Der EU-Gipfel hatte die wegen des Ukraine-Konflikts gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen um sechs Monate bis Ende Juli verlängert. Die Staats- und Regierungschefs sprachen zudem eine Warnung an Russland aus. Jede weitere militärische Aggression werde massive Konsequenzen zur Folge haben, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die EU-Kommission habe bereits eine Liste von Strafmaßnahmen ausgearbeitet. Um welche Sanktionen es sich handeln könnte, wurde offengelassen.
Gespräche im Normandie-Format anstreben
Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Katarina Barley (SPD) hält es für richtig, dass ausdrücklich keine Maßnahmen benannt worden sind. Wichtig sei es, zu verdeutlichen, dass bereits jetzt bestehende Sanktionen verschärft würden und man sich auch mit internationalen Partner wie den USA abstimme, sagte sie im Deutschlandfunk. „In der Diplomatensprache ist das schon ein starkes Statement. Und hinter den Kulissen müssen die diplomatischen Bemühungen auch weitergehen“, so die Politikerin.
So sei anzustreben, im bereits etablierte Normandie-Format Gespräche zu führen, also Deutschland und Frankreich mit Russland und der Ukraine. Putin versuche, genau das zu vermeiden, um die Separatisten an den Tisch zu bringen. Doch dieser Weg sei für die Europäische Union nicht gangbar: „Wir werden nicht Menschen aufwerten oder anerkennen, die aus unserer Sicht illegitim sind. Über die Klippe wird man hinwegkommen müssen.“
SWIFT-Abkommen als starkes Druckmittel
Sollten die diplomatischen Bemühungen nicht fruchten und Putin in die Ukraine einmarschieren, werde die EU zu Maßnahmen greifen, die Russland empfindlich träfen, so Barley. Zum Beispiel stehe immer noch das SWIFT-Abkommen im Raum, das den internationalen Zahlungsverkehr Russlands behindern bis unmöglich machen würde. „Damit konkret zu drohen, was ausdrücklich noch nicht passiert ist, das wäre sicherlich ein sehr, sehr scharfes Schwert.“
Das Interview im Wortlaut
Moritz Küpper: Frau Barley, viele Themen gestern. Wir wollen vor allem auf die Debatte um Russland, um die Ukraine, um den Umgang mit der Situation dort schauen. Massive Konsequenzen, so heißt es jetzt in der Abschlusserklärung. Das klingt groß, aber ist es eigentlich mehr als nur eine Standardmahnung?
Katarina Barley: Na ja, es gibt ja schon eine ganze Reihe von Sanktionen gegenüber Russland, und man hat deswegen …
Küpper: Die gab es ja vorher.
Barley: Genau. Die gibt es schon und deswegen ist es klar, dass man, wenn die Situation weiter eskaliert, diese Maßnahmen verschärfen wird. Dass jetzt nicht ins Detail gegangen wird, das halte ich für vernünftig. Wir sind in einer sehr, sehr delikaten Situation im Moment. Da ist sehr, sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt und es ist so eine zweigleisige Vorgehensweise angebracht, dass man auf der einen Seite ganz klarmacht, wir stehen hier zusammen und stimmen uns auch mit unseren Partnern ab. Das ist ja noch nachträglich aufgenommen worden. Auf der anderen Seite gibt es immer die Möglichkeit des Gespräches, zum Beispiel in dem Normandie-Format Deutschland, Frankreich, Russland.
Küpper: Liegt es daran, weil man deeskalieren wollte, oder weil man sich vielleicht nicht einig war?
Barley: Ich glaube, dass es grundsätzlich eine große Einigkeit gibt. Das ist ja in diesen außenpolitischen Fragen nicht immer der Fall. Aber die Verteilung der Rollen ist klar. Alle sind sich einig, dass Russland hier der Aggressor ist und dass auf Russland eingewirkt werden muss, auch scharf. Aber wie gesagt, ich bin der Meinung, gerade die Europäische Union taugt am besten auch zu Vermittlungen, weil wir diese sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen haben, weil wir sehr unterschiedliche internationale Netzwerke haben. Deswegen müssen gerade wir auch diese diplomatischen Beziehungen nutzen.
Küpper: Wenn Sie sagen, es gibt eine große Einigkeit, dann würde ich Sie gerne fragen, wen meinen Sie da? Denn wenn man in den Osten Europas guckt, nach Litauen, Lettland, ins Baltikum, auch Polen, dann reichen diese nun beschlossenen Maßnahmen, Ankündigungen den Ländern wahrscheinlich nicht.
