Von demokratischen Verhältnissen könne in Ungarn nicht mehr gesprochen werden, sagte Katarina Barley (SPD) in den Informationen am Morgen. Ministerpräsident Viktor Orban habe in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass es praktisch keine freien Medien und keine unabhängige Justiz mehr gebe, außerdem habe er das Wahlrecht geändert.
Orbans Anti-LGBTQ-Gesetz sei aber kein Thema, mit dem man Orban politisch schwächen könne. Barley erklärte im Dlf, in Osteuropa herrsche im Bezug auf LGBTQ generell eine andere Einstellung vor, auch in der Bevölkerung. Ein Thema, das Orban treffen könnte, lautet für Barley: Korruption. Orban sei "korrupt bis ins Mark", sagte die SPD-Politikerin. Sie vermisst "ein hartes, klares Vorgehen der EU-Kommission" gegenüber Orban.
Das ungarische Parlament hatte am 15. Juni 2021 ein Gesetz gebilligt, dass sogenannte "Homosexuellen-Propaganda" einschränkt: Minderjährige dürfen demnach ab sofort keine Filme, Bücher oder andere mediale Inhalte mehr sehen oder zugänglich gemacht bekommen, wenn sie Homosexualität oder Geschlechtsumwandlung zum "Selbstzweck" darstellen. Experten bewerten das Gesetz als schwammig formuliert und befürchten dadurch ein willkürliches Vorgehen der Behörden.
Das Interview im Wortlaut:
Sandra Schulz: Wenn wir anfangen mit den Differenzen mit Ungarn – da haben jetzt viele Europäer ihrer Empörung Ausdruck verliehen. Da müssten jetzt den Worten eigentlich auch Taten folgen. Welche werden das sein?
Katarina Barley: Das ist eine gute Frage, denn wir sehen ja schon seit elf Jahren, wie in Ungarn systematisch Demokratie und Menschenrechte abgebaut werden, und bisher ist leider viel zu wenig passiert. Wir haben im Wesentlichen zwei Mittel. Das eine sind Vertragsverletzungsverfahren. Die muss die Kommission beim Europäischen Gerichtshof einleiten. Und das zweite ist ein neuer Mechanismus, mit dem Ländern, die systematisch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verletzen, Gelder vorenthalten werden können. Aber auch da reagiert die Kommission bisher viel zu zögerlich.
Barley: Keine unabhängige Justiz, keine freien Medien
Schulz: Hat die Kommission denn eine Handhabe?
Barley: Ja! Natürlich hat sie die. Wie gesagt: Dass in Ungarn die freien Medien praktisch abgeschafft sind, dass es keine unabhängige Justiz mehr gibt, das ist alles seit vielen, vielen Jahren bekannt und da hat es auch vereinzelt Urteile des Europäischen Gerichtshofes gegeben. Die haben auch vereinzelt Konsequenzen gehabt. Aber ein hartes, klares Vorgehen der Kommission, dieser Kommission, muss man sagen, gibt es bisher nicht. Wir haben in der letzten Legislaturperiode Frans Timmermans gesehen, der sich sehr engagiert hat, aber das ist in dieser Legislaturperiode leider anders.
"Wir hören immer nur Worte"
Schulz: Jetzt hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ja in der Tat sehr scharf reagiert, rhetorisch. Sie hat das Gesetzesvorhaben eine Schande genannt. In der Sache, was die rechtlichen Konsequenzen betrifft, hat sie allerdings bisher nur von rechtlichen Bedenken gesprochen. Gibt es da überhaupt einen Rechtsbruch?
