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Katarina Barley (SPD) zum Brexit
"Die britische Mentalität wird uns fehlen"

Mit Großbritannien verliere die EU einen ganz wichtigen Mitgliedsstaat, sagte die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley im Dlf. "Die haben dem Parlament einfach gut getan." Mit dem Austritt werden auch zehn Milliarden Euro an Beiträgen fehlen. Dafür müsse man Lösungen finden.

Katarina Barley im Gespräch mit Philipp May |
Katarina Barley (SPD), Bundesfamilienministerin, spricht im Bundestag zur Debatte zum Weltfrauentag.
"Wir verlieren einen ganz wichtigen Mitgliedsstaat", sagte die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley im Dlf (Kay Nietfeld/dpa )
Es war ein emotionaler Abschied: Am Mittwoch (29.01.2020) lagen sich die Europaabgeordnete in den Armen und sangen "Nehmt Abschied, Brüder", als am Abend der Austritt Großbritanniens offiziell besiegelt wurde. Einige trugen blau-rote Schals mit Europafahne, der britischen Flagge Union Jack und der Aufschrift "Für immer zusammen". Auch für die Vizepräsidentin des Europaparlaments, die SPD-Politikerin Katarina Barley, war es ein emotionaler Abschied. Sie ist sowohl deutsche als auch britische Staatsbürgerin. Wir sprachen mit Katarina Barley über Abschied, britischen Humor und darüber wie es nun weitergeht.
Philipp May: Wie geht es Ihnen jetzt?
Katarina Barley: Nicht gut. Es war tatsächlich eine lange Nacht mit den britischen Kolleginnen und Kollegen. Es war ein sehr trauriger Tag. Wir haben auch noch den Holocaust-Gedenktag an demselben Tag begangen. Es waren zwei wirklich emotionale Tagesordnungspunkte, wenn man es technisch betrachten will. Das war schon ein bisschen viel auf einmal.
Das Symbolfoto zum Brexit zeigt die Flaggen der EU und Großbritanniens übereinander.
Der Brexit und seine Auswirkungen
Nach 47 Jahren Mitgliedschaft und vier Jahre nach dem Referendum verlässt Großbritannien am 31. Januar die Europäische Union. Doch auch danach wird es noch einiges zu klären geben.
Last Order im Europaparlament
Wenn Großbritannien aus der Europäischen Union austritt, verlieren auch die britischen EU-Abgeordneten ihr Mandat. Darüber diskutieren Dlf-Korrespondent Peter Kapern, David McAllister (CDU), Axel Thill, Ex-Kandidat Brexit-Partei, Irina von Wiese (Liberal Democrats).
May: Was verliert denn jetzt das EU-Parlament aus Ihrer Sicht?
Barley: Wir verlieren einen ganz wichtigen Mitgliedsstaat. Großbritannien ist ein Land, was eine lange demokratische Tradition hat, was liberal im besten Sinne ist. Die Menschen dort haben einfach auch als Politikerinnen und Politiker eine Gelassenheit, einen Pragmatismus, diese Ironie, dieser berühmte britische Humor. Die haben dem Parlament einfach gut getan. – Wir verlieren schon eine ganze Menge.
"Die britische Gesellschaft ist tief gespalten"
May: Aber hin und wieder ist der britische Politiker als solcher ja auch mal destruktiv. Ich denke an Nigel Farage. Die Brexit-Gegner, die haben den Tag gestern regelrecht zelebriert. Da konnte man auch den Eindruck gewinnen, jetzt trennt sich da was, was nicht wirklich zusammengehört.
Barley: Die britische Gesellschaft ist tief gespalten. Bei der letzten Wahl, die Boris Johnson ja nach dem Mehrheitswahlrecht triumphal gewonnen hat, haben nach Prozenten mehr Menschen für Parteien gestimmt, die in der EU bleiben wollen. Das ist nicht so eindeutig, wie es manchmal scheint, und die Risse gehen tief durch die britische Gesellschaft. Das ist traurig. Aber es stimmt, dass es immer ein gespaltenes Verhältnis war. Die Insellage, auch die Geschichte Großbritanniens hat dazu geführt, dass es immer dieses Spannungsverhältnis eigentlich gab.
