minky Worden von Human Rights Watch.
Wie schwer es ist, eine Entschädigung zu erhalten, zeigt das Beispiele einer Witwe, deren 27-Jahre alter Mann auf einer WM-Baustelle an Herzversagen starb. Da er nicht bei einem Arbeitsunfall gestorben sei, habe die Nepalesin kein Recht auf Entschädigung, hatte der Arbeitgeber zunächst mitgeteilt. Dann zahlte die Firma doch: 1.500 Riyal, umgerechnet etwas mehr als 400 Euro.
Später, nachdem das WM-Organisationskomitee interveniert hatte, seien noch weitere 7.000 Riyal (1914 Euro) dazugekommen, erzählt sie der DPA. Von nepalesischer Seite gab es schließlich noch 700.000 Rupien (5.588 Euro) aus einem Fonds für Arbeiterinnen und Arbeiter im Ausland und 1,5 Millionen Rupien (11.745 Euro) für eine Lebensversicherung.