Barley: Na ja. In der Art und Weise oder in den konkreten Maßnahmen, da gibt es natürlich Differenzen. Wir merken diese Unterschiede …
Küpper: Aber das ist doch das Entscheidende!
Barley: Es gibt ja schon durchaus Diskussionen darüber, auch im Europäischen Parlament, beispielsweise wenn die ganz rechtsnationalen Parteien auftreten, überhaupt schon mal über die Frage, wer ist hier eigentlich Aggressor und wer nicht. Wenn Sie da manche, insbesondere AfD-Reden sich anhören, dann sollten Sie meinen, dass die Ukraine hier eigentlich Schuld ist und Russland das Unschuldslamm. Über die grundsätzliche Klarheit, an wen müssen sich hier Maßnahmen richten und gegen was müssen wir uns wappnen, da besteht eine große Einigkeit. Es ist immer so, natürlich aufgrund der historischen Erfahrungen sind die Besorgnisse im Osten Europas, im Baltikum, in Polen immer besonders groß.
Küpper: Verstehe ich Sie richtig? Die EU kann an dieser Stelle kein entschlosseneres Zeichen setzen?
Barley: Man muss immer den diplomatischen Kodex ein bisschen einbeziehen und den verstehen auch die anderen Staaten. Diese Abschlusserklärung ist noch mal angeschärft worden und es ist auch noch mal klargemacht worden, wir werden uns da mit internationalen Partnern abstimmen. Damit werden aller Wahrscheinlichkeit nach die USA gemeint sein, vielleicht auch Großbritannien. Das ist in der Diplomatensprache schon ein starkes Statement. Und wie gesagt: Hinter den Kulissen müssen die diplomatischen Bemühungen dann auch weitergehen.
"SWIFT-Abkommen würde Russland empfindlich treffen"
Küpper: Aber Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin hat vergangene Woche gesagt, Aggression muss ein Preisschild haben. Und bei der NATO hieß es gestern schon, das alles hat wohl jetzt keine Auswirkungen, keinen Effekt vor Ort, da würden weiterhin Truppen aufmarschieren, Truppen stehen.
Barley: Ich bin mit dieser Formulierung nicht so glücklich.
Küpper: Mit welcher?
Barley: Es muss ein Preisschild haben. Für mich hört sich das so an, wenn man diesen Preis bezahlt, dann kann man es machen, und so ist es natürlich nicht gemeint, sondern es ist ganz klar …
Küpper: Wie ist es denn gemeint?
Barley: Wenn Russland weiter eskaliert, dass das dann Konsequenzen haben wird. Es hat nicht einen Preis, den man dann auf den Tisch legen kann, und dann ist gut, sondern es hat massive Konsequenzen. Zum Beispiel steht ja immer das SWIFT-Abkommen im Raum, das den internationalen Zahlungsverkehr Russlands behindern bis unmöglich machen würde. Das ist zum Beispiel eine ganz, ganz empfindliche Sanktion. Diesen Schritt ist man bisher noch nicht gegangen.
Küpper: Wäre das aus Ihrer Sicht die wirkungsvollste Maßnahme?
Barley: Das wäre eine Maßnahme, die Russland insgesamt unglaublich treffen würde, die Wirtschaft. Stellen Sie sich das mal vor, wenn Sie praktisch mit dem Ausland keinen Zahlungsverkehr mehr wahrnehmen können. Damit konkret zu drohen, was ausdrücklich noch nicht passiert ist, das wäre sicherlich ein sehr, sehr scharfes Schwert.
"Nord Stream 2 ist im Verwaltungsverfahren"
Küpper: Von anderen Ländern wird auch immer wieder Nord Stream 2 genannt, die Inbetriebnahme dieser Ostsee-Pipeline umstritten. Olaf Scholz hat gestern gesagt, hat versucht, das runterzuspielen: Es handelt sich im Hinblick auf Nord Stream 2 um ein privatwirtschaftliches Vorhaben. Und er hat gesagt, darüber entscheidet ganz unpolitisch eine Behörde in Deutschland. – Frau Barley, Sie sind im europäischen Kontext zuhause. Ist das nicht in gewisser Weise Schönmalerei und hat mit der Realität nichts zu tun?
Barley: Na ja, es ist die rechtliche Betrachtungsweise. Das Verfahren liegt im Moment bei der Bundesnetzagentur. Da wird auch in den nächsten Monaten nichts passieren. Insofern ist das auch nichts, was ganz aktuell in den Topf geworfen werden kann.
Küpper: Nord Stream 2 ist unpolitisch?