"Die britische Mentalität wird uns fehlen"
May: Durch den Austritt der Briten ändert sich ja auch konkret die Zusammensetzung des Parlaments. Die Grünen-Fraktion fällt beispielsweise hinter die Rechten zurück. Wird das die praktische Arbeit und möglicherweise auch die Beschlussfähigkeit innerhalb des Parlaments ändern?
Barley: Das ist eher symbolisch, die Größenordnungen zwischen den Fraktionen. In den meisten Fraktionen fallen einige weg, bei uns sind es zehn, andere kommen hinzu, weil etwa die Hälfte der Sitze neu besetzt wird. Andere bleiben frei für eventuelle spätere Beitritte. Es wird sich nicht so viel ändern in dem täglichen Geschäft. Aber diese britische Mentalität, die wird uns fehlen.
May: Wie blicken Sie denn ganz konkret in die Zukunft ohne Großbritannien?
Barley: Wir haben jetzt erst mal ein schwieriges Jahr vor uns. Wie dieses Austrittsabkommen verhandelt wird, das wird ja entscheidend dafür sein, wie die zukünftigen Verhältnisse zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich aussehen. Das wird ein ganz hartes Stück Arbeit. Und danach fehlen die Briten als Beitragszahler. Das muss man sagen. Zehn Milliarden im Jahr werden fehlen. Dafür müssen wir auch Lösungen finden.
Gelegenheit EU-Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen
May: Sollte Deutschland das übernehmen?
Barley: Das müssen alle Mitgliedsstaaten schultern, und ich finde, es ist auch eine gute Gelegenheit, dass die EU ihre Ausgaben auf den Prüfstand stellt. Wir geben etwa ein Drittel des Budgets für Agrarsubventionen aus, die derzeit immer noch ziemlich überwiegend nach dem Gießkannenprinzip ausgeschüttet werden. Das wäre zum Beispiel ein Bereich, wo man mal herangehen könnte.
May: Kommen wir noch mal auf den Brexit zurück. Sie haben schon angesprochen: Es liegt ein hartes Verhandlungsjahr vor Großbritannien und natürlich auch vor der EU, weil am 1. Januar 2021, dann folgt eigentlich der de facto Austritt. Bis dahin muss ein Handelsvertrag mit Großbritannien stehen. Eigentlich glaubt kein Experte, dass das in der kurzen Zeit zu schaffen ist. Sie auch nicht?
Barley: Ich auch nicht. Die Briten sind allerdings fest davon überzeugt. Wenn man mit den Offiziellen spricht – nach der Wahl sind sie noch überzeugter. Das sind dieselben Gesprächspartner, aber jetzt treten sie ganz anders auf. Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit, wie das funktionieren kann, nämlich indem sie möglichst viele der bereits bestehenden Regeln übernehmen. Dann ist das möglich, wenn man nur wenige Bereiche neu verhandeln muss. Das wollen wir aber gerade nicht. Mir fehlt noch jede Fantasie, wie das gehen soll. Es wird ja erst Anfang März richtig losgehen. Im Dezember brauchen wir noch Zeit fürs Ratifizieren. De facto sind das nur acht Monate, wenn überhaupt. Mir fehlt jede Fantasie, wie das gehen soll.
May: Das heißt, am Ende läuft es doch auf einen harten Brexit hinaus?
Barley: Das hoffe ich nicht. Am Ende wird vielleicht Johnson doch über seinen Schatten springen müssen und dann doch verlängern müssen. Er hat ein Gesetz durchgebracht, das ihn selbst daran hindert. Das hat innenpolitische Gründe, dass er noch mal so richtig den harten Hund rauskehren kann. Es hat natürlich auch die Wirkung gegenüber der EU, noch mal zu drohen, wir meinen es wirklich ernst. Aber wenn man sieht, dass es wirklich nicht funktioniert, dann kann man auch so ein Gesetz wieder ändern oder zurücknehmen.