Barley: In Artikel zwei der EU-Verträge sind die fundamentalen Werte der Europäischen Union verankert. Da ist auch von Diskriminierungsfreiheit die Rede. Die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs haben sogar mit großer Mehrheit – ich glaube, es sind derzeit 17 – einen Brief unterzeichnet, wo sie auch klar ihren rechtlichen Bedenken Ausdruck verleihen. Ja, es gibt diese Handhabe, aber das ist genau das Problem aktuell. Wir hören immer Worte, die werden jetzt etwas schärfer, das ist schon mal gut. Aber schauen Sie sich den Zustand in Ungarn an. Leider wissen das sehr wenige, wie stark das schon vorangeschritten ist, dass dort eigentlich von demokratischen Verhältnissen nicht mehr gesprochen werden kann.
"Es gibt keine öffentliche Kritik mehr an Orban"
Schulz: Wissen Sie das denn besser als die Ungarn?
Barley: Sie meinen das ungarische Volk? – Dass jemand demokratisch gewählt worden ist, bewahrt ihn nicht davor, ein Diktator zu sein. Dafür gibt es sehr viele Beispiele, sowohl in der Historie als auch aktuell. Das muss man, glaube ich, in Deutschland vor allen Dingen nicht betonen. Man muss genau hinschauen. Demokratie hat zwei Voraussetzungen für Macht. Das eine ist eine wirksame Kontrolle und das andere ist eine zeitliche Begrenzung, und beides hebelt Viktor Orban aus, hat es in weiten Teilen schon. Über die wirksame Kontrolle habe ich schon gesprochen. Es gibt wirklich praktisch keine freien Medien mehr. Mit Clubradio ist dem letzten freien Sender dieses Jahr die Lizenz entzogen worden. Über 500 Medien sind in einer Fidesz-nahen Stiftung der Partei von Viktor Orban vereinigt, die er kontrolliert. Es gibt keine öffentliche Kritik mehr an ihm.
Es gibt durch die Justiz keine Kontrolle mehr, weil die alle mit seinen Leuten besetzt sind und auch umstrukturiert wurden. Die Regeln im Parlament im Wahlrecht sind geändert worden zu seinen Gunsten. Und jetzt beginnt er auch mit der zeitlichen Begrenzung. Er setzt immer mehr Menschen ein, zum Beispiel den Generalanwalt oder auch die Verfassungsrichter*innen, die nur noch aus dem Amt entfernt werden können, wenn mit Zwei-Drittel-Mehrheit ein Nachfolger, eine Nachfolgerin gewählt wird. Mit all diesen Mitteln – die Opposition kann keinen Wahlkampf führen, weil die Presse total in den Händen von Orban ist, das Wahlrecht ist zu seinen Gunsten geändert. Selbst dann, wenn sie gewinnen sollten, werden seine Leute in diesen Funktionen bleiben, weil die niemals eine Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen kriegen.
"Wir können Länder nicht ausschließen aus der EU"
Schulz: Frau Barley, sehen Sie da jetzt ein Ende der Gemeinsamkeiten? Sie haben Viktor Orban ja auf Twitter auch einen Diktator genannt. Sie gehen jetzt in die Richtung von Mark Rutte, der ja schon laut darüber nachgedacht hat, Ungarn den Austritt nahezulegen.
Barley: Ich war mit dieser Forderung immer sehr zurückhaltend, weil man natürlich unterscheiden muss zwischen dem ungarischen Volk, das ein freiheitsliebendes ist und ja auch eine große Rolle in der deutschen Wiedervereinigung gespielt hat zum Beispiel, und der Regierung. Das gleiche gilt für Polen oder Slowenien. Wir können auch Länder nicht ausschließen aus der Europäischen Union. Das ist nicht vorgesehen in den Verträgen. Insofern sind wir darauf angewiesen, laut zu sein. So sehr ich mich wirklich freue, dass jetzt beim LGBTQ-Thema so viele so laut sind, ich hätte mir das die vergangenen elf Jahre gewünscht beim Thema Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
"Orban ist korrupt bis ins Mark"
Schulz: Könnte dieses laut sein auch zur Konsequenz haben, dass ein Viktor Orban in Ungarn innenpolitisch noch weiter gestärkt wird, weil er noch stärker damit arbeiten kann zu sagen, guckt mal, von draußen gibt es mal wieder Dresche, aber wir halten hier zusammen?