Barley: Nein, es ist nicht unpolitisch. Alleine die Diskussion darüber zeigt das ja. Und es hat auch zwischen Joe Biden und Angela Merkel darüber schon Einigungen gegeben, die auch bestimmte Maßnahmen mit einbezogen haben. Es ist ja jetzt nicht so, als wäre das total aus der Welt. Nur im Moment ist es so: Nord Stream 2 ist im Verwaltungsverfahren. Das wird geprüft und innerhalb des nächsten halben Jahres passiert da auch nichts.
Küpper: Wäre das kein Mittel in dieser Auseinandersetzung aus Ihrer Sicht?
Barley: Wie gesagt, im Moment sind ausdrücklich keine Maßnahmen benannt worden, und das ist auch gut und richtig so. Darauf haben die sich auch alle geeinigt. Das, was zwischen Biden und Merkel damals beschlossen worden ist, das steht ja schon im Raum, und ich glaube, das ist schon eine klare Ansage auch an Russland.
Weg über Separatistenführer für die EU nicht gangbar
Küpper: Aber braucht es nicht vielleicht auch eine klare Ansage an Litauen, an Lettland, dass Deutschland sich der Verantwortung, die es hat, bewusst ist, auch in dieser Frage?
Barley: Das steht ja in genau diesem Kommuniqué, das damals zwischen Biden und Merkel verabschiedet worden ist. Da steht das sehr deutlich drin. Es steht auch die Ukraine ausdrücklich drin. Da ist schon einiges auf dem Tisch.
Küpper: Dann schauen wir kurz darauf. Wie könnte denn vielleicht eine Deeskalation mit Russland gelingen? Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hofft ja auf eine Rückkehr zum diplomatischen Dialog wie, glaube ich, alle. Aber es gibt ja verschiedene Ebenen. Es gab diese Woche das Urteil im Berliner Tiergarten-Prozess, dann die Ausweisung der Diplomaten und Jean Asselborn spricht momentan von einem total zerstörerischen Zerwürfnis mit Russland. Was glauben Sie, wie kann man wieder an den Tisch kommen?
Barley: Jean Asselborn ist ja der Dinosaurier unter den Außenministern. Der hat wirklich schon alles gesehen und der hat auch ein sehr langjähriges Verhältnis zum russischen Außenminister. Wenn er das sagt, dann ist das sehr ernst zu nehmen.
Küpper: Ist die Situation so gefährlich?
Barley: Sie ist sehr gefährlich und sie ist auch sehr verfahren, vor allen Dingen, weil Putins Ziel, eines seiner Ziele auch ist, dass die Europäische Union oder die internationalen Partner direkte Gespräche führen. Das hat er schon in Belarus probiert, dass man mit Lukaschenko direkt spricht. Das probiert er jetzt mit den Separatistenführern und das ist ein Weg, der für die Europäische Union nicht gangbar ist. Wir werden nicht Menschen aufwerten oder anerkennen, die aus unserer Sicht illegitim sind. Über die Klippe wird man hinwegkommen müssen. In der Diplomatie geschieht sehr viel hinter den Kulissen und da ist sehr viel möglich. Gerade bei Putin und Russland geht es oft um Gesichtswahrung. Da werden sich die Diplomaten allerdings in diesem Fall sehr kreativ zeigen müssen, denn Putin macht es uns im Moment sehr schwer.
Küpper: Welche Formate könnte es geben? Bundeskanzlerin Merkel wollte ja immer ein Treffen mit Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij erreichen in diesem Normandie-Format. Sollte Olaf Scholz dies auch versuchen?
Barley: Unbedingt. Ich denke, das tut er auch. Das Normandie-Format ist etabliert. Das ist Deutschland, Frankreich, mit Russland und der Ukraine. Das hat 2019 zum letzten Mal stattgefunden im Dezember, es ist noch nicht so lange her. Wie gesagt, Putin versucht, genau das zu vermeiden, weil er die Separatisten an den Tisch bringen will, aber das wäre jetzt wirklich die Herausforderung, dieses Normandie-Format, weil es auch etabliert ist und unterschiedliche Akteure involviert, das wieder zu etablieren.
Küpper: Putin will lieber mit anderen über die Ukraine sprechen, mit Joe Biden hat er das schon geschafft. War das ein Fehler?
Barley: Nein, ich denke nicht. Man kann sprechen, solange man nicht die Separatistenführer legitimiert. Aber dass Putin über die Ukraine spricht, zeigt ja auch, dass er sich in einen diplomatischen Austausch bewegen kann durchaus und das mit Ausgewählten auch tut. Ich denke, das sollten wir nutzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.