Brexit-Partei will vollen Zugang zum Binnenmarkt
May: Es gibt ja so viele Knackpunkte: Personenfreizügigkeit, die Sozialstandards für Arbeitnehmer zum Beispiel. Das sind immer zwei Punkte, die genannt werden. Wo gibt es denn von Ihrer Seite aus Raum für Entgegenkommen?
Barley: Es gibt ganz viel Raum für Entgegenkommen, weil alles ganz neu verhandelt werden muss. Der Punkt ist, was die wollen, gerade die Brexit-Partei, wo Sie sie erwähnt haben, voller Zugang zum Binnenmarkt. Auf der anderen Seite sind sie aber nicht bereit, das sogenannte Level Playing Field, gleiche Standards in Bereichen wie Verbraucherschutz, Arbeitnehmerrechte, Umweltschutz etc., einzuhalten. Das wird nicht funktionieren. Wir werden nicht ein Dumping-Land vor der europäischen Grenze haben, was dann trotzdem freien Zugang zum Binnenmarkt hat.
May: Da wird Europa definitiv keine Zugeständnisse machen? Das hat ja Ursula von der Leyen auch gestern noch mal gesagt.
Barley: Genau! – Genauso ist es. – Je mehr wir gleiche Standards haben, umso mehr Zugang wird es natürlich auch zum Markt geben. Ganz einfach.
May: Jetzt gehen ja die meisten Experten in Europa davon aus, dass dieser ganze Prozess am Ende nur Verlierer produzieren wird, vor allem in Großbritannien. Was ist aber, wenn der Brexit am Ende doch gar nicht so schlimm wird, vor allem für die Briten?
Barley: Werden wir sehen! Aber wie soll das funktionieren? Wie soll man als einzelnes Land in dieser globalisierten Welt stärker sein als in einer Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen? Wir sind in der globalisierten Welt. Selbst als 53 Millionen Eurostaat ist man ja nichts im Vergleich zu China, Indien, Brasilien, geschweige denn USA.
Handelsvertrag zwischen den USA und Großbritannien
May: Indem man zum Beispiel einen Handelsvertrag mit Donald Trump schließt und dann die Achse USA-Großbritannien stärkt. Ich frage das, weil alle Ökonomen seit drei Jahren auch Trump wirtschaftspolitischen Wahnsinn vorhalten, aber den Amerikanern geht es wirtschaftlich so gut wie noch nie.
Barley: Na ja. Die Zahlen darf man auch mit Vorsicht genießen. Zum einen stimmt das nicht in allen Bereichen und zum anderen muss man auch immer sehen, woher das kommt. Zum Teil sind das dann auch Effekte, die gar nichts mit Trumps Politik zu tun haben, sondern mit der Politik davor. Es braucht ja auch immer ein bisschen, bis sich das auswirkt. Trump hat die Briten jetzt schon spüren lassen, dass er nicht denen den roten Teppich ausrollen wird. Die sind da schon ein bisschen ernüchtert an dem Punkt. Donald Trump ist auch nicht ewig amerikanischer Präsident. Es ist einfach eine Sache von Logik. Man ist gemeinsam stärker. Als Vertragspartner hat man eine andere Macht. Natürlich kann kurzfristig Donald Trump meinen, er kann der EU eins auswischen, indem er jetzt die Briten belohnt, aber das wäre ein sehr kurzfristiger Effekt und das ist mit Sicherheit auch nicht das, was in Zukunft alle amerikanischen Präsidenten tun werden. Sie müssen ja sehen: Wir reden hier historisch gesehen von einem Minizeitraum. Ich habe nie verstanden, warum die Briten sich so fixieren auf diese Daten. Es wird in 100 Jahren niemanden interessieren, ob die zum 31.12. ausgetreten sind oder zum 1. 5. Aber wie wir das machen, wie wir unser Verhältnis gestalten, das wird entscheidend sein, und da haben wir eine große Verantwortung.
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