Barley: Genau das ist seine Strategie, exakt das, und deswegen spielt er auch genau dieses Thema LGBTQ so hoch. Deswegen muss man ihn bei anderen Themen packen, so leid es mir tut, und ein Thema ist Korruption. Viktor Orban gehört zu den korruptesten Regierungschefs, die es überhaupt gibt. Sein bester Schulfreund ist mittlerweile einer der reichsten Männer Ungarns. Orban selbst hat auf dem Grundstück seines Ferienhauses in seinem Geburtsdorf – das ist ein Dorf – ein Fußballstadion stehen mit Rasenheizung und allem drum und dran. Er ist korrupt bis ins Mark und das verstehen auch die Ungarinnen und Ungarn.
"Es ist wichtig für die LGBTQ-Rechte einzustehen"
Schulz: Aber, Frau Barley, es ist doch interessant. Das ist jetzt diese Aufregung, auch dieses harsche Urteil von der EU-Kommissionspräsidentin. Das ist nicht angesichts der Korruption, dass sie da von Schande spricht, sondern angesichts dieses umstrittenen Gesetzes.
Barley: Genau. Wie gesagt, ich finde es richtig, dass die Empörung jetzt so groß ist, aber es passiert genau das, was Sie angesprochen haben, denn bei dem Thema LGBTQ muss man leider sagen, dass in Osteuropa generell da eine andere Einstellung vorherrscht, auch in der Bevölkerung. Deswegen ist es wichtig, für diese Rechte einzustehen, aber es ist kein Thema, mit dem man Viktor Orban politisch schwächen kann. Das ist leider die Wahrheit. Da muss man andere Themen angehen, aber von denen gibt es wirklich genug.
"Nord Stream 2 ist kein staatliches Projekt"
Schulz: Katarina Barley, ich würde mit Ihnen gerne noch auf eine andere Einigung aus der vergangenen Nacht schauen. Es geht um den Umgang mit Russland. Da soll jetzt der Plan für Strafmaßnahmen erarbeitet werden. Dieser Plan soll auch Wirtschaftssanktionen umfassen. Geht es da jetzt um Nord Stream zwei?
Barley: Das ist ja nicht neu. Es gibt ja schon Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland.
Schulz: Aber das soll schneller und flexibler werden und auch so, dass es weh tut. Deswegen denke ich an Nord Stream 2.
Barley: Ja, Nord Stream 2 ist immer wieder ein Thema. Nur Nord Stream 2 ist kein staatliches Projekt und deswegen ist das nicht etwas, was die Staats- und Regierungschefinnen und Chefs beschließen können. Das ist das alte Problem, der alte Konfliktpunkt. Darum geht es auch nicht in erster Linie, sondern es geht darum, dadurch, dass Außenpolitik keine EU-Kompetenz ist, braucht man immer eine ganz lange Abstimmungsschleife. Das ist eigentlich das Problem, in Fällen wie bei Nawalny zum Beispiel. Dass es immer wahnsinnig lange braucht, bis der EU-Tanker in Gang kommt.
Schulz: Diese Schleife bräuchte die Bundesregierung ja nicht. Die ist es ja, die an Nord Stream zwei festhält. Die Bundesregierung müsste ja diese Schleife nicht machen.
Barley: Ich weiß, dass das immer das attraktivste Thema ist, aber darum ging es bei diesem Gipfel wirklich nicht, sondern das, was wirklich neu sein soll jetzt, ist, dass es schneller geht, und das bedeutet auch ein Stück weit eine Verlagerung von den Mitgliedsstaaten in die Europäische Union. Das ist das eigentlich Revolutionäre an dieser Stellungnahme des Europäischen Rates, dass wir hier möglicherweise eine Verlagerung haben, die endlich diesen Tanker handlungsfähig macht. Denn durch das Einstimmigkeitsprinzip sind wir bisher in außenpolitischen Fragen zu träge. Das weiß auch jeder.
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